Erste Fortsetzung

Dazu kommt ein zweiter realpolitischer Faktor. Wir sahen, dass die Ukraine ein von Natur reiches Land ist, dass sie den größten Teil des Schwarzerdegürtels und das meiste von den Mineralreichtümern des bisherigen europäischen Russlands besitzt. Die gesamten Exportüberschüsse Russlands an Getreide,
die die Grundlage der russischen Handels- und Zahlungsbilanz und der wirtschaftlichen Weltstellung Russlands bildeten, stammten in erster Linie aus der Schwarzerderegion, in zweiter aus Westsibirien. Das eigentliche Russland, Großrussland oder Moskowien, hat schon lange vor dem Kriege nicht mehr genug Getreide für seine Bevölkerung erzeugt. Die zentralen; russischen Landschaften brauchten in der Regel einen Zuschuss aus der Ukraine und aus Sibirien, und der Norden mit seinem schlechten Ackerbauklima erst recht. Es ist also sehr begreiflich, wenn auf der russischen Seite das Bedürfnis besteht, die Ukraine, durch die überdies die Wege nach dem südlichen Meer führen, zu beherrschen. Russland braucht die Ukraine, oder ist wenigstens ohne die Ukraine nicht wirtschaftlich selbständig; die Ukraine braucht aber keineswegs Russland. Russland wird, wenn einmal die bolschewistische Regierung zu Ende ist, ein von Grund auf ruiniertes völlig verarmtes Land sein; die Ukraine aber wird, wenn sie politisch ihre Selbständigkeit behauptet, vermöge ihrer natürlichen Reichtümer, bald wirtschaftlich in die Höhe kommen. Ihre Exportkraft wird ihr zu einer aktiven Handels- und Zahlungsbilanz im Verkehr mit dem Auslande und damit zu ausländischen Krediten und zur Gesundung ihrer Finanzwirtschaft helfen. Das weiß in der Ukraine jeder Mensch. Wird dagegen die Ukraine gezwungen, ihre Wohlhabenheit mit in den Bankrott der russischen Masse zu werfen, so wird sie die künftige Not und Armut eines wiederaufgerichteten Gesamtrusslands teilen. Diese Einsicht haben in der Ukraine jetzt schon manche ursprünglich nicht ukrainischen Elemente mit stärkerem geschäftlichen Vorausblick. Das Argument des ökonomischen Nutzens der politischen Selbständigkeit ist übrigens nicht nur in der Ukraine lebendig. Auch in Westsibirien kennt man es, und es gibt heute schon eine Richtung in Sibirien, die nicht die Stammesverwandtschaft mit dem europäischen Russland, sondern die selbständige Sicherung der ökonomischen Zukunft Sibiriens als das stärkere Motiv in der Frage, ob Trennung oder Vereinigung mit dem russischen Lande diesseits des Ural, betrachtet. Außerdem ist auch in Sibirien das Ukrainertum ein starkes Element der Kolonisation gewesen und ist es noch heute.

Die beiden Fragen, ob die Ukraine selbständig bleiben will und ob sie selbständig bleiben kann, sind also mit Ja zu beantworten. Daraus ergibt sich auch schon die Antwort auf die dritte: Ob die Ukraine selbständig bleiben wird. Die entscheidenden Faktoren hierfür sind 1. die Tatsache, dass sich die ukrainisch-nationale Bevölkerung als ein Volk und als eine wirtschaftliche Interessengemeinschaft fühlt, und 2. dass der sich bildende nationale Wille zur Selbständigkeit durch geographische und wirtschaftliche Verhältnisse ausreichend unterstützt wird. Mit der politischen Selbständigkeit der Ukraine wird die osteuropäische Frage in dem Sinne entschieden sein, dass es zukünftig keinen gesamtrussischen Staat mehr geben wird, dass Russland und Osteuropa nicht länger identische politische Begriffe sein werden, sondern dass sich an der Stelle des früheren Russlands ein osteuropäisches Staatensystem ausbreiten wird, dessen Glieder, soweit sich bisher übersehen lässt, etwa folgende sein werden: 1. Russland, das bei Petersburg und am Nordkaukasus, vielleicht auch an der Mündung des Don, Zugang zum Meere haben wird, mit etwa 80 Millionen Einwohnern — so viele davon die kommende Hungersnot überstehen werden! 2. Die Ukraine mit etwa 40 Millionen Einwohnern. 3. Polen mit 30 bis 35 Millionen Einwohnern. 4. bis 6. Litauen, Lettland und Estland mit je 1 bis 1 ½ Millionen Einwohnern. 7. Finnland mit 3 ½ Millionen Einwohnern. 8. bis 10. Georgien, Armenien und die tatarische Republik Aserbeidschan mit je 1 ½ bis 3 Millionen Einwohnern. Unentschieden bleibt dabei die politische Zukunft des Kosakenlandes am Don und Kuban und die Zukunft Sibiriens. Höchst fragwürdig ist die Zukunft eines Gebildes wie Polen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das osteuropäische Problem