„Russland“ oder „Osteuropa“?

Für die Beurteilung nicht nur der osteuropäischen, sondern auch der gesamteuropäischen Zukunft ist es die eigentlich entscheidende Frage, ob die Bestandteile des früheren gesamtrussischen Staates sich wieder zu einer großen politischen Einheit miteinander verbinden werden, oder nicht. Wie sich aus den wirtschaftsgeographischen und geographisch-politischen Erwägungen im vorhergehenden Abschnitt ergibt, hängt das in erster Linie von der Lösung ab, die die ukrainische Frage findet. Vereinigen sich Moskau und die Ukraine wieder zu einem großen politischen Gemeinwesen, so wird dessen gewaltsame Anziehungskraft auch auf die westlichen Randgebiete von Finnland bis Polen wieder dieselbe sein, wie in dem Jahrhundert von Peter dem Großen bis Alexander I. Ein Staat, der drei Viertel von Osteuropa einnimmt, wird mit Notwendigkeit danach streben, auch den Rest zu beherrschen, zumal ihm dieser Rest, westwärts an den Grenzen von Mitteleuropa gelegen, die größten machtpolitischen und wirtschaftspolitischen Vorteile verschaffen muss. Die Folgen dieses Entweder-Oder sind gleich gewichtig für die sogenannten Randvölker des einstigen Russland, wie für das übrige Europa. Um Deutschland zu nennen, so sieht man leicht, wieviel für die deutsche Zukunft darauf ankommt, ob die Nachbarschaft Deutschlands im Osten aus einem gewaltigen russischen Einheitsstaat oder aus einem ganzen System osteuropäischer Einzelstaaten besteht, dessen Glieder voneinander stark verschiedene, zum Teil gegensätzliche Interessen haben. Im ersteren Fall können die Gegner der deutschen Entwicklung in Westeuropa früher oder später sicher darauf rechnen, wieder ihren östlichen Partner für die Einkreisung Deutschlands zu finden; im zweiten Falle aber nicht. Wird aus Moskau und der Ukraine wieder ein Staat, so sind Finnland, Estland, Lettland, Litauen von vornherein politisch verloren. Auch Polen wird sich dann auf die Dauer nicht selbständig erhalten können, denn sobald einmal eine Veränderung der politischen Konstellation im Westen die Unterstützung Polens durch Frankreich verhindert, ist Polen gegen das vereinigte moskowitische und ukrainische Russland viel zu schwach. An der Unabhängigkeit und politischen Sicherheit Finnlands gegenüber Russland ist auch Schweden interessiert.

Je wichtiger die Ausgänge zum Weltmeer für die modernen Staaten werden, desto intensiver wird ein erneuertes gewaltiges Russland gegen das nördliche skandinavische Gestade des Atlantischen Ozeans hinstreben. Der Weg dorthin führt über Schweden und über Norwegen.


Unter diesen Gesichtspunkten betrachtet ist das ukrainische Problem in der Tat ein europäisches Zentralproblem. Heute stehen die Dinge ungefähr wieder auf demselben Fleck, wie vor 250 Jahren unter Zar Alexei Michailowitsch. Russland ist von dem geschichtlich und geographisch ihm nicht angehörigen
Westen zurückgeworfen. Finnland, Estland, Lettland, Litauen, Polen sind frei. Polen hat sogar ein bedeutendes Stück weißruthenischen Bodens annektiert. Auch der Kaukasus hat sich größtenteils von der russischen Herrschaft befreit. In der Ukraine erstreckt sich das bolschewistische Regime nur auf einige große Städte und einige Eisenbahnlinien. Das flache Land wird von aufständischen ukrainischen Bauern und halb militärisch organisierten bewaffneten Banden beherrscht, deren Befehlshaber die ukrainische Nationalregierung als ihr Oberhaupt anerkennen. Das Gebiet, in dem diese Regierung Einfluss ausübt, mag wechseln, ja zeitweilig selbst vor der militärischen Übermacht der Bolschewisten ganz verschwinden. Für den schließlichen Ausgang wird dadurch nichts entschieden, sondern dafür kommt nur das Schicksal der Bolschewisten im Ganzen und der Volkswille in Betracht. Die „rote“ ukrainische Gegenregierung in Charkow, die Lenin eingesetzt hat, ist eine bloße bolschewistische Dekoration und ganz abhängig von Moskau.

Wird es Moskau, sei es den jetzigen Bolschewisten, sei es einer anderen kommenden großrussisch moskowitischen Regierung gelingen, die Ukraine wieder unter Russland zu bringen? Gelingt es, so beginnt wie gesagt die Entwicklung, die von Peter dem Großen bis auf den Weltkrieg 1914 — 1918 stattgefunden hat, von neuem. Großrussland kann auf 80 Millionen Einwohner geschätzt werden, die Ukraine auf 40 Millionen. Will die Ukraine selbständig sein? Kann sie selbständig sein? Wird sie selbständig sein? Die erste Frage ist unbedingt zu bejahen. Es gibt allerdings noch kaum eine ukrainische Oberschicht. Diese ist in früheren Jahrhunderten teils russifiziert, teils polonisiert worden. Es gibt aber die Masse des ukrainischen Bauerntums, es gibt eine ziemlich breite, stark national-ukrainisch empfindende Mittelklasse, es gibt ein politisch intelligentes und entwickeltes ukrainisches Führertum, das noch wenig zahlreich, aber hingebend und entschlossen ist. Eine breitere ukrainische Bildungsschicht existiert in dem früher österreichischen Galizien, wo über vier Millionen Ukrainer leben, die etwa seit einem halben Jahrhundert zu einem höheren Schulwesen, einer Presse, einer Literatur und einer wiederhergestellten nationalen Bildung gelangt sind. In dem weit größeren, früher russischen Anteil der Ukraine nahm die nationale Selbständigkeitsbewegung ihren Anfang bei den Volksschullehrern auf dem flachen Lande, bei einem Teil der Landgeistlichkeit, bei den Angestellten der Landschaftsverwaltung (Semstwos) und bei den sehr zahlreichen und gut entwickelten landwirtschaftlichen Genossenschaften, den sogenannten „Kooperativen“. Diese haben einen großen selbstgebildeten Stab von Führern und Angestellten, die alle eifrige ukrainische Patrioten sind. Unter dem Deckmantel der nur als wirtschaftlich geltenden Kooperative hat sich die national-ukrainische Richtung in den letzten zwanzig Jahren vor dem Kriege stark entwickelt.

In der ersten und der zweiten russischen Duma 1905/06 gab es zahlreiche ukrainische Abgeordnete, zuletzt etwa sechzig, die zuerst einen ukrainischen Klub, dann eine ukrainische Fraktion bildeten. Diese Fraktion erließ eine Kundmachung, in der sie mit klaren Worten die Autonomie der Ukraine forderte, damals noch innerhalb des gesamtrussischen Staatsverbandes. Seit der Revolution von 1917 ist aber diese Bahn verlassen worden. Heute ist das Ziel die volle staatliche Selbständigkeit der Ukraine. Die Bildung der ukrainischen Fraktion und das ukrainische Autonomiemanifest in der zweiten Duma waren für die russische Regierung einer der Hauptgründe, die zweite Duma aufzulösen, und durch den bekannten Stolypinschen Staatsstreich das Wahlrecht zur Duma in dem Sinne zu ändern, dass die bäuerlichen Wählermassen ausgeschaltet wurden. Alle ukrainischen Abgeordneten waren ausnahmslos von ukrainischen Bauern gewählt worden. Mit der Beseitigung des bäuerlichen Wahlrechtes verschwanden auch die ukrainischen Vertreter aus der Duma. Die dritte Duma hatte keinen einzigen mehr. Die amtlichen russischen Stellen sind nach außen hin stets bemüht gewesen, die ukrainisch-nationale Bewegung als künstlich und als vollkommen bedeutungslos hinzustellen. Im geheimen war aber die Sorge vor den Ukrainern groß. Stolypin, der stärkste Staatsmann, den Russland in den letzten Menschenaltern gehabt hat, sagte einmal: „Russland hat gegen die ukrainische Idee seit 250 Jahren gekämpft und es wird nie aufhören, gegen sie zu kämpfen, denn sie bedroht die Einheit des Staates.“ Nichts wäre irrtümlicher, als daraus, dass die ukrainische Oberschicht russifiziert und polonisiert worden ist, zu folgern, dass der ukrainische Selbständigkeitsgedanke keine Zukunft hat. Auch dem bulgarischen, dem südslawischen, dem tschechischen Volke hat zeitweilig die gebildete Oberschicht gefehlt. Es gab eine Zeit, wo weder auf Tschechisch, noch auf Serbisch oder Bulgarisch eine höhere Bildung zu haben war. Das bulgarische Beispiel seit 1878 aber zeigt, wie schnell eine solche führende Schicht sich bilden kann, sobald die politische Selbständigkeit da ist und sobald der nationale Wille in dieser Richtung geht.

Zu diesen Erwägungen treten noch andere von mehr praktisch-politischer Natur. Die russische Regierung seit Peter dem Großen (die polnische schon früher) statteten den russischen und den polnischen Adel mit einem gewaltigen Landbesitz in der unterworfenen Ukraine aus. Der Großgrundbesitz wurde daher von den ukrainischen Bauern als fremdnational empfunden. In der Revolution annektierten die Bauern das gesamte Gutsbesitzerland. Der bäuerliche Landhunger ist in der Ukraine womöglich noch stärker, als in Großrussland. Jeder ukrainische Bauer weiß, dass, wenn eine zarische Regierung in Russland wiederkommt, diese versuchen wird, das frühere Gutsland den geflohenen russischen Besitzern zurückzugeben. Als der General Denikin, anfangs gegen die Bolschewisten siegreich, von Süden her in der Ukraine vordrang und seine Vorhut sich schon Moskau auf wenige hundert Kilometer genähert hatte, erwartete man in Europa die Wiederherstellung der früheren Zustände durch ihn. Denikin scheiterte vor allem deshalb, weil in seinem Gefolge die vertriebenen russischen Gutsbesitzer waren und diese sich bemühten, mit seiner Hilfe ihre Güter wieder einzunehmen. Die sogenannte Denikinsche Regierung zwang die Bauern zur Herausgabe des Landes und zur Leistung von Schadensersatz. Daraufhin erhob sich im Rücken der Denikinschen Armee ein großer ukrainischer Bauernaufstand, die Armee verlor ihre rückwärtigen Verbindungen und ihren Nachschub und ging in kurzer Zeit zugrunde.

Ebensowenig geneigt wie der Erneuerung der Zarenherrschaft sind die ukrainischen Bauern aber auch der Moskauer Sowjetherrschaft. Wenngleich die Sowjetregierung die Sozialisierung des Bauernlandes bisher vermieden hat, um die Opposition der Bauern nicht wachzurufen, so begegnet ihr doch jeder Bauer in der Ukraine mit dem äußersten Misstrauen. Kein Bauer in der Ukraine will etwas von Sozialisierung wissen; jedermann will sein Stück Land zu eigenem, persönlichem Recht für sich behalten. Die Verteidigung seines Landbesitzes, sei es gegen eine Moskauer Zarenregierung, sei es gegen den Moskauer Bolschewismus, sieht der Bauer in der Ukraine aber nur dann gewährleistet, wenn eine selbständige ukrainische Regierung da ist. Nach der verlangt er, und bei der wird er stehen. Das ukrainische Nationalgefühl der Bauernschaft war in früherer Zeit wenig entwickelt; der ukrainische wie der russische Bauer nannten sich beide „Rechtgläubige“, im Gegensatz zu den katholischen Polen, den protestantischen Deutschen und den muhammedanischen Tataren und Türken. Heute dagegen nennt sich der Bauer in der Ukraine einen Ukrainer. Die Revolution und die folgenden Jahre der Verwirrung und des Kampfes haben sein altes Volksgefühl wieder auferstehen lassen. In dieser Beziehung also ist die innere Grundlage für ein selbständiges ukrainisches Staatswesen vorhanden.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das osteuropäische Problem