Die geographische Grundlage für die wirtschaftliche und politische Gliederung von Osteuropa.

Während durch die beiden von Osten nach Westen verlaufenden geographisch-ökonomischen Trennungslinien die osteuropäische Landmasse in drei annähernd gleichgroße, von Süden nach Norden aufeinanderfolgende Stücke geteilt wird, liegt die dritte, nordsüdlich laufende, Linie ganz im Westen von Osteuropa. Sie zieht vom Weißen Meer über das Gebiet der großen Seen, des Onega-, Ladoga- und Peipussees, zunächst nach Südwesten. Sie setzt sich dann in einem Seen- und Sumpfgebiet, das das baltische Küstenland und Litauen vom Binnenland trennt, nach Süden bis zu den großen wolhynischen Sümpfen, der sogenannten Poljesje, fort. Von dort gegen Süden verliert sie ihren ausgesprochen trennenden Charakter, doch ist das Gebiet des Karpathenabfalls bis gegen den Dnjepr hin doch von merklich anderer Beschaffenheit, als die weiter östlich gelegenen Landschaften. Die Länder, die auf diese Weise von dem übrigen Osteuropa geschieden werden, sind vor allen Dingen Finnland, das Baltikum, Litauen und Polen. Diese bildeten seit Peter dem Großen und Alexander I. das „dritte“ Russland: die dem Russentum in jeder Beziehung kulturfremden, geographisch und geschichtlich einen Übergang zwischen Mittel- und Osteuropa darstellenden Westgebiete des einstigen russischen Reiches.

In dem Vorhandensein dieser Linie ist es begründet, dass die Länder von Finnland bis Polen eine andere Geschichte gehabt haben, als Russland und Moskau, und dass sie niemals von der an Zahl weit überlegenen Masse des russischen und moskowitischen Volkstums überflutet und national von ihr verschlungen worden sind. Die finnländische und die baltische Barriere haben viele Jahrhunderte lang einen festen Damm zwischen Moskau und Europa gebildet, und als sie von Moskau erobert wurden, war dieses nicht imstande, sie zu russifizieren. Die Bedeutung dieser Tatsache für die gesamteuropäische Geschichte ist außerordentlich groß. Wäre das moskowitische Russland auch ethnographisch dazu gelangt, sich bis an die Ostsee auszudehnen, so könnte heute nichts mehr die Wiederentstehung eines umfassenden gesamtrussischen Staates von der Ostsee und vom Eismeer bis zum Schwarzen und bis zum Kaspischen Meer hindern. Dieselbe schützende Rolle hat in Bezug auf Polen das wolhynische Sumpfland gespielt.


Was in der Richtung gegen Westen die eben charakterisierte natürliche Scheidelinie zuwege gebracht hat, das hat im Süden, auf dem Trennungsstrich zwischen Moskau und der Ukraine, die geschichtliche Besonderheit des ukrainischen Volkstums geleistet. Der Ukrainer ist bis zum heutigen Tage kein Moskowiter geworden. Es ist eine sehr charakteristische Erscheinung, dass in dem Augenblick, wo der durch Eroberung und Zwang zusammengebrachte russische Gesamtstaat unter der Zentralregierung in Petersburg durch die Niederlage im Weltkrieg kraftlos wurde, das ganze große Ländergebiet Osteuropas auf denselben Linien politisch auseinanderbrach, auf denen seine Vereinigung mit Waffengewalt in der Zeit von Zar Alexei bis Alexander I. erfolgt war. Die Ukraine, Finnland, Polen, Litauen, das Baltikum, bald danach auch die alten geschichtlichen Nationalgebiete jenseits des Kaukasus, erklärten ihre Selbständigkeit.

Eigentümlicher Weise ist der Süden des osteuropäischen Flachlandes nicht nur in Bezug auf den Ackerbau, sondern auch mit seinen Mineralschätzen vor der Mitte und dem Norden bevorzugt. Im Süden liegen das große Donjezkohlenbecken und die wertvollen Eisenlager am unteren Dnjepr. Im Süden gibt es Manganerze und Phosphate, im Süden Petroleum. Dazu kommt die klimatische Bevorzugung der schwarzen Erde, von der etwa drei Viertel von ukrainischen und verwandten Volkselementen, ein Viertel (diesseits des Ural) von Großrussen oder Moskowitern bewohnt ist. Die Vegetationsperiode ist hier bedeutend länger; Weizen, nicht Roggen, ist das vorherrschende Getreide; Tabak und Wein reifen. Für die Zuckerrübenkultur liegt hier vielleicht der beste Boden der Welt. Arm ist der Süden an natürlichen Waldungen; solche gibt es nur in der Nähe des großen Sumpfgebietes und der Karpathenkämme. Die nördliche Zone, die schon durch die geringere Fruchtbarkeit ihrer Böden benachteiligt ist, besitzt, soweit bisher bekannt ist, gar keine wertvollen Steinkohlenlager. Ihre Kohlenvorkommen sind wenig umfangreich und von keiner guten Qualität. Einigermaßen erzreich ist das Uralgebirge, aber über den Wert seiner Mineralvorkommen herrscht keine genügende Klarheit. Die Ausbeutung des uralischen Eisens leidet darunter, dass die Steinkohle weit entfernt liegt; das Eisen muss mit Holzkohle ausgeschmolzen werden. Die Goldlager des Ural sind annähernd erschöpft. Das uralische Platin ist technisch von der höchsten Wichtigkeit; weltwirtschaftlich spielt sein Produktionswert keine entscheidende Rolle. Die oft genannten Edelsteine des Ural bedeuten überhaupt nichts. Die Kupferlager scheinen umfassend zu sein, sind aber nicht befriedigend aufgeschlossen. Ebenso wenig Sicherheit besteht über ein angeblich großes Magneteisenerzvorkommen im Südural. Es gibt ein Eisenerzlager, wahrscheinlich das größte nicht nur in Osteuropa, sondern überhaupt auf der Welt, im russisch-ukrainischen Grenzgebiet in der Gegend von Kursk, aber dieses ist bisher nur durch magnetologische Forschungen festgestellt, und im Übrigen weder durch Bohrungen untersucht, noch sonst technisch bearbeitet. Es erstreckt sich in zwei unterirdischen, je 250 Kilometer langen Zügen von Nordwesten nach Südosten, liegt in mehreren hundert Metern Tiefe, und sein südlicher Zug fällt in ukrainisches, sein nördlicher in russisches Land. Seine Erschließung und Ausbeutung würde die größten weltwirtschaftlichen Wirkungen haben, doch scheint vorläufig noch keine Rede davon zu sein.

Das große Waldland, der nördlichste der drei Striche, hat seinen Reichtum in Gestalt von Holz. Im Petschoragebiet gibt es auch Naphthavorkommen, doch sind sie noch nicht erforscht. Die Holzmassen zwischen der finnländischen Grenze und dem Ural sind ohne Zweifel groß, jedoch warnen Kenner auch hier vor übertriebenen Vorstellungen. Solche werden leicht dadurch erzeugt, dass Reisende glauben, die ganze Waldregion habe durchweg denselben hohen Holzwert, wie die Waldkulissen an den Ufern der großen Flüsse, auf denen sich im Sommer der Verkehr bewegt. Bei tieferem Eindringen in die Wälder zeigt es sich, dass der Wald abseits von den Flussufern großenteils auf Sumpf steht, nur schwaches Holz und geringe Möglichkeiten der Ausbeutung hat.

Im Ganzen genommen ist deutlich, dass die Wohnsitze des moskowitischen oder großrussischen Stammes von Natur viel weniger begünstigt sind, als die Ukraine und das Westgebiet. Die erstere hat ihren wunderbaren Ackerboden und ihre sonstigen Naturschätze, das letztere hat seine vorteilhafte Verkehrslage zu Europa und außerdem eine kulturell weiter vorgeschrittene Bevölkerung. Das gilt in Bezug auf die natürlichen geistigen Anlagen auch von den Ukrainern gegenüber den Großrussen. Nur dass in der Ukraine die Volksbildung während der russischen Herrschaft aus politischen Gründen absichtlich so niedrig wie möglich gehalten wurde.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das osteuropäische Problem