Das neue Kunst-Prinzip in der modernen Frauen – Kleidung

Deutsche Kunst und Dekoration Band 10
Autor: Henry Clement van de Velde Prof. (1863-1957) belgischer Architekt und Designer, Erscheinungsjahr: 1902
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Frauenmode, moderne Frauen, Frauenkleidung, Pariser Mode, Frauen-Toilette, Crefeld, Schneider, Künstler,
Koch, Alexander (1860-1939) deutscher Verleger und Herausgeber von Kunstzeitschriften

Band 10. April 1902 — September 1902.
Mir gereicht es zu besonderer Freude, dass der Herausgeber dieser Zeitschrift, Herr Alexander Koch, mich aufgefordert hat, den Text für dieses Heft, das hauptsächlich der Toilette gewidmet ist, zu schreiben. Wie viel Irriges ist schon über diesen Gegenstand gesagt worden, seitdem wir die Frauen auf die Verantwortlichkeit aufmerksam gemacht haben, die sie in diesem Gebiet auf sich nehmen , wo sie , vor allem durch ihre Unterwürfigkeit und dann durch andere Umstände, von der Rolle der Herrscherin zu der einer Untergebenen gesunken sind.

Hier ist mir Gelegenheit geboten, einige Irrtümer richtig zu stellen, und eine kurze, historische Übersicht dieser Bewegung zu geben. Gern ergreife ich die Gelegenheit, beides zu tun.

Unnatürlich schnell verwischt sich der Eindruck von Tatsachen und Daten; diese Schwachheit habe ich bei Abfassung des ersten Kapitels meines Buches „Die Renaissance im Kunstgewerbe“ fühlen können, in dem ich versuchte, Tatsachen und Daten festzuhalten, die nur 10 Jahre zurücklagen; und schon schien ein dichter Nebel meinem Blicke Ereignisse und Personen zu verhüllen, welche in dieser Renaissance der industriellen Künste eine Rolle gespielt haben. Wird es ebenso sein bei den Tatsachen, welche sich zum Zwecke einer künstlerischen Hebung der Toilette vollzogen und wird man auch wagen, zu versuchen, uns unsere Rolle als erste Anreger streitig zu machen?

Die Tatsachen datieren dieses Mal erst seit dem Jahre 1890, und die Dokumente, welche dieselben feststellen, sind nicht sehr zahlreich. — Im Frühjahr des Jahres 1900 fasste der Direktor des Crefelder Museums, Herr Dr. Deneken, den Gedanken einer Ausstellung von Toiletten, die nach Skizzen von Künstlern ausgeführt werden sollten, und er hatte den Mut, diese Idee zu verwirklichen. Er ergriff die Gelegenheit, die sich ihm durch eine allgemeine Ausstellung von Bekleidungs-Gegenständen bot, welche von den vereinigten deutschen Schneidern um diese Zeit in Crefeld bei Gelegenheit des „Schneider –Tages“ veranstaltet wurde.

Deneken wandte sich an alle Künstler, die sich, seines Wissens nach, mit dem Entwurf von Frauen-Toiletten befasst hatten; und diese folgten bereitwillig seinem Ruf: Alfred Mohrbutter, Frau Margarethe von Brauchitsch, Richard Riemerschmid, Bernhard Pankok, Professor F. A. Krüger, Kurt Hermann, Direktor Paul Schulze aus Crefeld, der verstorbene Hugo van der Woude und ich selbst. Die Ausstellung wurde am 4. April 1900 eröffnet und dauerte bis zum 13. desselben Monats. Die Zahl der unter der Leitung von Künstlern ausgeführten Toiletten war beträchtlich genug, um neben einem Saal, der für die 6 von mir ausgestellten Toiletten reserviert wurde, eine große Galerie in der Crefelder Stadthalle zu füllen. Die Künstler stellten 40 Gegenstände, darunter 24 Toiletten und 16 Original-Detailzeichnungen von Mohrbutter und mir aus. Es war das große Verdienst der Ausstellung, dass sie einer latenten und unbestimmten Idee Gestaltung gab, der Idee nämlich, dass die Künstler auch in dieser Frage mitzusprechen haben, und dass die Frauen zu lange der Willkür der Lieferanten überlassen waren, welche ihre Passivität ausbeuteten, nicht im Interesse der Schönheit, die sich durch die Moden hindurch Bahn bricht, sondern nur zu rein materiellem Nutzen. .So wirkte diese Ausstellung ebenso auf die, welche sie besuchten, wie auch auf die, welche nur durch die Zeitungen von ihr unterrichtet wurden. Die Idee hatte die Macht zu handeln bekommen und richtete sich jetzt gegen das Leben und seine Vorkommnisse, wie ein junger Ritter, dem seine Pairs die Rüstung verliehen hatten. Einige erkannten in dem jungen Ritter einen direkten Abkömmling Don Quichotes, aber bald wurden sie genötigt, ihn ernsthaft zu nehmen.

Ein Album wurde im Anschluss an diese erste Ausstellung herausgegeben. Eine Auswahl von Toiletten wurde darin reproduziert, und Frau Maria van de Velde schrieb eine Vorrede, in der sie die Bedeutung dieser Ausstellung und dieses Albums klarlegte. Von den Toiletten sagt sie: „Nicht als Schaustücke sind diese Kostüme entstanden, sondern sie sind von Künstlern für bestimmte Damen und im Einverständnis mit ihnen entworfen worden.“ Und weiter: „Es genügt, dass derartige Versuche gemacht sind, gemacht von Künstlern, die entschlossen sind, den betretenen Weg mit zielbewusster Absicht weiter zu verfolgen“. Von der Ausstellung selbst heißt es: „Wiederkehrende Ausstellungen würden den Frauen, die mit der Mode brechen wollen, eine Stütze und ein Führer sein. Und wie diese Ausstellungen der Mode die Spitze bieten würden, so würden sie sicherlich allmählich die Schneider für den künstlerischen Einfluss gewinnen.“ Zu Anfang sehen wir klar das zu verwirklichende Programm, das heute vergessen zu sein scheint. Seit dem Tage, da die Mode ihre Herrschaft antrat, ist die Kleidung niemals wieder Ausdruck persönlicher Schönheitspflege, noch Äußerung des allgemeinen Kunst -Vermögens gewesen.

Im Laufe dieser Ausstellung hielt ich in Krefeld einen Vortrag*) über die künstlerische Hebung der Frauen Tracht , in welchem ich dem Direktor des Crefelder Museums Dank sagte dafür, dass er einen lange von mir gehegten Traum verwirklichte, und dann weiter ausführte: „Ein Gefühl der Empörung treibt jene unter uns, welche begonnen haben, Kleidungen zu schaffen, die nur das eine Ziel haben sollten, ihre Trägerinnen so gut als möglich zu kleiden — ein Gefühl der Empörung gegen die Mode und ihre Vertreter, die sich von diesem doch natürlichen und einfachen Zweck des Anzuges entfernen, um dem anderen Ziele nachzugehen: für jede Saison ein Kleider-Muster zu finden, das sich so sehr von dem Schnitt der Kleidungen der letzten Saison unterscheidet, dass die Sklavinnen der Mode gezwungen sind, ihre Garderobe bei jeder Jahreszeit zu erneuern.

*) Die künstlerische Hebung der Frauen-Tracht von H. van de Velde. Verlag von Kramer & Baum, Crefeld.

Es ist nicht erst seit gestern, dass einige Männer und Frauen sich gegen diese Einrichtung auflehnen und den Mut fassen, sich von dieser Tyrannei und dieser unerhörten Steuer frei zu machen. Die Künstler sind von jeher Gegner der Mode gewesen. Ihre Opposition war aber keine planmäßige; sie brachte nichts Neues und formulierte kein Ideal, das der Mode hätte gegenübergestellt werden können. Sie wäre ganz fruchtlos geblieben, hätte sie nicht das Gefühl der Empörung aufrecht erhalten und verbreitet. Denn heute sehen nicht nur die Künstler ein, dass der fortwährende Mode -Wechsel nur einen geschäftlichen Zweck hat, auch viele Frauen sind zum klaren Bewusstsein der lächerlichen Rolle gelangt, die sie seit langer Zeit gespielt haben. Sie erkennen, dass sie der Willkür einiger großer Bekleidungs-Firmen — hauptsächlich denen in Paris — preisgegeben waren, die ihnen bald weite, bald anschließende Kleider, bald den Glocken-Rock, bald den ganz engen Rock vorschrieben, ohne jeden anderen Beweggrund als den, mit Fantasie ihrem eigenen Nutzen zu dienen. Ich kann nur meine Bewunderung jenen Frauen aussprechen, die, als sie die Lächerlichkeit entdeckten, sich ihr nicht mehr unterwarfen und es wagten, sich anders zu kleiden als alle die, mit denen sie verkehrten, und die sie um sich sahen.“ — Dann entwickelte ich meine drei Vorschläge: 1. In ihrem Hause soll die Frau mir dafür Sorge tragen, ihre eigene Individualität zur Geltung zu bringen. 2. Auf der Straße kann sich diese Individualität abschwächen, weil das Leben auf der Straße ein gemeinsames ist; ihr Kostüm soll sich gleich dem der Männer verallgemeinern. 3. Bei feierlichen Gelegenheiten soll die Frau ebenso wie der Mann eine Art von feststehender „Zwangs-Toilette“ tragen.

Ich will gleich bemerken, dass ich nicht vergaß, die Bewegung der „Reform-Kleidung“ zu erwähnen, welche mit der unseren parallel läuft, die aber vor der unseren eine bestimmte Gestaltung annahm, die sich in gewissen Punkten (z. B. in hygienischer Hinsicht) mit ihr verschmelzen kann, die sich aber der Form nach von ihr unterscheidet, weil sie die Schönheit, die unser letztes Ziel bleibt, außer Acht lässt. — Die Mode erlitt schon einen ersten regelrechten Angriff vor einigen Jahren; die erste gegen sie organisierte Kämpfer-Schar entstand in Deutschland und pflanzte das Banner der „Reform-Kleidung“ auf. Die Mode widerstand siegreich; sie herrscht heute so unumschränkt wie vorher. Die Reform-Kleidung stützte sich aber auch nur auf die Grundsätze der Gesundheits-Lehre; ihre Vertreter vernachlässigten gänzlich die Rücksicht auf Schönheit — ein Beweis, wie wenig sie die Psychologie der Frau kannten. Um Erfolg zu haben, hätten sie der Mode eine andere Mode gegenüberstellen und behaupten sollen, dass das eine neue Mode sei, z. B. die deutsche Mode im Gegensatz, zur französischen. Sie hätten dann wenigstens einen ebenso guten Erfolg gehabt wie die englische oder amerikanische Mode, denen wir manche merkbaren Verbesserungen in den letzten Jahren zu danken haben. Die deutschen Kleidungs-Reformer begingen neben ihrer zu großen Aufrichtigkeit, wie gesagt, den zweiten Fehler, dass sie auf den Schönheits-Sinn keine Rücksicht nahmen. Die Reform -Kleidung hat etwas Puritanisches an sich, etwas Trockenes und Glattes, das zurückstößt. Die Prospekte, die mit nüchternen Leitsätzen das neue Dogma vortrugen, hatten ein gar zu orthodoxes Ansehen. Aber die Bewegung wird ihre Spuren hinterlassen. Ihr gebührt jedenfalls die Ehre, uns befreit zu haben von dem modernen Folterinstrument, dem Korsett, das wert ist, dereinst in Altertums-Museen neben den Daumen-Schrauben und der „eisernen Jungfrau“ zu paradieren. — Man diskutierte inzwischen heftig über meine drei Vorschläge, besonders nach den Vorträgen, die ich während des Winters 1900/1901 in Dresden, Berlin und Wien hielt. Freiwillige Missverständnisse pfropften sich auf unfreiwillige, und ich musste mich rechtfertigen, den „weiblichen Frack“ (3. Vorschlag) erfunden zu haben, und war genötigt, meine 2 ersten Vorschläge eingehender zu behandeln. Die Toilette ist dem Kampf derselben Faktoren unterworfen, wie das ganze soziale Leben; die einen streben nach Verallgemeinerung, und die andern ziehen es vor, alles im besonderen zu betreiben, aber diese Faktoren können sich besser in Hinsicht auf das Kostüm, als im sozialen Leben trennen. Die Toilette wird durch den Ort, wo man sie trägt, bestimmt, und diese Orte sind entweder private oder gemeinsame. Im Hause, am eigenen Herde, herrscht eine andere Atmosphäre als auf der Straße und wieder eine andere in den feierlichen Zusammenkünften, und es liegt klar auf der Hand, dass die Toilette sich diesen wesentlichen Unterschieden anpassen muss. Die Männer oder ihre Schneider — (man kann es zum Lobe von beiden sagen) haben diese Unterschiede gefühlt, und mehr oder weniger drückt jeder seine Individualität in seinem Haus- oder Arbeits-Anzug aus, während sie sich auf der Straße ähnlich und bei feierlichen Gelegenheiten gleich sind. — Heute kann ich nur kurz auf diese drei Punkte, welche die Frauen-Tracht betreffen, hinweisen, und die Basis angeben, auf der wir zu ihrer künstlerischen Hebung arbeiten können.

In meinem Crefelder Vortrag sagte ich voraus, dass diese Art Ausstellung lebensfähig sei, und dass man das Beispiel nachahmen würde. „Diese Ausstellung fasste eine Menge individueller Anstrengungen zusammen und gab ihnen die erste Weihe. Sie hat die Tragweite eines bedeutsamen Ereignisses, weil sie Wiederholung in sich trägt; von heute an sind Ausstellungen von Damen-Kleidern in die Kategorie der Kunst-Ausstellungen eingereiht. Sie werden sicherlich von Zeit zu Zeit stattfinden neben den Gemälde und Skulpturen-Ausstellungen und den in letzter Zeit anerkannten Vorführungen von Werken der angewandten Kunst“. In der Tat fand in Leipzig im Jahre 1901 eine solche Ausstellung statt und zwar unter der Leitung des Herrn Thiel; auch in Berlin wird zu Anfang des Winters eine solche von Herrn Schultze — Naumburg organisiert werden. Und so wurde das Interesse des Publikums für diese Frage wach erhalten; einerseits lenkten die Ausstellungen, anderseits aber die individuellen Versuche die Aufmerksamkeit auf sich, und was mich betrifft, so halte ich die letzteren für am fruchtbarsten und für am meisten befähigt, möglichst schnell eine große Anzahl von Frauen zu bewegen, sich von fremder und interessierter „Abhängigkeit frei zu machen. Ich will die Rolle einer der „Mode“ unterworfenen Frau, die Unsittlichkeit solcher Einrichtung nicht noch weiter behandeln , sondern auf die individuellen Anstrengungen hinweisen, will die Aufmerksamkeit derer erregen, die stets ihr Möglichstes für alles noch nicht Erreichte tun. Ich muss von vornherein gestehen, dass wir noch nicht den Grad von Eleganz des Pariser Schneiders und der Pariser Schneiderin erreicht haben. Das ist eine betrübende aber bestehende Tatsache, und absichtlich finden sich hier neue Pariser Toiletten neben künstlerischen Versuchen, die dem ersten (vom Jahre 1900) gefolgt sind. Ich weiß wohl, dass man mir entgegnen wird, dass einer der augenscheinlichsten und größten Vorteile dieser Toiletten in der Vorzüglichkeit ihres Schnittes und ihrer Ausführung liegt und dass sie, Dank dieser Eigenschaften, unsere Arbeiten so weit überragen. Diese Tatsache führt uns fatalerweise zu der Behauptung, dass erst von dem Augenblick an, wo die maßgebenden Schneider und Schneiderinnen sich für unsere Versuche interessieren werden, die Bewegung den gewünschten Umfang annehmen wird. Ich kenne eine Anzahl Damen, die ihr gerne beitreten würden, die aber einen unüberwindlichen Abscheu gegen ein schlecht gemachtes Kleid haben, und die anderseits nicht selbständig genug sind, um es nach eigenen Angaben bei einer Schneiderin zweiten oder dritten Ranges arbeiten zu lassen. Ich begreife ihren Abscheu sehr wohl, denn der Reiz, der in solch gut geschnittenen Toiletten (siehe Seite 380 — 386) liegt, ist zu groß, als dass die Frau, die doch einmal nur Frau ist, ihr widerstehen könnte, und die Eleganz der Garderoben von Seite 380 — 386 haben wir noch nicht erreicht. Und dennoch ist die Konzeption dieser Toiletten eine ganz gewöhnliche, und ihr Reiz liegt einzig und allein in der Schönheit der Ausführung. Dass die großen Bekleidungs-Häuser sich eines Tages für unsere Versuche interessieren werden, unterliegt keinem Zweifel; schon jetzt ignorieren sie sie nicht mehr. Das Soutache-Ornament des Kleides auf Seite 381 beweist klar, dass sie von unserer Bewegung beeinflusst worden sind, oder dass sie bei ihrer Kundschaft eine Neigung dazu entdeckt haben, die sie nicht als Letzte ausbeuten wollten. Die Damen-Schneider von Bedeutung würden wirklich zu große Gefahr laufen, wenn sie der Bewegung nicht folgten; natürlich entlehnen sie dieser Bewegung, was das Assimilierbarste ist, was diese am meisten auszeichnet, ohne jedoch ihrem Haupt-Charakter Genüge zu tun. Ich will nicht von ihnen glauben, dass Unklarheit der Grund ist, aus dem sie gerade dasjenige, welches sie unseren Versuchen zu entlehnen unterlassen, der Haupt-Bestandteil ist: nämlich die mich nicht dagewesene Konstruktion und die vollständig neuen Schnitte der von uns entworfenen Kleider. Nun würden aber letztere mehr durch die hervorragende Arbeits-Art, die jenen Häusern eigen ist, gewinnen, als diesen unsere Ornamentik, die unter ihren Händen zudem nur verliert, nützen kann. Eine unermessliche Kluft liegt zwischen den Toiletten von Frl. Oppler, Prof. Behrens und van de Velde und denjenigen, welche auf S. 380 — 386 abgebildet sind. Die Toilette, welche auf S. 372 wiedergegeben ist — der Entwurf stammt von Frau Dr. E. B., zeigt uns, welches Resultat eine Frau erzielen kann, die sich von ihrem künstlerischen Sinn und nicht von ihrem Schneider leiten lässt. Man könnte wirklich kein Kleid ersinnen, das sich besser der Person, der Figur und der ganzen Haltung anpasste. Es ist wahrhaft von großem Stil und einer Konstruktion, die immer schön bleiben wird. Man könnte glauben, dass diese Toiletten von Damen zweier Welten getragen werden, und es existieren in Wirklichkeit zwei Welten. — Die Gewohnheiten der einen, ihre Wohnungen, ihre Möbel, Schmuckstücke und Küchen sind das Gegenteil von denen der anderen; aber in Hinsicht auf die Toilette liegt beiden die Schönheit am Herzen. Was sie trennt, ist nur wenig, aber dies Wenige ist zugleich unendlich viel! Die Welt, die wir die unsere nennen, in der wir versuchen, die Schönheit wieder aufleben zu lassen, hat uns zwei ganz in Vergessenheit geratene Schöpfungs-Prinzipien offenbart. Das eine besteht darin, jedes Ding seinem Zwecke entsprechend aufzufassen; es verlangt die Verwerfung alles dessen, was diesen Zweck verhüllt, und das klare Hervorheben alles dessen, was dazu beiträgt, den Zweck zu betonen. Das zweite Prinzip zeigt, dass jede Materie ihre eigene Schönheit besitzt, die der Ausdruck ihres Lebens ist. Jede Materie strebt nach Leben, und es ist die Aufgabe des Künstlers, dies schlafende Leben zu erwecken, um so das gesamte Gut des Lebens und seine Wirkung auf die Menschen zu vermehren.

Diese Prinzipien beherrschen auch die Toilette, und beim Betrachten der Illustrationen muss es auffallen , dass in dem ersten Teil der Zweck, welchen diese Kleider-Konstruktionen erreichen sollen, deutlich zu Tage tritt: nämlich die Provozierung des Faltenwurfs. Aber was noch mehr auffällt, ist die Tatsache, dass den Beschauer beim Anblick der französischen Toiletten ein Gefühl der Eiseskälte überkommt. Diese Gewebe leben nicht; diese Seiden- oder Tuch-Stoffe sind meistenteils wie Metall oder Leder bearbeitet; aber man möge nicht vergessen, dass wir zur Reproduktion das Beste und nicht das Mangelhafteste gewählt haben. Man könnte behaupten, dass dieses Vernunftprinzip sich nicht mit dem Reiz und der Eleganz verträgt, und sich niemals mit ihnen vertragen wird. Um dieser Meinung entgegenzutreten, haben wir den Beispielen, die sich durch andere Eigenschaften als Reiz und Eleganz auszeichnen, Pariser Toiletten gegenübergestellt, die dennoch auch der Leitung der Vernunft unterworfen sind. Diese Kontrolle war aber doch nicht so strenge, um einige willkürliche Einfälle zu unterdrücken, die jedoch nicht bedeutend genug sind, um für eine Kritik Veranlassung zu geben. Wir richten sicherlich alle unsere Anstrengungen darauf, auf Logik zu fassen, und die Schönheit wird uns folgen ! —

Ich glaube mit Recht sagen zu dürfen, dass unsere Anstrengungen, die wir vereint mit den englischen und amerikanischen Bekleidungs-Künstlern gemacht haben, auch die großen Pariser Häuser zwangen, dem Prinzip der „vernünftigen Toilette“ zu folgen. Wir haben ihnen die Augen geöffnet über die Verirrung ihres Geschmackes, wenn sie Toiletten erschufen, die zahllose Rudimente von früher notwendigen oder berechtigten Teilen und an jenes Unnütze an sich hatten, welche der Prof. Alfred Roller aus Wien in dem ersten Artikel der „Dokumente der Frauen“ folgendermaßen geißelt: „Da sind die Knöpfe, die nicht zum Knöpfen dienen, die Schließen und Schnallen, die nichts schließen, die Bänder, die nichts binden, die Knoten und Maschen, die nichts zusammenhalten, die Spitzen und Fransen und sonstigen freien Endigungen, die nichts beenden, die Einsätze, die nicht eingesetzt sind, die Plastrons und Unter-Ärmel, die nur, soweit sie sichtbar werden, wirklich vorhanden sind, die aufgedruckten Kreuzstich-Muster und „gewebten Stickereien“ und Auflege Arbeiten, die mit gedrechselten Holz -Körpern ausgestopften Quasten, die gewirkten Handschuhe, die wie schwedisches Leder aussehen, die Schnür-Schuhe, die in Wirklichkeit zum Zuknöpfen dasind, die Knöpf-Schuhe, die in Wirklichkeit durch Elastiques schließen, und die Kravatten-Knoten und Schärpen-Knoten und Hutband-Maschen und Gürtel-Kokarden, die in Wirklichkeit alle zugeschnallt oder gehaftelt werden, und die Blumen aus Leinwand und Plüsch, die aussehen wie gewachsene, und die Celluloid-Kämme und -Nadeln, die Schildkröte und Elfenbein und Korallen und Perlmutter vortäuschen müssen. Und dann alle die ganz offen als „falsch“ benannten Dinge! Falsche Röcke, falsche Säume, falsche Ärmel, falsche Kragen, falsche Taschen, — ich glaube, es gibt keinen Teil der weiblichen Kleidung, der nicht noch ein zweites Mal falsch existiert“.

Die Herrschaft solcher Verirrungen scheint jetzt endgültig vorüber; wer aber weiß, ob die Gefahr „der Wiederkehr völlig beseitigt ist! Wenn diese uns erspart bleibt, und wenn die Vernunft der Willkür der Pariser Mode-Häuser eine Grenze setzt, so hoffen wir, dass sie noch weiteres von uns lernen werden, besonders aber, dass die wesentliche Schönheit eines Stoffes in dem Spiel und dem Leben seines Faltenwurfes besteht. Hierauf fußend muss man Kleider-Schnitte ersinnen, die diese Falten hervorbringen und den Geweben dieses Leben geben, das kein „französischer“ Schnitt ihm seit langem gegeben hat.

*) Die künstlerische Hebung der Frauen-Tracht von H. van de Velde. Verlag von Kramer & Baum, Crefeld.

Den Sinn des Lebens erkennen wir nicht nur in eitler Materie, nein, alle haben uns das Geheimnis ihrer Schönheit offenbart: die Stoffe sind nur schön, wenn sie leben. In der Malerei die Farbe, in der Skulptur die Bronze oder der Marmor, in der Literatur haben die Worte eine besondere Schönheit, die über dem Sinn oder den Vorstellungen, die sie erregen, stehen. — Ich erinnere mich eines Wortes, das der Direktor des Crefelder Museums, Herr Dr. Deneken, bei Gelegenheit der ersten Ausstellung aussprach. „Es scheint mir, als wenn wir einem „Falten-Stil“ entgegengehen“, sagte er mir, und in der Tat ist es das, was uns von dem, was von den Pariser Mode-Häusern nur mit Rücksicht auf die Eleganz und Reiz geschaffen wird, unterscheidet. Dieser Wunsch, Kleider mit tiefen, weichen und bewegten Falten zu schaffen, wo Licht und Schatten den berechtigten Kampf des Lebens, das der Materie gehört, auskämpfen, das ist der Kernpunkt unserer Bewegung, die wir angeregt haben, während die, welche ihr parallel läuft, und mit welcher wir nicht verwechselt zu werden wünschen, ihre Berechtigung nur in dem Kampf gegen das Korsett sucht! Für uns ist das nur eine Nebensächlichkeit, die jeder nach seiner Art regelt, während es für sie ein Glaubens-Artikel ist*). Wie schwankend dieser Glaube ist, zeigen uns „Die Dokumente der Frauen“. In ihr Gutachten reiht die Leiterin derselben, Frau Marie Lang — Wien, Meinungen der Ärzte ein, deren Wissenschaft vermutlich vor jeder Kritik geschützt ist, sonst würde sie sie nicht gefragt haben, denn sie widersprechen sich alle. Der Universitäts-Professor Richard von Krafft-Ebing sagt: „Ich halte das Miedertragen für eine der schädlichsten Unsitten der Frauen-Kleidung. Man braucht nur einmal eine Schnür-Leber auf dem Sektions-Tisch gesehen zu haben, um dies zu begreifen“. — Der Dr. med. Siddy Pal beginnt mit folgenden Worten seine Antwort: „Es ist ein Irrtum, ohne weiteres zu behaupten, das Miedertragen sei schädlich und unhygienisch. Gewiss könnte ein großer Teil der Frauen ohne dasselbe auskommen, dagegen ist es für viele nicht allein empfehlenswert, sondern selbst dringend geboten“. — Der Universitäts-Professor Dr. Friedrich Schauta sagt schroff: „In der Frage des Miedertragens dürfte wohl kein Arzt ein anderes als das schärfste Verdammungs-Urteil auszusprechen in der Lage sein“; während ein anderer Universitäts-Professor, Dr. C. Breus, erklärt: „Vom hygienischen Standpunkte ist das Miedertragen durchaus nicht so ohne weiteres zu verwerfen, wie dies nicht selten geschieht“.

Die Bewegung der Reform-Kleidung wird noch lange in diesen Widersprüchen verharren, wenn wir schon weit in der Eroberung der Schönheit sein werden. Wir werden inzwischen manche Geheimnisse der Art und des Schnittes der Pariser Toiletten aufgefangen haben, und das wird nicht wenig zu unserem künftigen Triumphe beitragen.

00 Promenade Kostüm – Marg. Trautwein – Berlin
01 Straßen-Kleid – Marg. von Brauchitsch – München
02 Straßen-Kleid – Else Oppler – Nürnberg
03 Rückseite, Straßen-Kleid Abb. 02
04 Gesellschafts-Kleid – Else Oppler – Nürnberg
05 Gesellschafts-Kleid – Prof. P. Behrens – Darmstadt
06 Rückseite, Gesellschafts-Kleid Abb. 05
07 Tea gown. Vorder-Ansicht – Prof. H. van de Velde
08 Rückseite, Tea gown Abb. 07
09 Besuchs-Toilette – Frau Dr. Elly B.
10 Besuchs-Toiletten – Frau Dr. E. B. und H. van de Velde
11 Frau Prof. van de Velde in einem von Herrn Henry van de Velde entworfenem Straßen-Kleide – Weimar
12 Besuchs- und Straßen-Kleid – Prof. H. van de Velde
13 Straßen-Kleid Vorderansicht - Prof. H. van de Velde
14 Rückseite, Straßen-Kleid Abb. 13
15 Zwei Empfangs-Toiletten - Prof. H. van de Velde
16 Rückseite der einen Empfangstoilette Abb. 15
17 Empfangs-Toilette in hell-rotem Tuch-Stoff – Maison Laferière – Paris
18 Empfangs-Toilette in schwarzem Samt mit Atlas-Applikation – Maison Lebouvier - Paris
19 Empfangs-Toilette in schwarzem Samt– Maison Fred – Paris
20 Promenaden-Kostüm in dunkel-braunem Tuch – Maison Block - Paris
21 Promenaden-Kostüm mit weitem Mantel – Maison Redfern – Paris
22 Promenaden-Kostüm in blauem Samt – Maison Doucet - Paris
23 Promenaden-Kostüm in tauben.grauem Tuch – Maison Jeulin - Paris

Promenade Kostüm – Marg. Trautwein – Berlin

Promenade Kostüm – Marg. Trautwein – Berlin

Straßen-Kleid – Marg. von Brauchitsch – München

Straßen-Kleid – Marg. von Brauchitsch – München

Straßen-Kleid – Else Oppler – Nürnberg

Straßen-Kleid – Else Oppler – Nürnberg

Rückseite, Straßen-Kleid Abb. 02

Rückseite, Straßen-Kleid Abb. 02

Gesellschafts-Kleid – Else Oppler – Nürnberg

Gesellschafts-Kleid – Else Oppler – Nürnberg

Gesellschafts-Kleid – Prof. P. Behrens – Darmstadt

Gesellschafts-Kleid – Prof. P. Behrens – Darmstadt

Rückseite, Gesellschafts-Kleid Abb. 05

Rückseite, Gesellschafts-Kleid Abb. 05

Tea gown. Vorder-Ansicht – Prof. H. van de Velde

Tea gown. Vorder-Ansicht – Prof. H. van de Velde

Rückseite, Tea gown Abb. 07

Rückseite, Tea gown Abb. 07

Besuchs-Toilette – Frau Dr. Elly B.

Besuchs-Toilette – Frau Dr. Elly B.

Besuchs-Toiletten – Frau Dr. E. B. und H. van de Velde

Besuchs-Toiletten – Frau Dr. E. B. und H. van de Velde

Frau Prof. van de Velde in einem von Herrn Henry van de Velde entworfenem Straßen-Kleide – Weimar

Frau Prof. van de Velde in einem von Herrn Henry van de Velde entworfenem Straßen-Kleide – Weimar

Besuchs- und Straßen-Kleid – Prof. H. van de Velde

Besuchs- und Straßen-Kleid – Prof. H. van de Velde

Straßen-Kleid Vorderansicht - Prof. H. van de Velde

Straßen-Kleid Vorderansicht - Prof. H. van de Velde

Rückseite, Straßen-Kleid Abb. 13

Rückseite, Straßen-Kleid Abb. 13

Zwei Empfangs-Toiletten - Prof. H. van de Velde

Zwei Empfangs-Toiletten - Prof. H. van de Velde

Rückseite der einen Empfangstoilette Abb. 15

Rückseite der einen Empfangstoilette Abb. 15

Empfangs-Toilette in hell-rotem Tuch-Stoff – Maison Laferière – Paris

Empfangs-Toilette in hell-rotem Tuch-Stoff – Maison Laferière – Paris

Empfangs-Toilette in schwarzem Samt mit Atlas-Applikation – Maison Lebouvier - Paris

Empfangs-Toilette in schwarzem Samt mit Atlas-Applikation – Maison Lebouvier - Paris

Empfangs-Toilette in schwarzem Samt– Maison Fred – Paris

Empfangs-Toilette in schwarzem Samt– Maison Fred – Paris

Promenaden-Kostüm in dunkel-braunem Tuch – Maison Block - Paris

Promenaden-Kostüm in dunkel-braunem Tuch – Maison Block - Paris

Promenaden-Kostüm mit weitem Mantel – Maison Redfern – Paris

Promenaden-Kostüm mit weitem Mantel – Maison Redfern – Paris

Promenaden-Kostüm in blauem Samt – Maison Doucet - Paris

Promenaden-Kostüm in blauem Samt – Maison Doucet - Paris

Promenaden-Kostüm in tauben.grauem Tuch – Maison Jeulin - Paris

Promenaden-Kostüm in tauben.grauem Tuch – Maison Jeulin - Paris