St. Gallen

Da wir uns einmal im Kanton St. Gallen befinden, so dürfen wir nach dem Plan unsres Werks die Legende des heiligen Gallus und die Anfänge der berühmten Abtei nicht übergehen, die auf die geistige Entwickelung Deutschlands von so großem Einfluss gewesen ist.

Schon unter der Römerherrschaft soll ein britischer Königssohn, Namens Lucius, in diesen Gegenden das Evangelium verkündet haben. Noch trägt der Luciensteig, da wo er zwischen Graubünden und der Grafschaft Vaduz das rhätische Gebirge überschritt, um den Wildnissen des Hochlands zu predigen, seinen Namen. Auch in Helvetien hatte das Christentum Eingang gefunden; aber nach der Völkerwanderung mögen die ältesten christlichen Gemeinden durch das Übergewicht der heidnischen Volksmenge und die Fahrlässigkeit der Priester wieder entartet sein. Der heilige Gallus und seine Gefährten, Mangold und Siegbert, waren dazu ausersehen, dem christlichen Glauben in seiner Reinheit die Herrschaft in Allemannien zu sichern. Aus fernen Landen, von der nördlichen Küste Irlands, wo der Vater des heiligen Gallus König der damals dort wohnenden Scoten gewesen sein soll, hatte sie der Glaubenseifer im Gefolge des heiligen Columban in die Schweizeralpen geführt. Doch nicht unmittelbar; sie hatten erst im Kloster zu Bangor in Wales verweilt, hierauf im Wasgau bei Lützel ein Kloster gebaut. Als die fränkische Königin Brunhilde sie von hier vertrieb, kamen sie nach Schafhausen, Zürich und Bregenz am Bodensee. Überall zerstörten sie die Götzenbilder und lehrten den wahren, einigen Gott. Hierauf trennte sich Siegbert von den Gefährten und kam in die Wildnis Hohenrhätiens. Da wo sich Vorder- und Mittelrhein vereinigen, stiftete er das schon erwähnte Kloster Disentis (lateinisch Desertum). Placidus, ein reicher Mann dieses Landes, schenkte dazu Güter. Aber Victor, der Präses Rhätiens, gedachte durch deren Einziehung die Kammer zu bereichern. Placidus widersetzte sich und rückte dem Präses außer diesem Unrecht noch manche Ungerechtigkeit vor. Dafür starb er den Märtyrertod. Aber die Strafe des Himmels ereilte den Wüterich: Victor ertrank und seine Söhne gaben zur Sühne des Unrechts nicht nur das entzogene Gut zurück, sondern noch überdies großen Reichtum.


Unterdes hatte Gallus mit seinen Freunden unweit des Bodensees an den Flüsschen Nigrach und Steinach Hütten gebaut und als Einsiedler die Bekehrung der Umwohnenden begonnen. Die Legende berichtet, Graf Talto, Kämmerer des königlichen Hofs, habe ihnen diese Gegend geschenkt. Nach einer alten Chronik war es der alamannische Herzog Gunzo, der in Überlingen, dem alten Iburinga wohnte, welcher dem heiligen Einsiedler Gallus, zum Dank dafür, dass er seine einzige Tochter von einer schweren Krankheit geheilt, jenen Wald zum Geschenk machte. Wie dem auch sei, aus jener ersten Niederlassung ging im Verlauf der Zeiten die reiche und mächtige Abtei St. Gallen hervor deren Abt mehr Einkünfte hatte, als der Bischof von Chur.

Das Erste, was von hier aus für deutsche Sprache und Literatur gewirkt wurde, geschah von dem heiligen Gallus selbst, durch Anlegung eines lateinisch-deutschen Vokabulars, dessen er als Irländer, bis er sich bessere Kunde des Deutschen erworben hatte, bei seinem Bekehrungsgeschäft wohl bedürfen mochte. In diesem Wörterverzeichnisse, das in der eigenen Handschrift des alamannischen Apostels zu St. Gallen gezeigt wird, ist uns, wenn wir von dem Gotischen absehen, das älteste deutsche Sprachdenkmal erhalten, weshalb W. Wackernagels deutsches Lesebuch und Heinrich Künzels drei Bücher deutscher Prosa die Reihe ihrer Sprachproben mit dem Wörterbuch des heiligen Gallus eröffnen. Es mag sein, dass die alamannische Sprache ihm nicht geläufig, dass er der lateinischen noch viel unkundiger war, dennoch bleibt ihm der Ruhm, der Erste gewesen zu sein, der die wilden deutschen Laute an die Fesseln der Schrift gewöhnte. Da es interessant ist zu sehen, welche Gestalt deutsche Worte im siebenten Jahrhundert hatten, so heben wir einige zur Probe heraus. An dem häufigen us für um in lateinischen Worten wird man bestätigt finden, was über des Verfassers Unkunde des Lateinischen gesagt ward:

Surculus zui (Zweig.) — folia laup. — folius plat. — curvus crump. — curvatus gapogan. — palatius phalanze. — templus huus za petonna. — tectus gadacha. — stabulus stal. — cupiculus camera. — lectus petti. — fenestra augatora. — saxus stain. — cimentus calc. — montes perga. — collis puhila. — vallis tal. — plane epani. — fons pimnno. — pontes prucge. — flumen aha. — naves scef. — rex cuninc. — dux herizoho u. s. w.

Aus so kleinem Anfange sollte die gesamte, unübersehliche, noch jährlich ja stündlich in unendlich vielen Gliedern fortwachsende deutsche Schriftwelt hervorgehen! St. Gallen aber begnügte sich nicht mit dem Ruhme, das erste Reis in deutscher Zunge gepflanzt zu haben, es hegte und pflegte auch ferner den jungen Baum unserer Muttersprache, bis er zum starken Stamme gediehen Frucht und Schatten gab und dem eigenen Trieb und Wachstum fortan überlassen werden konnte. ,,Zwar fuhr man,“ sagt Wilhelm Wackernagel, ,,noch einige Zeit in derselben Weise fort, wie Gallus begonnen: man verfertigte, um Anfängern das Studium der lateinischen Sprache zu erleichtern, deutsche Interlinear-Versionen und lateinisch-deutsche Glossare, dergleichen dem Mönch Kero zugeschrieben wurden; man verschmähte zuerst noch die deutsche Poesie und überlies sie, wo man sie nicht verfolgte, wenigstens mit stolzer Verachtung den ungebildeten Laien: aber bald stellte sich die Freude an einem verständigem und würdigern Gebrauch der deutschen Sprache ein, und es ward schon im neunten Jahrhundert nicht mehr für unziemlich gehalten, auch in deutschen Versen zu dichten. Der Mönch Ralpert, der in den neunzigen dieses Jahrhunderts starb, verfasste ein Lied über das Leben und zu Ehren des heiligen Gallus: leider ist es nur in einer lateinischen Übersetzung auf uns gekommen. Aber vielleicht ist die Teilnahme der St. Galler an der deutschen Poesie noch um etwas älter: die älteste deutsche Messiade, Otfrieds unter Ludwig dem Deutschen gedichtete Evangelienharmonie ist unter andern auch zweien St. Galler Mönchen, Hartmuat und Warinbracht zugeeignet; wir wissen von Otfried sonst nur, dass er Mönch in dem elsässischen Benediktinerkloster Weissenburg war; allein diese Zueignung setzt eine nähere Bekanntschaft in St. Gallen voraus, und wie auch seine Sprache eher alamannisch als überrheinisch klingt, möchte die Vermutung kaum gewagt erscheinen, dass er erst später nach dem Elsass gekommen, früher aber gleichfalls Mönch zu St. Gallen gewesen sei. Otfrieds Arbeit ist eine durchaus im Geiste seiner Zeit gelehrte, seine lateinische Bildung scheint sogar auf seinen Stil nachteilig eingewirkt zu haben, nur selten spricht er so wie es damals volksmäßig sein mochte; dagegen ist Ratperts Lied, so viel wir aus der lateinischen Uebersetzung schließen können, schon ganz in der Art des Volks gewesen: ein halbes Jahrhundert später sahen wir einen St. Galler Mönch, Eckehart I., der ohne Scheu sogar einen Gegenstand aus der nationalen Heldensage, die Abenteuer Walthers und Hildegundens besingt, zwar in lateinischen Versen; aber die Wahl des Stoffes beweist, wie vorteilhaft sich im Laufe des Jahrhunderts die ästhetischen Ansichten der St. Galler Mönche geändert hatten. Früherhin würde man dergleichen fast für sündlich gehalten haben. Für die Poesie geschah zu St. Gallen im weitern Verlauf dieser Periode nichts mehr; desto eifriger, desto erfolgreicher ward die Prosa geübt. Freilich nur in Übersetzungen ; aber auch darin erwies sich jetzt eine so freie und selbstkräftige Kunst, und dem prosaischen Stil war im schönsten Einklang mit dem formellen Zustande der Sprache zugleich so viel Anmut und Gediegenheit eigen geworden, dass sich erst wieder aus dem dreizehnten Jahrhundert gleich und besser Gelungenes wird daneben stellen lassen. Notker III. mit dem Beinamen Labeo, der im Jahr 1022 starb, übersetzte und paraphrasierte nach Anleitung des augustinischen Kommentars den ganzen Psalter; in jeder Beziehung wertvoller sind jedoch die andern immer noch ungedruckten Übersetzungen und Erklärungen vom Organon des Aristoteles, von Marcianus Capella, und namentlich die vom philosophischen Tröstbuch des Boethius: Arbeiten, die man alle zusammen gleichfalls jenem Notker beizulegen pflegt; aber es ist gewiss, dass sie von mehreren andern Verfassern und wahrscheinlich, dass sie teilweise von Ruadpert, einem Zeitgenossen Notkers herrühren, dessen Bemühung für angemessene Übersetzung schwieriger lateinischer Ausdrücke uns anderswoher bekannt ist. Dergleichen Tätigkeit in jenem Zeitalter lässt sich nicht genug mit Dank erkennen, es gibt für eine wenig geübte, wie für eine entartete Sprache nichts Heilsameres als Übersetzungen, wenn sie nur mit Geist und Kenntnis gearbeitet werden.“

Freilich erlosch das Licht, das die St. Galler Mönche der Welt angezündet hatten, als es schon überall leuchtete, ihnen selber wieder. Jener Wilhelm, Graf von Montfort, Abt von St. Gallen, der dem Kaiser Rudolf so viel zu schaffen machte, konnte mit seinem ganzen Kapitel nicht einmal schreiben, und wenn derselbe Abt Tagelieder gedichtet hat (damals dichteten Viele, die nicht schreiben konnten), so beweist dies nur, dass neben dem Verfall der Gelehrsamkeit auch das Verderbnis der Zucht und Sitte einzureißen drohte, denn keine Art von Poesie geziemte wohl einem Abt weniger als diese, deren Wesentliches darin bestand, dass diejenigen, welche verbotene Liebe pflegten, beim Anbruch des Tages von dem Wächter auf der Zinne ermahnt wurden, sich vorzusehen, dass sie nicht entdeckt und an Ehre und Leben geschädigt würden, worauf denn eine rührende Schilderung des Abschieds zu folgen pflegte.

So ward denn, wie einst die Weisheit Salomons, mit abnehmender Gottesfurcht, auch der Ruhm sangallischer Gelehrsamkeit zu Schanden. Mit Recht, ob es gleich eine unverdient harte Strafe scheinen mag, dass wir jetzt, wenn von unwissenden schmerbäuchigen Pfaffen die Rede ist, durch Bürgers bekanntes Gedicht unwillkürlich an den Abt von St. Gallen erinnert werden.

Folgender Vorfall gehört zwar noch in die bessere Periode der Abtei, gibt aber doch einen zweideutigen Begriff von der Bildung der Mönche, die sich schon an eine Kritik der heiligen Schriften wagten:

Die Vorräte im Keller zu St. Gallen waren bis auf zwei Fässer geschmolzen; denn die letzten heißen Jahre hatten mehr auf den Durst, als auf die Zeitigung des edeln Gewächses gewirkt. Bei festgesetztem starken Zuspruch musste man fürchten in Kurzem ganz auf das Trockene zu geraten. Unter solchen Umständen konnte es nur höchst willkommen sein, als die Nachricht einlief, dass der heilige Adalrich, Bischof von Augsburg, dem Kloster ein ganzes Stückfass verehrt habe, das schon unterwegs sei. Aber die freudige Überraschung verwandelte sich eben so unerwartet in Schrecken, als man vernahm, dass das Fass, eben da es in den Hafen einlaufen sollte, noch gescheitert sei. Der Fuhrmann hatte nämlich an der hohen Brücke die Pferde kräftiger angetrieben, darüber begegnete ihm das Unglück, dass dem Karren Rad und Achse brach, das schwere Fass herab- und über das Brückengeländer in den Strudel fiel. Man denke sich die Bestürzung, das Entsetzen! Aber noch war nicht Alles verloren, der Wein hatte das Wasser nicht gefärbt, das Fass schien keinen Schaden gelitten zu haben und so kam es nur darauf an, die rechten Mittel anzuwenden, beide glücklich aus der Tiefe zu heben. Der Abt versammelte also gleich das Convent, man ratschlagte geheim und lange, endlich kam es zum Beschluss. Nun säumte man sich länger nicht, ans Werk zu gehen und schritt im vollen Ornat mit Kreuz und Fahne aus der Abtei. Dreimal bewegte sich die Prozession mit lautem Kyrie Eleison um den Strudel, und wenn sie über die Brücke schritten, und der Abt unter dem Baldachin den Segen gab, knieten Alle sich bekreuzend nieder. Als dies vollbracht war, machten die Schröter mit ausgeworfenen Seilen einen Versuch. Die Brüder standen, die Hände gefaltet, in frommer Erwartung und siehe, so bewährte sich die Weisheit des Ratschlusses, das Fass ward unversehrt herauf und in den Klosterkeller geschafft. Nicht ein Tropfen des edeln Getränks war verschüttet. Auf diese Nachricht stimmten Alle, des glücklichen Erfolges froh, mit dankbaren Herzen ein Tedeum an. Besser als wir nach blutigen Schlachten, sagt der Geschichtsschreiber.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das malerische und romantische Deutschland