Das ideale Heim einst und jetzt

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 1. 1929
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Wohnung, Einrichtung, Innenarchitektur, Stil, Dekoration, Dekorateur, Innenarchitekt/tin, Heim
Erst wenige Jahrzehnte sind vergangen, seit unsere Eltern und Voreltern fast ohne Ausnahme Stiltyrannei unterlegen sind, weil ihnen die persönliche Urteilsfähigkeit des Geschmacks in der Jagd nach prunkvoller Massenware abhandengekommen war. Man betrachte das nebenstehende Musterbeispiel aus vergangenen Tagen einmal genauer, dann wird man erkennen, wer damals die Tyrannei ausgeübt hat. Es war der Tapezierer, der sich selbst zum „Dekorateur“ ernannte. Dazu kam dann noch der kunstgeschichtskundige Möbelhändler. Es ist fast nicht zu glauben, dass man es in solcher Anhäufung von schwüler Romantik und falschen Tönen aushalten konnte. Das Schlimmste in diesen Räumen war aber die lichtfeindliche, staubselige Unhygiene, die mit bösem Willen kaum noch zu überbieten wäre. Dazu eine verwässerte und auf eitlen Prunk gearbeitete, sogenannte deutsche Renaissance, die dem Urbild so unähnlich geworden war, dass sie ihre Bezeichnung nicht mehr verdiente. War dann die Ware, ach so bald, verschlissen, dann wurde Ersatz gekauft; der noch mehr verziert war als sein Vorgänger. Die ganze Wirtschaft drehte sich nur noch um die Frage nach dem Preis, und alles Qualitätsgefühl war geblendet durch äußerliche Prunknachahmung.

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An die Stelle jenes Dekorateurs ist jetzt der gut ausgebildete, schöpferische Innenarchitekt getreten. Wer aber zum Innenarchitekten ginge und ohne persönliche Anteilnahme und Geschmacksäußerung einfach „eine Einrichtung“ bestellte, würde sich ohne weiteres nun dessen Anschauungen unterwerfen, und er verdiente es nicht besser, wenn er sich in seiner Wohnung unbehaglich fühlte, weil sie nicht auf seine Persönlichkeit zugeschnitten wäre. Mit einem tüchtigen Innenarchitekten kann und muss man reden; wenn man nur weiß, was man will, dann wird man auch etwas Gutes erhalten. Also fort mit der gedanklichen Bequemlichkeit! Wir müssen einmal darüber nachdenken, ob unsere Bedürfnisse wirklich so groß sind wie die unserer Voreltern. Wir müssen lernen, nur das zu kaufen, was Dauer hat und was wir wirklich gebrauchen. Beim Kaufen muss unser erster Gedanke sein: Welche Ware ist gut und zweckmäßig?



Das Heim vor fünfzig Jahren ist ein lehrreiches Beispiel für das Zuviel an Möbeln, denn es verdirbt das Gefühl für die Wirkung des Raums, auf das wir jetzt wieder mehr Wert legen. Dieses Wiedererwachen des Raumgefühls ist das Vorzeichen für das Herannahen einer neuen Raumkunst, die mit den schlichtesten Mitteln ruhige, geschmackvolle Raumaufteilung zu erreichen sucht und die trotz aller künstlerischen Qualitäten von vielen ob ihrer kühlen Sachlichkeit noch abgelehnt wird.

Das Heim von Heute. Wohnzommer von Prof. Georg Muche in Charlottenburg

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Das ideale Heim um 1870

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