Die äußere Politik Russlands. — Schischkin. — Li-Hung-Tschang. — Die chinesischen Bahnen. — Die Politik Lobanows. — Österreich und Russland.

„Fürst Lobanow,“ spöttelten seine diplomatischen Gegner, die ihn nicht neidlos die erste Stelle unter den Ministern Europas gewinnen sahen, „hatte Glück. Diesem allein dankte er seine Erfolge.“ Der russische Staatsmann pflegte mit einem Worte des Marschalls Suworow zu erwidern: „Das Glück ist häufig ein Bruder oder Vater des Erfolges; wenn ich am Montag und Dienstag siege, meine ich selbst, das ist Glück; wenn sich aber Mittwoch und Donnerstag mein Erfolg wiederholt, dann darf ich wohl glauben, daß meine eigene Kraft mitgeholfen hat.“

Die Politik Lobanows nach außen wurde nicht nur durch die Balkan-Fragen beeinflusst, sie hatte auch nicht bloß Ziele, die mit der Stellung in Europa zusammenhängen und mit Hilfe des französischen Bündnisses ein immer größeres Ansehen zu gewinnen suchten, sie hatte noch eine andere für Interesse und Zukunft des Reiches sehr bedeutsame Aufgabe. Diese ist nicht zufällig, sondern auf natürlichem Wege durch den Zug der Bevölkerung nach Asien entstanden. Die Armseligen ohne Existenz, ohne Möglichkeit ihr Leben zu fristen und die bescheidensten Ansprüche eines Daseins zu erfüllen, die „Halbmenschen“, wie sie das Volk mit einem entsetzlich grausamen Ausdrucke nennt — die Notleidenden, die ihre Wohnstätte verließen, um neue Ansiedlungspunkte zu finden, waren die ersten, welche die öffentliche Aufmerksamkeit aus den Osten lenkten. Im Innern Russlands kann man auf allen großen Bahnhöfen zahlreichen Gruppen von Auswanderern begegnen, welche der Hunger und die Hoffnung, die Triebkräfte der Menschheit, aus ihrer Heimat verjagten. Bleich, verstörten Gesichtes, auch in Tränen starren sie vor sich hin. Das Leben hat sie offenbar rauh angefasst. Wie vieler Enttäuschungen und bitterer Not es wohl bedurfte, bis sie an diese Stelle gerieten, wo sie wie halbverlöschende Lämpchen, die nach neuer Leuchtkraft lechzen, aus dem Boden irgend eines hölzernen Bahngebäudes zusammengedrängt erscheinen. Noch ein Glück für sie, daß sie jetzt ein schützendes schattenspendendes Dach fanden, welches die Strahlen der Augustsonne abhält, die heiß auf die beklagenswerten Geschöpfe in den weißen Pelzröcken herniederbrennt. Ihr Wanderziel ist Sibirien, das jüngste Eldorado der Phantasie Russlands.


„Wenn ich ein Mann von dreißig Jahren wäre, ginge ich nach Sibirien. Dort liegen Geld und Glück auf der Straße,“ sagte mir der Leiter einer Petersburger Bank, deren Umsatz hunderte von Millionen erreicht.

In der Tat kann man erwarten, daß die neue Eisenbahn, von der einzelne Strecken bereits vollendet sind, einen gewaltigen Aufschwung für Sibirien nicht nur, sondern für ganz Russland bedeuten wird. Vorläufig harrt dort der Auswanderer noch eine schwere Zeit.

„Es kamen,“ hörte ich einen Fabrikanten aus Irkutsk erzählen, „jüngst in einer Woche zwölftausend Menschen. Sie pilgern wie zu einem Wallfahrtsorte; bei ihrer Ankunft finden sie keine Wagen, die sie befördern, keine Wohnung. Man baut ihnen Baracken, die auf Sumpfboden stehen; sie bleiben ohne Nahrung; das Wasser, das sie trinken, ist vergiftet. Der Tod hält hier Ernten wie auf dem Chodinkafelde, nur spricht man nicht von ihnen.“

Der Einzelmensch hat so kleinen Wert in Russland, daß solche Erfahrungen nicht abschrecken. Der Zug nach dem Osten drängt unablässig weiter, er wählt nicht nur Sibirien als Ziel, er strebt nach allen Gebieten Asiens, die offen liegen und erreichbar sind: er wird auch immer kräftiger und beschränkt sich nicht auf die unteren Volksschichten allein. Vermögende Bauern, die mit ihrem Lose im Mir unzufrieden sind, Geschäftsleute, die eine reichere Existenz suchen, Menschen von Talent und Phantasie, die zu Hause nicht zur Geltung kommen — auf sie alle wirkt der Osten mit magnetischer Kraft. Es war nur naturgemäß, daß dies auch politische Folgen hatte. Nach und nach wurde in den Köpfen die alte Tamerlan-Idee [Tamerlan gilt gemeinhin als einer der größten Schlächter der Weltgeschichte neben Dschingis Kahn,] lebendig, die nach einer möglichst leichten Gewinnung weiter Ländergebiete strebt, um rasch Nahrung und Unterhalt für große Volkskreise zu gewinnen. „Tamerlan und Dschingiskhan,“ meinen die Vertreter dieser Renaissance mongolischer Eroberungspläne, „kamen als Zerstörer, wir Rassen werden die Kultur in unserem Gefolge haben!“ So hat die rassische Politik — und das ist, wie Bismarck wiederholt anerkannte, bedeutsam für die Erhaltung des europäischen Friedens — eine starke Wendung gegen Osten genommen. Die ganze Taktik der hiesigen Diplomatie ist hiedurch beeinflusst. Sie ist heute weniger offensiv. Die Staatsmänner erinnern sich mit einemmal, mit welchen Mitteln die berühmten Generale Alexanders I. das Land von der napoleonischen Invasion befreit haben. Wenn man diese militärischen Führer, deren Bildsäulen sich nun vor der Archangelskirche stolz erheben, mahnte, energisch vorzugehen und mutig den Kampf mit dem bereits durch Hunger und Frost geschwächten Gegner auszunehmen, sagten sie abwehrend: „Die Zeit arbeitet besser für uns, als wir es vermögen.“ Ähnlich spricht heute die ganze jüngere politische Schule Russlands. „Wir sind für den Frieden,“ sagen ihre Wortführer, „nicht bloß aus Abneigung gegen die Greuel des Krieges, sondern aus einem wohlberechneten Egoismus. Wir können nur gewinnen, wenn wir ruhig bleiben. Die Staaten, die uns unsere Erfolge streitig machen wollen, sind nicht im Aussteigen, sie werden nicht kräftiger sein als heute, wenn die Lösung der Schwebenden und für uns wichtigen Fragen eintreten sollte. Diese kann gar nicht spät genug kommen, wir haben zu tun für lange Zeit; wir haben uns wirtschaftlich zu vervollkommnen und zu reformieren, wir haben die prekären Verhältnisse im Innern durch gesündere und bessere zu ersetzen, wir haben unsere großen Aufgaben in Asien zu erfüllen.“

Hört man die offiziellen Kreise mit ihrer vorsichtigeren Sprache der Zurückhaltung, so wird man finden, daß sie diesen Auffassungen sehr nahe stehen. Fürst Lobanow hatte wirklich Glück! Er wollte eine Friedenspolitik und konnte sie durch die Stimmung der politischen Intelligenz in Russland befestigen, er hatte — gewiß ohne die Aspirationen nach dem Süden definitiv aufzugeben — die Zielpunkte der russischen Bestrebungen vorläufig ostwärts gerückt und begegnete auch damit allgemeinen, auf die wirtschaftliche und staatliche Entwicklung gerichteten Anschauungen.

Diese langsam, aber doch sichtlich hervortretende Wandlung ist durch ein Ereignis von mächtiger Tragweite gefördert worden — durch den Krieg zwischen China und Japan. Unmittelbar vor seinem Ende begann der sichtliche Einfluss Lobanows.

„Er war damals noch jung im Amte,“ teilte mir einer der kenntnisreichsten und vielleicht deshalb bestunterrichteten hiesigen Diplomaten mit: „niemand wußte recht, was von ihm zu halten sei; die einen glaubten, er sei träge und arbeitsscheu, die anderen hielten ihn für einen Mann, der das Herkömmliche und Gewöhnliche ruhig weiterspinnen werde. Er bewies rasch das Gegenteil. Schischkin, der als langjähriger Gehilfe des früheren Ministers die Geschäfte geführt hatte, ja bereits als dessen Nachfolger galt, wollte mit Japan gehen und dieses gegen China unterstützen, um eine kleine Beute aus dem Kriege heimzutragen. „Nein!“ sagte der neue Minister, „das ist den Interessen Russlands entschieden abträglich!“ Er trat während der Friedensverhandlungen zu Gunsten der möglichsten Erhaltung des Status quo in China ein, er wendete sich nach London und schlug eine gemeinsame Operation in dieser Absicht vor; man verhielt sich dort — was man heute vielleicht bedauert — ablehnend; darauf klopfte Lobanow in Berlin an, und Deutschland, dem eine Gelegenheit willkommen war, den Russen gefällig zu sein, stellte sich au seine Seite.“

Damit ist ein neues Moment für die Stellung Russlands in Asien geschaffen worden: sein Verhältnis zu China. Was es mit der Verteidigung der „Unabhängigkeit“ Koreas vor dem Friedensschlüsse beabsichtigte, zeigt ein Blick aus die Landkarte. Diese Halbinsel umspannt wie ein kräftiger Arm die chinesische Ostgrenze. Man war in Petersburg entschlossen, diesen „Arm“ nicht einer andern Macht zu überlassen. Man hätte unbedingt die Entscheidung der Waffen angerufen, wenn die diplomatische Intervention resultatlos blieb. Man schob, während diele geführt wurde, fortwährend Truppen an die chinesische Grenze. Die Offiziere der Garnisonen im Innern des Landes wurden aufgefordert, sich freiwillig für den Dienst in Asien zu melden. Man hatte die Fähigsten von ihnen schon gewählt, und ihnen Reservevorschüsse und außerordentliche Zulagen ausgezahlt; auch heute, wo das Verhältnis zwischen China und Japan — ebenso wie das zwischen Russland und Japan — schon friedliche Farbe gewonnen hat, ist der russische Kriegsminister noch auf der Hut: die Truppennachschübe nach Sibirien sind nicht sistiert, in der Armee gibt es keinen sehnlicheren Wunsch, als für dieselben bestimmt zu werden, und in einzelnen Garnisonen lost man, welche Truppenteile des Vorteiles teilhaftig werden sollen, nach Asien kommandiert zu werden. Ähnlich hat die diplomatische Tätigkeit, die während der Krönungsfeste in Russland völlig zu feiern schien, für die chinesischen Angelegenheiten genügend Zeit und Fleiß gefunden. Li-Hung-Tschang [(*15.Februar 1823 in Qunzhi - † 7.November 1901 in Peking) war ein chinesischer General, der mehrere größere Rebellionen beendete, und ein führender Staatsmann des China der Qing-Dynastie] war der Mittelpunkt der bezüglichen Konferenzen. Die Verhandlungen mit ihm werden als sehr schwer zu führen geschildert. Die dithyrambische [begeisterte] Art der Chinesen, die den gleichen Ton von einem europäischen Mittelsmanne beansprucht, die absichtliche Finesse, große und kleine, öffentliche und private Fragen im Gespräche zu verwerten und scheinbar regellos ineinander spielen zu lassen, um von dem Gegenstande abzulenken und Zeit zu gewinnen, die Sucht, die Unkenntnis der Verhältnisse und Sprache für diesen Verhandlungsstil in allen möglichen Formen auszubeuten — all das gestaltet eine Konferenz mit dem aalglatten, wenn auch geistig überschätzten „Bismarck Chinas“ nicht leicht. Ernste Beratungen mit ihm dauern regelmäßig sechs bis acht Stunden, ohne wesentlich vorwärts zu kommen. Er tut offenbar das Möglichste, um für China die diplomatische Kunst des Sultans nachzuahmen, der in Konstantinopel voll orientalischer Schlauheit mit einem Machteinfluss gegen den andern spielt und dadurch vor einem Jahre, da die Welt seine Herrschaft nur mehr nach Tagen berechnete, die europäische Diplomatie sehr geschickt an der Nase führen konnte. Er hatte vielleicht nur Erfolg, weil hinter der Szene ein mächtiger Protektor stand — Russland; Li-Hung-Tschang würde sein Spiel unbedingt verlieren, wenn er die hier so nachdrücklich betonte „Interessengemeinschaft Chinas und Russlands“ einmal nicht anerkennen wollte. Für den, der ihn hier sah und dann die Zeitungsberichte über seinen Empfang in Deutschland las, war es sehr lehrreich, die Art der Aufnahme zu vergleichen, die er an beiden Orten fand. Das größere Entgegenkommen war jedenfalls in Berlin. Er ward dort mehr als ein Ebenbürtiger, als ein in seinen Entschließungen völlig freier Mann behandelt. Man überschüttete ihn auch hier mit Auszeichnungen; Glanz und Ehren umgaben ihn auch in Moskau, Petersburg und Nischni-Nowgorod, aber man hielt ihn trotzdem in einer gewissen achtungsvollen Entfernung; Audienzen beim Zar, bei den Ministers wurden ihm wie eine Gnade nach langem Haaren, nicht wie ein ihm zustehendes Recht gewährt; ohne daß er es ahnte, klirrte ein Kettchen an seinem Fuße: goldig schimmernd, fein und zart in den Gliedern — aber doch ein Kettchen. Man versteht es hier, mit solcher Methode bei den „Herren des Orients“ zu erreichen, was man will. In dieser Kunst liegt eines der Geheimnisse der seltenen Ausdehnungsfähigkeit Russlands. Li-Hung-Tschang versuchte zweifelsohne, sich der freundnachbarlichen Umarmung zu entziehen. Als er in Berlin sein diplomatisches Spiel einleitete, spottete der geistreiche, feuilletonistisch angehauchte Leitartikler der Nowoje Wremja, Herr Suworin, weil Li-Hung-Tschang von der deutschen Armee als ersten sprach: „Ist für China nicht die Armee Japans die erste?“ Die Ironie war sehr im Sinne der hiesigen maßgebenden Kreise. Sie sind seither beruhigt; auch Li-Hung-Tschang hat abgewiegelt, er ist erinnert worden, daß man in Peking nichts mehr fürchtet, als Verstimmungen in Petersburg.

Die Abmachungen, die Li-Hung-Tschang hier getroffen, waren meist wirtschaftlicher Natur. Sie bedürfen alle noch der Pekinger Ratifikation. Dieser Vorbehalt betrifft auch die Konzessionierung eines Bahnnetzes für die Mandschurei. Es war nicht leicht, die Zustimmung des chinesischen Unterhändlers hiefür zu erlangen. Er sträubte sich anfangs heftig. „Eine Bahn, das ist dem Wesen Chinas zuwider, das ist das Grab der Dynastie“ wehklagte er. Später schien er selbst überzeugt, daß die Gefahr minder groß als der Vorteil sei. Die bezüglichen Verhandlungen hat der Finanzminister, unterstützt von den hervorragendsten Vertretern der Bankwelt, geführt, die mit kühnem Unternehmungsgeiste dem Vorteile des Staates zu dienen suchen. Die chinesisch-russische Bank, deren Präsident Fürst Uchtomski ist, erhielt die Vorkonzession für das zukünftige Bahnnetz. Man glaubt — vielleicht zu sanguinisch — daß die definitive Bewilligung für den Bau noch in diesem Jahre erfolgen wird.

Diese Bahn hat Peking als Zielpunkt; sie soll an Mukden, der Hauptstadt der Mandschurei, in östlicher Richtung vorübergehen, da diese als Wallfahrtsort von Europäern nicht betreten werden darf; im Norden soll sich die Linie an die Wladiwostok-Parafskaja-Thalstrecke der sibirischen Bahn anschließen; sie wird sonach einen der wichtigsten Häfen des russischen Grenzgebietes mit China verbinden; eine weitere Abzweigung soll Port-Arthur und die lianschanssche Halbinsel gewinnen; auch diese Strecke wird einen Anschluß an die sibirische Bahn erhalten. Beide Linien dürften erst in einem späteren Zeitpunkte in Angriff genommen werden; am raschesten will man den nördlichsten Teil des projektierten Netzes bauen, der einen verhältnismäßig kleinen Gebietsteil Chinas berührt. Er vereinigt Transbaikalien mit dem Uffuri-Gebiete und wird die baikalischen Reichtümer der Amur-Gegend wie der nördlichen Mandschurei der Welt erschließen. Gewiß sind bis dahin noch große Schwierigkeiten zu besiegen, aber es ist doch bezeichnend für den Ernst, mit dem diesmal an die Ausführung des großen Planes geschritten wird, daß die Vorverhandlungen alle Fragen der Kapitalbeschaffung, des Betriebes, ja selbst die Sicherstellung des Baues schon sehr eingehend erörtert haben. Die nötige Anleihe wollen Russland und China garantieren, der Bahnbetrieb soll durch russische Beamte und ausgediente Unteroffiziere erfolgen, die Abneigung der Chinesen gegen fremde Bauunternehmungen soll durch deutsche Kosaken in Schach gehalten werden, die mit ihren Familien an der Trasse der zukünftigen Bahn ihren Wohnsitz nehmen werden.

Fürst Lobanow war in seiner ministeriellen Tätigkeit von einem Stabe tüchtiger Kräfte unterstützt; den Gehilfen seines Vorgängers, Herrn Schischkin, schob er respektvoll bei Seite. Er beließ ihm die Würde eines Towarischtsch, eines nominellen „Mitarbeiters“ — Arbeit gab er ihm keine. War Lobanow abwesend, dann trat der Towarischtsch kraft seiner Amtsbefugnisse als sein Stellvertreter ein, zur Zeit der Anwesenheit des Fürsten blieb Schischkin vereinsamt auf seinem Bureau. Schischkin wie Lobanow ahnten nicht, daß eine höhere Macht sehr bald einen von ihnen vom Platze räumen, den andern die Stufen des Glückes emporführen werde. Schischkin, ein alter Herr, wenn auch kein Greis wie Lobanow, war ein persönlicher Freund und treuer Schüler Giers'; er begann gleich ihm seine Karriere unter den Augen Gortschakows, gleich ihm hat er Phantasie, Originalität nie besessen; er ist ein vorsichtiger, ängstlicher Bureaumann, ein Tschinownik, der sein Amt peinlich in Ordnung hält, er schreibt einen guten Depeschenstil und hat eine sichere Witterung für herrschende Richtungen. Halb Diplomat, halb Höfling weiß er den führenden Elementen klug zu folgen; die imponierende Kraft der leitenden Begabung geht ihm ab, er ist für eine hohe zweite Stellung, für den Towarischtsch wie geboren; in der Tat hatte er bisher nur einmal einen selbständigen Wirkungskreis, als Gesandter in Stockholm, ein Posten, der an Talent, Initiative und rascher Entscheidungsfähigkeit keine hohen Ansprüche stellt. Wie dem auch sei — Lobanows Ratgeber war Schischkin nicht — die Vertrauten des verstorbenen Ministers waren Fürst Obolenski und Graf Kapnist. Jener hatte mit dem Towarischtsch den ermüdenden Dienst diplomatischer Empfänge zu teilen und seine Kenntnis von Personen und Verhältnissen, seine literarische Bildung befähigten ihn hiezu.

Graf Demeter Kapnist, der Bruder des Wiener Botschafters, ist Leiter des asiatischen Departements, in dem früher auch Schischkin und ein anderer Ministerkandidat, Sinowjew, saßen. In die Kompetenz dieses Departements gehören die Fragen des Balkans; die Türkei wie die Staaten, die auf ihrem Boden durch Russlands Hilfe geschaffen wurden, sind für dieses noch Asien.

Graf Kapnist ist kein Bureaukrat in gewöhnlichem Sinne. Er ist von starken politischen Überzeugungen; als er die Irrtümer der Politik erkannte, die Herr von Giers mit seinem Namen deckte, nahm er einen zeitweisen Abschied, um sich in die Einsamkeit seiner Güter zurückzuziehen.

Das Ministerium unterhält keine Beziehungen zu den Vertretern der öffentlichen Meinung; ein Preßbureau in modernem europäischen Sinne besitzt es nicht; man glaubt sich beider alten Art besser zu befinden, die sich in ein dunkles Geheimnis hüllt und die schreibende Welt nach Belieben urteilen läßt; nur einem zufalle danke ich die nachfolgende, aus dem Kreise der intimsten Freunde Lobanows stammende Darstellung über die Grundzüge der äußern Politik desselben. Sie verdient auch nach dessen Tode Beachtung. In Russland ist das Verhältnis zu dem Auslande eine Folge langjähriger Traditionen und Stimmungen. Sie pflegen nicht rasch zu wechseln; der Nachfolger im Ministerium vermag nicht umzustürzen, was sein Vorgänger einleitete und vorbereitete. Die Bahnen und Ziele desselben bleiben noch lange nach seinem Wirken maßgebend.

„Der größte Vorzug des Fürsten Lobanow,“ sagt mein Gewährsmann, „war die Gleichmäßigkeit seines Urteils. Er schwankte nicht von einer Anschauung zur andern, er blieb sich und seinen Prinzipien treu. Er zählte noch zu den Politikern, die in einem entsprechenden Gleichgewichte der großen europäischen Staatsmächte eine Garantie für den Frieden sehen, den mit erhalten zu können sein aufrichtigstes Bestreben war. Er fand deshalb mit Genugtuung, daß die Spannungen zwischen den großen Staaten nachlassen, und freute sich in Erinnerung an die schöne Zeit, die er in Wien verlebte, darüber, daß die Beziehungen zwischen Russland und Österreich äußerlich bessere wurden und weniger Schwierigkeiten zeigten als früher. Er hatte Freunde in Österreich und wollte, daß sein Verhältnis zu ihnen aufrecht bliebe. Seine Friedenspolitik konnte dazu nur beitragen. Auch der Presse mutete er eine Rolle bei den Bestrebungen zu Gunsten derselben zu. „Im politischen Leben aller Staaten lagert Zündstoff, pflegte er zu sagen.“ Dadurch können leicht heikle Fragen auftauchen; eine unterrichtete und wohlwollende Presse kann nun über solche schwierige Momente weghelfen, wenn sie die Arbeit der besonnenen Staatsmänner unterstützt. Dies wäre deshalb von besonderem Werte, weil gerade bei solchen Anlässen Gefühle der Eitelkeit verletzt und Ehrenpunkte der Mächte aufgeworfen werden. Wie leicht läuft da auch ein kaltblütiger Staatsmann, den die besten Intentionen beseelen, Gefahr, nicht nach eigenem Willen handeln zu können! Es ist ein Unglück, daß nun ein Teil der Presse seinen größten Erfolg darin sucht, fortwährend an jene gefährlichen und heiklen Punkte zu rühren. Ohne daß sie es sind, werden — was wieder sehr beklagenswert ist — ähnliche Erörterungen als Regierungs- oder als Meinungen eines Volkes genommen; die Presse der zweiten beteiligten Macht antwortet, und man spielt fortwährend mit Gefahren. Gegen diese Gepflogenheit sollte die Presse in bevorzugter Stellung nicht müde werden, ihr ruhiges Urteil zu bewahren; sie kann dadurch dem Frieden die größten Dienste leisten und mit beitragen, daß die Beziehungen zwischen den europäischen Staaten gute bleiben.“

„Diese Worte Lobanows,“ meint mein Gewährsmann weiter, „sollten nicht ungehört verhallen, denn was will Russland? In erster Reihe den Frieden! Glücklicherweise erstreben die Erhaltung desselben auch die Anderen. Die Bündnisse bewähren ihren Charakter, der auf Erhaltung des Friedens gerichtet ist. Die Entwicklung der jungen Balkanstaaten zeigt nichts, was Besorgnis erregen könnte. Vielleicht verlieren unter solchen Umständen Vorfälle wie die auf Kreta und in Konstantinopel ihren allerschärfsten Stachel. Leicht nehmen kann man sie nicht. Die Lage der christlichen Untertanen im Orient darf nicht gleichgültig aufgefasst werden. Der Sultan ist gewiß von guten Absichten erfüllt; leider werden seine Befehle nur selten ausgeführt. Nun sind Dinge wie die, welche sich im Vorjahre und heuer ereignet haben, von großer Bedeutung. Man denke, wie in Basterdschik Christen zum Übertritt zum Islam gezwungen wurden, deren Rückkehr zu ihrem Glauben erst die Intervention der Konsuln — die Geistlichen waren fortgeschasst — ermöglichte. Die Zahl der Opfer in Kleinasien im letzten Jahre war nach den Aufnahmen der Konsular-Vertreter dreißigtausend — eine erschreckende, fürchterliche Ziffer!

„Wenn sich auch nur annähernd Ähnliches wiederholte — trotz der Bemühungen des Sultans, solchen Zuständen ein Ende zu machen — so müssen die Mächte den schweren Ernst der Lage fühlen. Sie müssen aber, um wirksam vorgehen zu können, zunächst einig sein. Dadurch wird ihr Einfluß wachsen. Sie werden dann erfolgreich einerseits aufständische Elemente zur Ruhe mahnen, andererseits die Pforte mit größtem Nachdrucke an ihre heiligste und im Interesse der Selbsterhaltung gelegene Pflicht erinnern. Denn diese kann und darf niemals glauben, daß das Friedensbedürfnis Europas ihr einen Schutzbrief für die rohe Willkür einzelner gegen den Willen des Sultans handelnder Organe und für die Verfolgung der Christen verleiht. Hoffentlich wird das konsequente Festhalten an diesem System die Wolken doch noch bannen. Bei den Versöhnungsversuchen auf Kreta waren alle Mächte im selben Sinne tätig — auch England, das freilich nur schmollend mitging. Aber es ging mit. Im vorigen Jahre war es auf einem viel gefährlicheren Standpunkte. Es war das Verdienst des Fürsten Lobanow, daß er damals warnend und entschieden dem englischen Irrtume entgegentrat. Nach seiner Meinung gab es keine armenische Frage, weil es geographisch kein Armenien gibt.

„Armenier sind überall in der Türkei. Wäre also die armenische Frage wirklich einmal aufgeworfen, so hieße das die Balkan-Frage! Das ist die Feuersbrunst!“ erklärte er. Nun hört der Orient doch nicht auf, uns zu beängstigen und erfüllt uns mit der Furcht, daß jeden Augenblick eine Hiobspost kommen könne; einmal heißt sie Kreta, ein andermal Aufstand der Drusen, ein drittes Mal Konstantinopel — man muß schon zufrieden sein, daß in Macedonien die Lage sich besserte und vorläufig nichts befürchten läßt.

?Über die sonstigen Fragen der äußeren Politik Russlands wird sehr viel geschrieben und gesprochen. Nicht immer das Richtige. Über die ägyptische zum Beispiel. Wahr ist nur, daß Fürst Lobanow niemals den jetzigen Zustand als einen gesetzlichen anerkannte, daß er gegen die Geldentnahme für einen Eroberungszug protestierte. Zu seiner Genugtuung haben die Gerichte für seine Meinung entschieden, und zwar durch Richter, unter denen Vertreter jener Nationen sind, die in dieser Angelegenheit nicht mit Russland gingen. Der kriegerischen Aktion der Engländer folgte dieses mit größter Aufmerksamkeit. Sie selbst werden am besten wissen, ob die Zahl ihrer Truppen dem Kriegszwecke und den bei ähnlichen Anlässen in Afrika gemachten Erfahrungen entspricht.

„Unter den asiatischen Vorfällen zog Korea die größte Aufmerksamkeit auf sich. Man behauptet, der verstorbene Fürst habe mit Japan einen neuen Räumungsvertrag geschlossen. Was sollte ein solcher? Die Unabhängigkeit Koreas ist in dem Friedensvertrage zwischen China und Japan bereits an erster Stelle stipuliert. Leider geschah seither ebenso unerwartetes als Bedauerliches. Die Königin wurde ermordet — wie es im Lande heißt, von Anhängern der Japaner. Diese Königin war eine nicht gewöhnlich veranlagte Natur, eine temperamentvolle Herrscherin in der Farbe des von der Kultur völlig unberührten Orients. Vor elf Jahren verließ sie während einer Revolution das Land. Sie selbst verbreitete damals das Gerücht, ihre Feinde hätten sie erschlagen. Ihre Gegner legten nun zufrieden und ruhig die Hände in den Schoß; währenddessen erschien sie an der Spitze eines neugebildeten Heeres und siegte! Diese Semiramis [Der Name Semiramis, von antiken griechischen Historikern geprägt, bezieht sich auf eine altorientalische Heldin oder Königin] des Ostens ist eine Art mythische Figur geworden. Man glaubt nicht, daß sie tot ist; man glaubt, sie bereite insgeheim wieder eine Überraschung vor, aber sie ist wirklich ermordet, und zwar auf die schrecklichste und grausamste Weise. Seither zittert ihr weibischer Mann für sein Leben. Er verweilt ängstlich bebend in seinem Plast, den er nie verlässt, er beschränkt sich mißtrauisch auf zwei Zimmer desselben; eines bewohnt er, das zweite — sein Harem, im Kabinett daneben weilen die Minister; sie dürfen auf Befehl ihres Herrn nicht von seiner Seite. Er hat russische Matrosen zu seinem Schutze herbeigerufen. Dreiundfünfzig Mann bleiben fortwährend im Palais. Auf dem Dache desselben weht unsere Fahne. Würde sie entfernt, so wäre das Signal des Aufruhrs gegeben. Das ist gewiß eine ernste Lage; Russland wünscht, daß sie sich bessere, ohne zu wissen, wie die Besserung eigentlich erfolgen könne.

„In Persien hat sich die Lage günstiger gestaltet. Nach dem unglücklichen Ende des ermordeten Schah ging England mit Russland. Die Ordnung blieb infolgedessen aufrecht. Der Großvezier Ali Aschar Khan ist wohlgesinnt, tüchtig und energisch. Musaffer-Eddin Schah, der neue Herr, will das Beste — sogar Reformen, aber Reformen in Persien! An sie ist noch schwerer zu glauben, als an Reformen auf irgend einem andern Punkte des Orients. Leider weist auch hier das Bild dunkle Punkte auf — der Schah ist krank, dasselbe unheilbare Übel, das Alexander III. niederwarf, eine Herz- und Nierenkrankheit peinigt ihn.

„Überall also ein ernster Hintergrund. Das hinderte Lobanow nicht, hoffnungsvoll in die Zukunft zu blicken. Er glaubte sicher, daß der Friede zu erhalten sei, und daß wir unsere inneren wirtschaftlichen Fragen, welche die öffentliche Meinung jetzt so lebhaft diskutiert, in Ruhe und zum Wohle des Reiches werden lösen können.“

Wie in den ministeriellen Kreisen, denen diese Mitteilungen entstammen, begegnet man überall in Russland freundlichen Äußerungen für Österreich. Niemand täuscht sich über die inneren Gegensätze, welche die Auffassungen dieses Staates von denen Russlands im Orient trennen, auch die Hegemonie der Polen in Cisleithanien erweckt großes Misstrauen, trotzdem bescheidet man sich und will vieles nicht sehen, was entfremden und die guten Beziehungen stören muß. Man würde hier gern Österreich die vermittelnde Rolle im Dreibund einnehmen sehen, die gute Beziehungen zu Russland und Frankreich erhält. Österreich ist populärer als Deutschland und ungleich beliebter als England, gegen das eine scharfe Stimmung in der Höhe und Tiefe, bei der Regierung und in der Bevölkerung weht, aber den Sympathien für Land und Volk in Österreich ist der Eindruck abträglich, den die Entwicklung seiner inneren Verhältnisse macht. Er ist höchst unerfreulich und erst im Auslande erkennt man ihre schwere Bedeutung. Der Österreicher, in der Heimat schon apathisch und gleichgültig geworden für die niedrigen Erfolge des „kleinen Mannes“, — klein an Fähigkeit, klein an Wissen, klein auch an Charakter — fühlt sich in der Fremde wehmütig selbst als sehr kleiner Mann, wenn er die Wirkung der Wirren seines Vaterlandes sieht. Zweifellos seit den Unglückstagen auf den italienischen und böhmischen Schlachtfeldern hat kein Ereignis dem Ansehen, der Würde, der Bedeutung Österreichs dermaßen geschadet, wie der Skandal, der sich an das Treiben der Wiener Ultramontanen knüpft — die von oben und unten gefördert so kühn Haupt und Wort erheben.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland - Momentaufnahmen