Die Katastrophe auf dem Chodinkafelde. — Ihre Ursachen.

Geist und Wirksamkeit der alten Polizei, die ihr Gegenbild in dem Walten der Petersburger Sicherheitsbehörde finden, haben während der Krönungstage die erschreckendste Illustration erfahren; auf den Glanz ihrer Feste fiel als ein schwerer Schatten die Chodinkakatastrophe. Hoch und nieder standen unter ihrem Eindrucke.

„Wir haben mitten im Glück das Gefühl einer verlorenen Schlacht“ meinte ein Offizier aus der Umgebung des Zaren, der selbst tiefbewegt und erschüttert nach den Ursachen des Unglücks zu forschen befahl Die Untersuchung, die man später führte, war ernst, der kaiserliche Ukas, der als ihre Folge erschien, wies, ohne Rücksicht auf einen der Schuldtragenden zu nehmen, mit zornigem Finger auf „die Behörden von Moskau“ als die Ursache des Unheils. So ist Chodinka zu einer historischen Bedeutung gelangt. An der Schwelle des zwanzigsten Jahrhunderts erkennt das heutige Russland die Gefahr einer von veralteten Prinzipien beherrschten Verwaltung, die dem Bedürfnisse des Staates nicht entspricht.


Aber wie war dieses Ereignis, in dem so entsetzliche Kontraste ineinander spielten, möglich?

Vielleicht erteilen auf diese Frage folgende Tagebuchblätter Antwort, die nach der Katastrophe, die wir schaudernd miterlebt, flüchtig und skizzenhaft zu Papier gebracht, die Bilder von damals festzuhalten streben.

Sie lauten:

Moskau, 31. Mai. 3 Uhr morgens.
Das gestrige Volksfest im Petrowskipark sollte den ganzen Tag dauern. Seinen Höhepunkt hatte das Erscheinen des Kaisers zu bilden, das für zwei Uhr mittags bestimmt war. Vormittags war das Volk mit kleinen Geschenken, Bier und Brot, zu beteilen. Für den Nachmittag entwarf ein erfindungsreicher Kopf, der Theaterdirektor von Tiflis, ein Vergnügungsprogramm, das der Menge freie Bewirtung und die verschiedensten Feste, panem et circenses, bot.

Gegen acht Uhr morgens war auf der Straße zum Park noch nichts Auffälliges. Große Wagen der Gesellschaft vom Roten Kreuze fuhren allerdings geschäftig hin und her, dies war beim Einzüge des Zars gleichfalls zu beobachten — auch die Feuerwehr rückte — man konnte dies glauben — wohl nur zur Vorsicht aus. Zudem sah man ihre Spritzenwagen, als gäbe es keine Sorge außer der, welche die Annehmlichkeiten des Festplatzes bereitet, die staubige Straße unaufhörlich mit Wasser besprengen. Vor den kleinen Buden auf dem Chodinkafelde, welche die Volksgeschenke bargen, schien sich die Verteilung für das Volk fortzusetzen. Man sah dichte Menschenmassen davor, und Kosaken hielten den Zugang in Ordnung.

Diese Wache ist offenbar dringend notwendig. Der Gegensatz von Arm und Reich, dies Merkmal großer Städte, fehlt auch in Moskau nicht, um ihn zu mildern und der Armen nicht zu vergessen, werden während der Krönungszeit in den Klöstern täglich zehntausend Menschen gespeist. Sie erhalten die Nahrung und dürfen das Geschirr, worin sie ihnen gereicht wird, mitnehmen.

Der gestrige Tag sollte den Armen noch ausgiebiger gehören; das Volksfest galt als förmlicher Feiertag. Alle Läden waren geschlossen. Selbst die Restaurants, namentlich die in der Nähe der Kirchen gelegenen, sperrten zu. Seit Sonnenaufgang war eine förmliche Volkswanderung nach dem Petrowskipark. Um acht Uhr erscheinen die Straßen schwer passierbar. Bauern, Leute aus den kleinen Städten zogen in starken Abteilungen ganz militärisch nach dem Festplatze. Ein Hofbeamter begleitete sie; sie trugen die bekannte Bauerntracht, den langen Rock, die Kappe der polnischen Juden. Ihre Physiognomie ist die echt russische mit rundgeschnittenem Haar und Bart, malerische Gesichter unter ihnen, besonders die der Flachsblonden und die der Rotköpfe. Auf der einen Seite der Straße wallten die Züge zu dem Chodinkafeld, auf der andern kehrten schon Tausende zurück; sie halten die Becher und die Speisung, die sie bekommen, wie Trophäen in den Händen. Diese Rückkehrenden gehören alle der ärmeren Klasse an; sie stecken in schlechter Winterkleidung, in Lammspelzen, welche die Spuren langen Gebrauches zeigen. Sie starren vor Schmutz, auch die Frauen machen keine Ausnahme hiervon, sie tragen lange, zum Boden reichende Oberkleider, der Glaube ihrer Sekte verbietet ihnen Fuß und Wade zu zeigen. Ihre Kinder schleppen sie auf Achseln und Rücken in rote Deckenfetzen eingehüllt. Je näher dem Festplatze, desto größer wird das Gedränge. Der Wagenverkehr stockt.

Hohe Polizeibeamte lösen das Gewirr der Gefährte. Es sind prächtige und ärmliche Troikas unter ihnen, auch Bauernwagen, die Militärmusiken transportieren. All das strebt zur Chodinka, der gegenüber die Villen der Reichen mit Blumen und Fahnen geschmückt sind, die träge in der windstillen Lust herabhängen.

Die Eisenbahnzüge bringen fortwährend neue Festteilnehmer. Aller Sehnsucht strebt zu einem Punkte, wo die Beiteilung und Brotspeisung erfolgt, die für einen Tag reiche Sättigung des Magens, der sonst oft vergeblich ruft, gemährt. Es ist natürlich, daß dies Hunderttausende anlockt. Das Paradies für Einen Tag: Brot und Spiel! Beides winkt heute reichlich!

Die Vorbereitungen für das Letztere sind überall sichtbar, um zwei Uhr soll der Zar kommen. Jetzt eilen schon die Sänger herbei, ihn zu grüßen. Er wird mit der Jubelhymne aus Glinkas [Michail G.(1804-1857) war ein bedeutender russischer Komponist]„Das Leben für den Zar“ bewillkommnet werden, den Effekt ihrer Schlussakkorde gedenkt man durch eine Salve aus hundert Kanonen zu erhöhen.

Auf den Chausseeabhängen in der Nähe der Eisenbahn lagern unzählige Menschen. Wie sie lautlos in die Lust blicken, erinnern sie an die Bewohner des Orients, die ihre Freude still und ruhig genießen.

Erst viel später erfahren wir, daß die langen Züge von Menschen, die sich scheinbar in großer Ruhe und Gleichgültigkeit von dem Unglücksplatze zur Stadt zurück bewegen, an einer förmlichen Schlacht teilnahmen. Sie hatten äußerlich so wenig Auffälliges gezeigt als die Gruppen im Wäldchen des Parkes, die sich unter schattigen Bäumen gebildet hatten. All diese Menschen betrachteten wie glücklich die Päckchen, die sie in den Händen hielten. Die Hülle derselben, ein gelbliches Schnupftuch mit dem Kremlbild; in dem Tuche der weißemaillierte Becher mit dem Monogramme des Kaiserpaares, eine Wurst, ein Sack mit Nüssen. Mandeln, Johannisbrot und kleineren Süßigkeiten, ein Stück Pumpernickel mit der Inschrift „Krönung 1896“ und ein Büchlein in buntfarbigem Umschlag, das die Bedeutung der Krönung schildert. Außerdem hatten die Leute noch Brot erhalten, das man von Hunderten gierig verspeisen sah. Der Schrecken, unter dem sie es gewannen, hatte ihnen den Hunger nicht verschlagen.

Nach neun Uhr tauchten in der Stadt die ersten Gerüchte von einer Katastrophe auf dem Chodinkafelde auf. „Telle était la foule, qu'on a écrasé le monde,“ erzählte eine junge Dame in unserm Hotel, die aus einer Datsche des Petrowskiparkes zurückkehrte. Man glaubte ihr nicht. Auch nach der Illumination wurde behauptet, Leute seien erdrückt worden, schließlich hat sich herausgestellt, daß kein wahres Wort daran war.

Ich kehre zum Chodinkafelde, bis zu dem ich früher nicht gedrungen war, zurück. Anfangs sieht man noch immer nichts ungewöhnliches, auch bei den kleinen Geschenkbuden nicht, die zum Festplatze gehören, aber doch in weiter Entfernung von dessen Mittelpunkt liegen. Bei der ungeheuren Ausdehnung des Terrains ist es nicht leicht, zu ihnen zu gelangen, doch weiß man bald, daß hinter der glänzenden Ausführung des Festprogramms, die eben begonnen hat, ungewöhnliches, Trauriges und Schreckliches steckt. Die offiziellen Personen geben zu, daß sich ein großer Unglücksfall ereignete, nähere Details fehlen. Genaues kann nur der Polizeimeister sagen. Er ist nicht zu finden. Das Gerücht tritt mit immer heftigeren Übertreibungen auf. Man spricht von Dingen, die unmöglich klingen. Es ist kein Zweifel mehr. Orgien des Todes wüteten auf diesem Felde.

In der Hauptallee sieht man unterdes den Großfürsten Wladimir, später den Zar und die Zarin zum Feste fahren. Ein endloser Jubel grüßt sie. Bis zum Eingange der Stadt dringen die stürmischen, begeisterten Hurrarufe, der Kanonenlärm, die Hymne, die von vielen Tausenden gesungen wird. Ich kehre zur Stadt zurück. Ein Offizier der Gardetscherkessen öffnet meinem Wagen den Weg durch die Militärkette. Moskau ist leer, aber auf den kleinen Rasenplätzen der Boulevards, welche die Stadt mit schönem Grün umspannen, lagern Leute, Bauern und Arbeiter, die Zeugen der Szenen des heutigen Morgens gewesen sind.

Auf der Polizei findet mau die Räume, die sonst ein Sammelort hochgestellter und geringer Bittsteller sind, leer. Nur zwei Beamte sind da. Sie geben eine flüchtige, stark abgeschwächte Bestätigung der Vorfälle.

Unterdessen ist das Konzert auf dem Chodinkafelde, dem der Kaiser beiwohnte, zu Ende. Man hört Militärmusik und Kommandorufe — die Truppen kommen zurück, über das Pflaster rasseln die Equipagen der Reichen.

Die Einleitung des Volksfestes war von kürzerer Dauer, als man angenommen hatte. Man wollte nicht absagen, aber man beschränkte die Dauer der Produktionen auf das Nötigste.

Wir eilen in das Bureau, das hier zur Orientierung der Journalisten eingerichtet ist; es füllt sich immer mehr. Eine drückende Atmosphäre verbreitet sich in den Sälen. Niedergeschlagenheit auf allen Minen; der Kälteste, Fremdeste, Hartherzigste kann sich des Gefühls tiefer Teilnahme für das Volk und die Stadt nicht erwehren, die ihr schönstes Fest dermaßen verdüstert sieht. Die französischen Journalisten möchten am liebsten sofort telegraphisch Sammlungen für die Familien der Verunglückten einleiten.

„Wird der Ball bei Montebello, unserem Botschafter, stattfinden?“ forschen sie.

„Auf alle Fragen,“ erklären die Beamten, „können wir vorläufig nicht antworten; eine offizielle Darstellung der Vorgänge, der Größe des Unglücks, der Zahl seiner Opfer wird bald hieher kommen; man wird nichts verheimlichen, sobald nur der Bericht an höchster Stelle erstattet sein wird. Bis dahin ist es wohl geraten, telegraphische Mitteilungen zu unterlassen. In keinem Lande der Welt wird man den Eindruck einer ähnlichen Katastrophe durch die Verbreitung falscher Nachrichten erhöhen lassen.“

Nach dieser Erklärung beginnt eine Zeit des Wartens. Ich gewinne einige Stunden, um auf das Feld des traurigen Ereignisses zurückzukehren.

Auf dem Wege nach der Chodinka begegnet mir ein Wagen, groß, hoch, wie ein Möbelwagen. Er zeigt nicht die geschlossenen Wände, die diese zu haben pflegen, sondern einfache Gitter. Sie sind mit Kotzen und Teppichen behängt, auch der Inhalt des Wagens ist unter Tüchern verborgen.

Ich sah schon vormittags auf dem Wege nach Chodinka ein solches Gefährte, ich ahnte nicht, daß es bis zur Höhe mit Toten angefüllt sei

Unter solchen Eindrücken komme ich zum Felde zurück. Die Pavillons und Tribünen, die wir mittags, als der Kaiser das Konzert anhörte, reich belebt sahen, sind nun verödet. Auch auf dem eigentlichen Platze, wo das große Volksfest sich abspielen sollte, sieht man nicht viele Leute. Es ist für drei Viertelmillionen Menschen berechnet; die wenigen Tausende, die jetzt hieher kommen, verschwinden auf demselben. Nun sieht man erst die Größe dieser weiten Ebene. Sie gibt den Blick meilenweit bis zu einem kleinen Wasserturme, dem Chodinka — frei, der diesen Feldern den Namen gab. Die Chaussee trennt den Festplatz von den Gärten und Ansiedlungen der vernehmen Welt Moskaus.

Meine Wanderung führt zur Begegnung mit einem Wiener, der um neun Uhr vormittags durch Zufall auf das Feld und zu den Buden geraten war.

Die Katastrophe war damals schon lange vorüber.

„Die meisten Buden“, erzählt er, waren ganz leer, nur einzelne von ihnen erschienen dicht gefüllt. In Reihen geordnet, lagen hier, neben einander geschichtet, je fünfzehn bis achtzehn Leichen. Vor dem traurigen Totenhause stand eine Wache, die den Zutritt wehrte. Leute, die gekommen waren, die Leichen Angehöriger zu agnoszieren [die Identität von Toten feststellen], erhielten Durchlass. Mit solchen kam ich in eine Bude. Welcher Anblick! Diese Toten sind nicht Leichen gewöhnlicher Art, sie sind fürchterlich entstellt — ihre Gesichter zertreten, aus ihren Körpern sind Stücke Fleisches herausgerissen, — die Brustkörbe eingedrückt, die Kleider hängen zerfetzt von den starren Gliedern. Lautlos werden diese Menschenreste seit frühester Morgenstunde aufgeladen, auf Wagen geschichtet. Still versehen die Braven vom Roten Kreuze ihre fürchterliche Arbeit. Langsam fahren die Wagen der Feuerwehr mit ihren Totenladungen fort. Männer und Frauen kommen währenddessen unausgesetzt, voll Trauer nachzusehen, ob sie nicht Verwandte in diesem Bereiche des Todes finden. Ich sah eine Fran, die ihren entstellten Mann endlich gefunden hatte. Wohl an fünfzig Leichen hatte sie vorher besichtigt; da nach langem, vergeblichem Suchen erkennt sie den Toten, nachdem sie in banger Sehnsucht forscht. Sie schluchzt, dann hilft sie die Leiche des Mannes hinaustragen, ladet sie auf einen Wagen, setzt sich daneben und fährt weinend fort.“ ...

Wir eilen weiter.

Nach kurzer Zeit gelangen wir zu den hundertvierzig Häuschen oder Buden, welche die Geschenke bargen. Vor denselben sieht man ein Menschengewühl, das von Kosaken bewacht wird; man dringt nur mühsam zu dem Schauplatze des Unglücks. Er macht im Augenblicke noch den Eindruck einer Walstatt nach der Schlacht. Tote und Verwundete sieht man allerdings nicht mehr, der Wagen, dem wir begegneten, war offenbar der letzte, aber auf dem durchwühlten und zerkrampften Boden liegen in chaotischem Durcheinander Zöpfe, Stiesel, Schuhe aus Stroh, Bast und Sassian, zertretene Körbe für Proviant, zerdrückte Blechflaschen, Fragmente von Stöcken und Schirmen, Fetzen von Kleidern, Strümpfen, roten Tüchern und Schürzen, die dem Kostüm der russischen Bauern Farbe geben. Teilweise sind diese Spuren verunglückter Menschen auf Haufen zusammengekehrt, teilweise liegen sie noch da, wie sie der Kampf hingeworfen, aus dem dürren zertretenen Grase unheimlich herausragend. Leute, die aus der Stadt gekommen sind, stehen traurig, wortkarg vor diesen Resten menschlicher Kleidung und Gerätschaften.

Die Ansammlungen verdichten sich vor einem tiefen Brunnen. Man unterließ es, ihn zu verschütten, die Bretter, die ihn notdürftig deckten, wurden durch Menschenhaufen, die darauf gerieten, zerdrückt. „Man holte eben achtundzwanzig Tote heraus“, sagen die Leute — „vielleicht liegen noch welche darin.“

Die Gefahr für die andrängenden Massen wurde durch diesen Brunnen, der seit der letzten französischen Ausstellung besteht, am meisten erhöht, seine grundlose Tiefe forderte unzählige Opfer.

Die kleinen Geschenkbuden sind einfach aus Breitern zusammengeschalt. In ihrem Innern gleichen sie gewöhnlichen Verkaufsstätten. Hinter den Tischen für den Bierausschank war der Platz für die verteilenden Beamten. Einzelne von den Häuschen — etwa drei oder vier — sind zersprengt; die Latten stehen heraus, die Dächer sind eingedrückt. Der freie Raum zwischen ihnen ist nicht groß. Die Häuser sollten gleichzeitig als Wall gegen den Andrang des Volkes dienen. Nun hatte man zwischen ihnen einen Einlass gemacht, der, von außen breit, nach innen schmal blieb; man glaubte, je zwei Mann würden aus demselben auf das Feld treten, wo die Beteilung der Leute erfolgen sollte. Die Armen, die hier herein gerieten, konnten nicht vor — nicht zurück. Hinter und vor ihnen war eine lebendige Mauer.

Eine Bierlache in der Nähe der Verteilungshäuser erinnert an den schweren Kampf, der hier gewütet hat; nun wäscht ein graubärtiger Muschik gleichgültig seine Stiefel darin und steht apathisch in die Gruppen neben sich.

Inmitten dieser wechseln fortwährend traurige Bilder; besonders rührend ist ein Bursche mit gutmütigem Gesichtsausdrucke und Tränen in den Augen: „Ich komme zum dreihundertstenmal an diese Stelle“, sagt er schluchzend: „hier habe ich meine Mutter verlassen. Sie kommt nicht zurück! — Sie kommt nicht zurück.“ —

Einige Schritte weiter sollte nachmittags das eigentliche Volksfest seinen Schauplatz haben. Auch dieses ist nicht abgesagt, und Leute — nicht zu viele — kommen wirklich herbei, sich zu vergnügen: Ein paar Soldaten in Kitteln und Neugierige, denen die Verkäufer Fruchtwasser, Kuchen und Slibowitz geräuschvoll anbieten, hüpfen über die tiefen und breiten Gräben des Feldes, die am frühen Morgen die größte Gefahr gebildet hatten. Vor ihnen staute sich die Menge, und in ihren heimtückischen Grund fielen Hunderte und aber Hunderte, bis sie dermaßen angefüllt waren, daß über die Leichen hinweg die Menschenwellen wogen konnten. Das erzählt ein Mann mit gebräuntem Gesichte und einem blondlockigen Kinde auf dem Arme.

„Das Kind war nicht mit!“ — sagt er — „die Mutter hielt es weiter dort auf der Straße. Wir haben kein rechtes Glück gehabt. Ich bekam keinen Becher. Dreißig Werst bin ich hermarschiert und doch keinen Becher!“

In solchen Empfindungen wurzeln die Triebkräfte, welche die Ereignisse auf dem Chodinkafelde schufen.

Andere Leute bieten laut rufend die Becher, die sie schwer erobert, um einen Rubel aus. Fünfzigmal wagten diese Menschen ihr Leben, der Tod berührte sie schon, nur ein Zufall war es, daß er sein Opfer wieder freigegeben, und die Erinnerung an die Not, den Jammer, die Angst und den Schrecken jener Stunde ist ihrem Märtyrer um einen Rubel feil! Gilt das Leben diesen Leuten so wenig oder das Geld so viel?

Wir Schreiten weiter, weiter über ein Feld, auf dem die Fetzen von Kleidungsstücken sich wieder stärker häufen. Hunderte von Hüten und Pelzmützen übereinander liegen und ans der Mitte von zerfetzten. Schmutzigen Kleiderruinen ganz platt getretene Stücke Brotes herausschauen wie eine seltsam berührende Erinnerung an den Kampf um das Dasein, den wir schließlich alle führen — auch die Leute oben auf der Szene eines der Theater, die sich hier zur Volksbelustigung erhoben haben.

Jedes derselben hat drei Bühnen, eine in der Mitte, eine rechts und links. Auf letzterer lockt unbekümmert um die Eindrücke des grauenvollen Tages ein kleinrussischer Schauspieler in seinem bunten Nationalgewand die Anwesenden mit lautem Ruf herbeizukommen; er kündigt in breiter Rede die neuesten Spiele, die neuesten Belustigungen an. Hinter dem Mittelvorhang blicken geschminkte Künstlerinnen in seidenen blauen und grünen Kostümen neugierig heraus, ob wirklich Menschen kommen —

Sie kommen!

Nur wenige von ihnen ahnen, in welch fürchterlichem Zusammenhange das Bild des großen Vorhanges dieser Bühne mit den Ereignissen des Tages steht. Die bunte Leinwand erzählt die Sage, daß, wer sich dem Grabe Askols, des Helden der russischen Volksmythe, nähere, plötzlich dessen knöchernen Riefenkopf aufsteigen sieht, hinter dem alle Schauer des Todes mächtig rege werden.
Was bedeuten die Schreckensbilder dieser bemalten Gardine mit all ihren Leichen und Gerippen gegen die Todesernte, die heute hier gehalten wurde?

Es gibt Leute, die sie nach wenigen Stunden völlig vergessen haben — jene nämlich, die eben den Hirtenfängern in ihren Pelzen lauschen, und jene, welche die Karussells besteigen, endlich all die Neugierigen, welche der Kunst von Tänzern staunend folgen, die nach alten melancholischen Weisen eine Art Ezardas ausführen.

Nicht die Toten, wie es im Liede heißt, die Lebendigen reiten schnell!

Über die Katastrophe sind die verschiedensten Angaben im Umlaufe.

„Die Artelschtschiks in den Buden“, sagen die einen, „begannen die Verteilung an Leute, die sie bevorzugen wollten, das gab Anlaß zu einem wütenden Vorstoße der Menge, und das Unglück nahm seinen Lauf.“

„Eine Prügelei bei der Brotverteilung trägt Schuld an dem Unheil“ versichern andere. „Viele Hunderte fielen schon beim ersten Ansturme, denn Hunderttausende wollten gleichzeitig bei der Verteilung sein. Die Menschen wurden zu wilden Tieren.“

Eine Teilnehmerin meint, „all das sei anders gewesen“, und sie schildert den Hergang wie folgt:

„Es war etwas später als fünf. Ich hatte mich früh mit meinem Manne angestellt. Wir waren voll Sehnsucht, auch einen Becher zu erhalten. Das Gedränge war sehr groß. Man glaubt, es seien fünfmalhunderttausend Menschen dagewesen. Gestern abends kam nämlich noch eine Masse von Arbeitern aus den benachbarten Fabriken. Die Fabrikanten hatten ihnen Extrazüge gestellt. Vor diesen Leuten haben wir Furcht. Sie sind roh, und selbst Bauern wollen nichts mit ihnen zu tun haben. Darüber sprachen wir in Erwartung der Verteilung mit den Leuten, von denen viele auf dem Felde übernachtet hatten. Plötzlich fühlte ich, daß das Gedränge zu mächtig werde. Die Kette um uns schloß sich immer fester, man konnte sich nicht mehr bewegen.“

„Mir wird schlecht!“ rief ich ängstlich. Ich sah, daß ich nicht mehr einen Schritt machen konnte.“

„Laßt meine Frau zurück“ rief mein Mann, „sie stirbt sonst!“

„Ach was“ — antworteten die Leute, „sie soll nur zu Grunde gehen! Wenn sie herkam, soll sie das auch aushalten“

„Ich sah und hörte nichts mehr und fiel in Ohnmacht. Mein Mann begann wie verrückt um sich zu stoßen und zu drängen. Man hob mich in die Lüfte. Ich gewann mein Bewußtsein wieder und fühlte nur, wie man mich Händen zuwarf, die sich hinter uns erhoben harten. So kam ich in die Richtung, wo das Gedränge endlich geringer war. Man hat mich wie einen Ball mehrmals in die Lust geworfen.“

„Ähnlich ist es vielen anderen auch ergangen. Die Ohnmächtigen suchte man auf diese Weise zu retten, ebenso die Kinder. Ich sah viele von ihnen hinaufheben und über die Schultern und Köpfe der Erwachsenen wegkriechen.“

„Mein Mann war aus dem Knäuel nicht herausgekommen. Ich hatte Todesangst um ihn, umsomehr, als ich fand, daß das Drängen immer größer wurde. Die Leute hatten geglaubt, die Verteilung beginne um acht Uhr. Sie wollten die ersten sein und den Beginn früher erzwingen. Es war ein fortwährendes Rufen und Schreien. Plötzlich schien man mit dem Verschenken der Gaben anzufangen. Die Leute stießen wie Wahnsinnige, wie wildgewordene Tiere vor. Die Artelschtschiks in den Buden wurden förmlich eingekeilt. Sie warfen im Glauben, daß das Gewühl hierdurch kleiner werde, die Geschenkpäckchen in die Menge. Jetzt bückten sich die meisten und fielen, andere stürzten in den unheilvollen Brunnen und in die Gräben. Es war entsetzlich. Die Menschen wurden reihenweise getötet, ganze Familien kamen um. Ein Geschrei und Geheul, wie ich es nie gehört, erhob sich — ein Ruf von vielen Taufenden: Kara?l! Kara?l! Kara?l! (Hilfe! Hilfe! Hilfe!) Die Hilfe kam nicht. Im Gegenteil, eine Strafe Gottes war über uns hereingebrochen. Es gab unzählige Tote. Die Leute umstellten sie und ließen, so weit es anging, ihnen nichts geschehen, sie nicht berühren und nicht auf sie treten. So ist mein Mann gerettet worden. Er legte sich auf einen Toten und fand dann eine Lücke, durch die er davonkommen konnte. Andere standen auf Leichen und konnten trotz ihres Entsetzens nicht vor- und rückwärts. Das Werfen der Päckchen dauerte trotz alledem fort, aber jetzt waren es Leute aus dem Volke, welche in die Buden gedrungen waren und die Sachen herausschleuderten. Die Hintenstehenden wußten vielleicht nicht, was vorgeht; sie drängten immer noch wie wahnsinnig vor. Ohnmächtigen, die bald Tote sein sollten, fielen die Geschenkpäckchen auf den Kopf, und manche Leute in der Nähe kamen so zu vier und fünf Bechern. Die Polizei und die Wache der Kosaken war selbst in Gefahr. Erst das große Unglück schien die Leute nach und nach zur Einsicht zu bringen. Es gab jetzt Menschen, welche zur Ruhe beschworen, — leider viel zu spät. All diese schrecklichen Szenen hatten kaum eine Stunde gedauert. Als die Gefahr am größten war und diese Tausende zu einer großen Kugel zusammengeballt schienen, stieg ein Dampf und Dunst wie aus einem erhitzten Samowar zum Himmel. Der Schweißgeruch wurde unerträglich; man roch ihn noch viele Stunden später.“

„Um sechs Uhr kam Wache und Militär. Es wurde schnell die Ordnung hergestellt. Jetzt erst ging der Jammer los — ein lautes Weinen, Schluchzen und Wehklagen. Kinder suchten ihre Eltern, Eltern ihre Kinder, Männer ihre Frauen, Frauen ihre Männer. Zärtlich, drohend, ängstlich weinend riefen sie die Namen der ihren. Einzelne erzählten, wie sie gerettet worden waren; andere, wie Nachbarn von ihnen verunglückten, die auf ein Dach, auf das Karussell oder auf Wasserfässer gestiegen waren, die einbrachen. Wasser! Wasser! Wie ein Tropfen uns gelabt hätte! In der staubigen, stinkenden Luft klebte unsere Zunge am Gaumen. Wir sahen nur Dinge, die an den Tod erinnerten. Leichen, die man im ärgsten Gedränge nicht mehr schonen konnte, wurden jetzt aus dem Gewühl gebracht. Die Ärmsten gaben etwas von ihrem Gelde her, zwei oder vier Kopeken; man bedeckte die Gesichter der Erdrückten mit diesem Gelde, um die Beerdigungskosten zu decken. Jeder, der beisteuerte, machte das Zeichen des Kreuzes. Man war wieder bei Besinnung und Vernunft, unter den Toten waren reiche Frauen; eine hatte Brillanten, eine andere eine schöne Uhr. Die Leute, die so viel Opfer brachten, um ein Stück Brot und einen Schluck Bier zu bekommen, rührten nichts von ihrem Schmucke an. Der Russe ist gutmütig; — Oh! es ist nur ein Unglück, daß viele Leute sich so vergessen konnten und dies Unheil schufen“

Eine Stunde, nachdem ich diese erschütternden Schilderungen hörte, bin ich wieder in den Räumen unseres Journalisten-Klubs. Ich komme eben gegen halb zehn Uhr zurecht, um die Verlesung des Schreibens des Staatsministeriums an den Kaiser zu hören, das die erste offizielle Darstellung gibt. Wie die Mitteilung von dem hochherzigen Entschlüsse des Zaren kommt, jede Familie der Verunglückten mit tausend Rubeln zu beschenken, bricht ein stürmischer Hurra-Ruf los. Die alten und jungen Journalisten bringen es aus — Schriftsteller aller Parteien, auch solche, denen vor einigen Jahren ihre Zeitungen unterdrückt wurden. Der Kaiser ist populär, und sein gutes Herz hat schon oft Beweise der Mildtätigkeit gegeben. Der Entschluß, der uns eben verkündet wird, dürfte ihn bei zwei Millionen kosten, die er, wie alle Überschreitungen der Krönungskosten, aus seiner Privatschatulle zahlt.

Bei dieser Denkweise ist es natürlich, daß sofort das Gerücht entstand, der Zar werde den Ball beim französischen Botschafter Grafen Montebello nicht besuchen. Die Politik erwies sich mächtiger als die Wünsche des Herzens. Russland ist groß; man war nicht immer gewohnt, die volle Wahrheit nach einem Unglücke zu sagen. Man fürchtete, eine Absage könne in dem weiten Reichsgebiete eine falsche Auslegung erfahren und die Katastrophe schrecklicher erscheinen lassen, als sie ohnehin gewesen.

Man ist nie schwereren Herzens auf eine Soiree gegangen. Es ist natürlich, daß man verspätet kommt und, daß die Eröffnung sich verzögert. Auch wir armen, sonst so pünktlichen Journalisten treffen erst um halb elf Uhr ein.

Schon an der Schwelle in dem Vorsaale der Botschaft erwartet uns ein Aufwand, der dem Eindrucke des Tages höhnisch widerspricht: Teppiche, Blumen, ein betäubender Duft fremder Prachtgewächse und der warme Hauch von Flieder, Maiglöckchen und Rosen. Man ruft die Namen der Kommenden aus.

„Vous savez,“ hört man eine schnarrende Höflingsstimme aus diesen gleichmäßigen Tönen. „Vous savez la duchesse a retrouvé ses brillants. Elle est heureuse!“

In der Tat. Die Glückliche! Sie verlor nur, was wiederzufinden war. Die Armen draußen auf dem Felde der Chodinka hatten nichts als Eines zu eigen — ihr Leben. Das ist dahin für immer.

Der Hof ist schon da. Der Zar folgt in Ulanen-Uniform an der Seite seiner Gemahlin dem Tanze im großen Marmorsaale. Die erste Quadrille und eine Polka-Mazurka macht das Kaiserpaar mit. Die Gleichheit der Republik herrscht in der Tat in diesen Räumen. Eine deutsche Schriftstellerin, Fräulein Schabelski, dreht sich bei der Mazurka mit dem Chic der früheren Schauspielerin anmutig neben der Zarin im Kreise.

Der Tanz macht die Gesellschaft nicht frohgemut, auch den Zar nicht. Ein melancholischer Hauch liegt über seinem Antlitze, ein echtes, inniges Weh. Es erinnert an das Ereignis des Tages. Immer wieder drängt sich dieses hervor. Es blickt aus den Ecken und Winkeln eines prächtigen Milieu, es ist in aller Munde, in aller Augen.

Erst nach und nach gewinnt die Gegenwart ihr Recht. Man fängt an, Anteil zu nehmen an dem auserlesenen Geschmacke, mit dem dies Haus geschmückt ist — mit seinen lauschigen Buenretiros und Plauderwinkelchen, seinen Fontainen, die elektrisches Licht in bunten Farben glitzern läßt, seinen feenhaften Tanz- und Speisesälen, zu deren hohen Fenstern die Lampions des Gartens wie glühende Augen herübersehen.

Der Pariser Salon scheint nach Moskau übertragen, mit ihm Pariser Geist, Pariser Gesellschaften und Pariser Sinn für Feinheit der Toilette. All das gruppiert sich um die Koryphäen der politischen Kreise einer internationalen Welt.

Um zwei Uhr, nach dem Souper, verlässt der Kaiser den Ball. Wir benützen die erste Stunde nach demselben, um die Erinnerungen des stürmisch-bewegten Tages zu Papier zu werken.

31. Mai, vormittags.

Eine halbe Stunde von dem Unglücksfelde liegt der Waganka-Friedhof, eine jener bildschönen, baumbepflanzten Friedensstätten, die dem Besucher Moskaus bei der Einfahrt in die Stadt auffallen. Er ist seit gestern in aller Munde. Hieher wurden die Leichen nach der Katastrophe gebracht und auf dem weiten Acker nebeneinander gelegt. Hier werden morgen alle jene bestattet, deren Angehörige sich noch nicht gemeldet haben. Aus den unteren Volksschichten wallen heute Massenzüge zu dem Friedhofe: Männer, Frauen mit ihren Kindern am Arme, Jung und Alt. Diesmal wurden sehr umfassende Vorsichtsmaßregeln getroffen. Ein Regiment Infanterie liegt vor dem Friedhofe, er ist auch in seinem Innern militärisch stark besetzt, Wachen stehen, an die Grabgitter gelehnt, auf den Kreuzungspunkten der Hauptwege.

Das Bild der traurigen Folgen des gestrigen Verhängnisses — hier sieht man es in vollen Zügen. Sein Eindruck legt sich beklemmend auf die Brust. Den Eingang zum Friedhof bildet ein Garten, reich an Büschen und Bäumen. Der ganze Apparat des Todes ist hier tätig: Verkäufer geweihter Kerzen, Totengräber, Geistliche im Ornate, Lieferanten von Särgen, die aus Moskau und der Umgebung herbeikommen. Die Särge sind einfach glatt gehobelt, sie werden bald von vier, bald nur von zwei Leuten, manchmal von Frauen getragen, die es sich nicht nehmen lassen, die letzten Überreste ihrer Männer selbst an ihre Ruhestätte zu bringen. Ab und zu erscheinen auch Kindersärge, in weiße oder blaue Seide gehüllt, die eine Mutter oder Schwester schluchzend herbeischleppt. Die Träger wandern alle über den Friedhof zu dem großen Felde auf der Höhe. Kein Scharten der Bäume breitet sich schützend darüber, offen liegt es vor den Strahlen der Sonne da . . .

Hier ruhen die meisten Opfer von gestern — paarweise, wie es der Assoziationstrieb der Russen auch für diese Stätte verlangt. Viele Leichen liegen auf Brettern, viele auf bloßer Erde, mit einem Leinentuch bedeckt, das Haupt frei. Es sind meist Männer mit blonden oder dunkelbraunen Köpfen, mit einer dichten Erdkruste bedeckt, oder blaurot die Spuren des Starrkrampfes zeigend, der in Erstickungsfällen eintritt. Während sie still ausgestreckt, die Hände über die Brust gekreuzt, daliegen, sind die Lebenden um sie her um so lauter. Sie weinen, klagen, jammern und halten ihr Schnupftuch vor die Nase, um den penetranten Geruch abzuwehren. Ihr Schmerz nimmt ergreifende Formen an. In dem Schluchzen und konvulsivischen Lachen, in dem singenden Weh eines Weibes sind die tragischsten Akzente lebendig. Ophelia [weiblichen Figur aus William Shakespeares Tragödie Hamlet] steht im Bauernrocke vor uns.

Und die Menschen, welche der Tod hingestreckt und welche die Opfer einer naiven Neugier und einer kindlichen Sucht nach Besitz wurden, zeigen auch jetzt noch in ihren entstellten Gesichtern die Gutmütigkeit des rassischen Typus.

Die Armen hätten ein besseres Los verdient!

Neben diesen Toten sind zahlreiche Hände lebendig, um drei Massengräber fertig zu machen. Man hört ihre Axt den Boden lockern, man hört, wie die Särge unablässig genagelt werden, hört, wie eine gleichmäßige Stimme das Aufkleben eines Zettels gebietet, der die agnoszierten Leichen erkenntlich macht; hört endlich, wie unter Diakonensang die Gräber ihre letzte Weihe erhalten.

Es ist eine Musik des Grabes, die Herz und Nerven zerreißt — kein fröhlicher oder freundlicher Laut. Nur hie und da, wie zum Trost, eine helle Kinderstimme oder eine Drossel, die, unbekümmert um Menschenleid und Menschenelend, ihr Lied zum Himmel schmettert. — —

Russland ist das Land der Gegensätze. Einige hundert Schritt von diesem Friedhofe ist ein Feld, wo Bauern singend, lachend, johlend ein Volksfest abhalten, und in entgegengesetzter Richtung, wieder nur wenige hundert Schritt entfernt, ist der Rennplatz, wo eben heute ein buntbewegtes Turfbild sich entwickelt, wie es nirgends im fashionablen Europa lebendiger möglich ist.

Mittags.

Von den Verwundeten des gestrigen Tages liegen hundertsechsundvierzig im Katharina-Spital, dem städtischen Krankenhause. Die meisten sind im Sommerpavillon im Garten unter-gebracht. Der Kaiser und die Kaiserin erschienen da selbst zu Besuch. Einzelne Kranke sind noch besinnungslos. An alle anderen richtete das Zarenpaar tröstende Worte. Es gab rührende Szenen; viele weinten. Der Kaiser blieb länger als eine Stunde. Die Kaiserin-Mutter schickte jedem Verwundeten eine Flasche Madeira.

Nachmittags.

Unter den vielen guten russischen Berichterstattern ist eine der originellsten Figuren ein stämmiger Donkosak, der als Redakteur einer Sportzeitung berufsmäßig alle körperlichen Übungen beherrscht. Er heißt der „König der russischen Reporter“, weil er kein Mittel scheut, den Dingen auf den Grund zu gehen. Er machte als Soldat die Kriege im Orient mit, inspizierte im Wärterkleider die Gefängnisse und trug die Gendarmenuniform, um einem sensationellen Morde die interessantesten Details für die Zeitung abzugewinnen. Er war Sonnabend unter der Menge; seine Riesenkraft rettete ihm das Leben. Er schilderte mir eben nochmals seine Eindrücke. Viele Tausende, die auf dem Platze eingekeilt waren, erschienen nach seiner Darstellung wie eine Mauer, vor und hinter dieser erhob sich gleichfalls eine Mauer. Begann nun letztere sich vorwärts zu bewegen, so trat bald ein gleichmäßiges Hin- und Herwogen dieser Menschenmenge ein, die nur dem Meere vergleichbar ist. Es war etwas krampfhaftes in diesem Zwangsschaukeln, das jeder mitmachte, die Toten auch, die nicht umfallen konnten. Die russische Literatur besitzt in den „Toten Seelen“ eine fürchterliche Ausgeburt dichterischer Phantasie. Die Natur gab ihr in den wandelnden Toten des Chodinkafeldes ein Gegenbild, wie es kein Poet erfinden kann, und noch ein Detail! Mein Beobachter sah einen Menschen auf dem Kopfe eines anderen stehen, er konnte dem armen Opfer unter sich nicht Luft geben, dessen Weherufe still und stiller wurden, bis sie gänzlich verhauchten. Der Erzähler hat recht. Dieses plötzliche Verstummen muß entsetzlicher sein, als das Knacken eingedrückter Brustkörbe, das Brechen der Nippen, Arme und Beine, das während der Katastrophe fortwährend zu hören war.

Abends.

Die Regierung entsendete den bekannten Wunderprediger Joan von Kronstadt, denselben, der am Krankenlager Alexanders III. erschien, auf den Friedhof, um die Schmerzerfüllten zu trösten.

Er sagte: „Die Verunglückten erinnern an die toten Galiläer, von denen die Schrift meint, die Lebendigen seien nicht schuldloser als sie. Man müsse jetzt streben, den Feiertag von innen zu begehen, nachdem der von außen durch das Unglück gestört worden. Man höre nicht auf die Theorien des Westens. Sie stellen die Fortdauer der Seele in Frage und könnten den Lebenden ein Schicksal bereiten — viel schlechter als das der Toten.“

Der Kaiser ordnete eine Messe an, die im Beisein des ganzen Hofes im kleinen Kreml gelesen wurde.

Der Staatsanwalt und der Präsident des Landesgerichtes erschienen auf dem Chodinkafelde, um den Tatbestand zur Führung einer eventuellen Untersuchung auszunehmen.

Bei der gestrigen Fahrt zum Volksfeste begegnete dem Kaiser ein Wagen mit Toten. Er befahl dem Konvoi, zu halten, reichte den Soldaten die Hand, erkundigte sich nach den Details der Katastrophe und gab seinem Schmerz über den Vorfall Ausdruck. Unter Hurrarufen der Soldaten und der umstehenden Leute fuhr der Kaiser weiter.

1. Juni.

Schon vor dem Beginne der eigentlichen Krönungsfeier ereignete sich in den Straßen von Moskau ein Exzess, der einen Vorgeschmack der letzten Vorgänge gab. Als der Wagen mit den Herolden, welche die Proklamation der bevorstehenden Krönung verteilten, durch die Straßen fuhr, umdrängte das Volk das Gefährte, um die auf farbiges Papier gedruckten Proklamationen zu erlangen. Dabei wurden die Herolde von ihren Sitzen gerissen und ihre gepuderten Perücken zerfetzt, worauf die Menge den Wagen zertrümmerte.

Als der Kaiser Samstag in den Kreml zurückkehrte, warf er sich in ein Fauteuil und begann bitterlich zu weinen, die Kaiserin weinte mit.

2. Juni Nachmittags.

Der Friedhof in der Nähe von Chodinka, der den unglücklichen Opfern der Katastrophe als letzte Ruhestätte bestimmt ist, bietet heute schon ein minder erregtes Bild. Die Beerdigung der Toten vollzieht sich im Beisein der Nächstbeteiligten, der Vertreter der Kirche und der Totengräber; diese sind in ungewöhnlicher Zahl vorhanden, wie alles bei diesem Großgeschäfte des Todes. Etwa fünfzig Leute schaufeln Erde, um die Gräber zu füllen, in welche die Särge bereits gesenkt sind; zweihundert Menschen sind beschäftigt, ein neues Massengrab zu vollenden. Das Feld, wo gestern Tote noch in großer Zahl gelegen, ist jetzt stark geräumt. Die Entseelten sind mit Sargdeckeln bedeckt. Viele wurden noch nicht erkannt. Leute kommen, heben die Deckel in die Höhe, ziehen das Leintuch ab, das die Leichen umhüllt, werfen dann einen Blick auf den Kleiderhaufen neben den Särgen und schütteln verneinend den Kopf: sie finden nicht, wen sie gesucht.

Der Schiffbrüchige Namenlose ruht in seinem ewigen Schlafe weiter.

Es sind schon viele Kreuze bei den Grabhügeln, weiße, blaue und grüne, die Namen darauf bloß mit Bleistift oder Farbe verzeichnet. Auch kleine Bilder klebte man als Schmuck darauf. Wer kein Kreuz gefunden — ihr Vorrat schwand rasch in den Moskauer Läden — benützt ein anderes Erkennungszeichen, einen mit Bändern umwundenen Stab; die Farbe desselben soll erraten lassen, wer hier ruht. Manche sind bescheidener; sie stecken einfach Birkenzweige in die Erde.

In den Grabinschriften sind alle Lebensalter vertreten, von zwölf bis zu siebzig Jahren. Die Beerdigung vollzieht sich rasch. Der Sarg wird auf Wagen oder von Arbeitern zum Grabe gebracht und hineingelegt; dann fällt Erde hinein, der Pope kommt. Spricht ein kurzes Gebet, besprengt das Grab, macht das Kreuzzeichen; die Hinterbliebenen drücken ihm ein Geldstück in die Hand — es ist klein, aber heute tuts die Masse — die Zeremonie ist zu Ende; — vorwärts, weiter zum nächsten Grabe!

An den Hügeln steht man weinende Verwandte, aber auch gleichgültige Teilnahme. „Ich habe vier begraben,“ ruft uns ein Mann in einem Tone zu, als hätte er von einem gewöhnlichen Ereignisse zu berichten. Wie der Geruch verschwunden, der gestern diesen Ort so erschrecklich verpestete, daß selbst die Wachen ein Tuch vor die Nase hielten. Scheint bei einzelnen auch schon der Schmerz vorüber, den der Trauerfall geweckt hat.

Der Mensch ist noch kälter und grausamer als der Tod.

Die militärische Besetzung des Friedhofes ist schwächer. Nur vor dem Eingang kampiert ein starkes Truppenkontingent. Infanteristen liegen im Grase. Vor der Zufahrtsstraße halten größere Wachen, links und rechts von ihnen sind die Gewehre in Pyramiden gestellt.

Man glaubt vor einer Kaserne zu sein, nicht vor einem Massenquartier des Todes.

Abends.

Die Beerdigung aller Leichen auf dem Waganka-Friedhof wurde heute Abend beendigt. Da die Moskauer Geistlichkeit für die Zeremonien nicht ausreichte, halfen Militärgeistliche aus.

Die Zahl der Toten wird auf zweitausend achthundert geschätzt.

Auf den Schlössern in der Nachbarschaft von Moskau macht sich der Eindruck der Katastrophe seltsam bemerkbar. Überall reist die Dienerschaft voll Sorge nach Moskau, um zu sehen, ob nicht einer ihrer Angehörigen von dem Unglücke betroffen wurde. Dadurch sind viele Herren dienerlos.

Auch im Dichterhause Tolstoi entbehrt die Familie ihre Lieblingsdiener; einer sucht seine Mutter, der andere seine Fran, glücklicherweise wurde keiner von einem Unfälle betroffen. Aber das Haus Tolstoi muß sich trotzdem notdürftig behelfen.

Tolstoi selbst wurde von der Katastrophe tief erschüttert. Er erfuhr dieselbe von einem Bauer, der aus Moskau voll Entsetzen zurückkam. Spätere Nachrichten brachten ihm die Zeitungen; sie kommen unregelmäßig in die Provinz, und Tolstoi eilte oft drei- bis viermal des Tages vergeblich zu dem Ausgabeort, um die Journale zu erhalten. Weiter vervollständigten die Freunde des Schriftstellers, die jetzt in großer Zahl nach Jasnaja kommen, die Details; schließlich mußte die Gräfin nach Moskau eilen, um den Wissensdrang ihres Gatten zu befriedigen.

Tolstoi sieht in der Katastrophe ein Unglück Russlands, das seine Schatten nicht nur auf das Volk wirft. Er liebt Russland und will deshalb in einem Augenblicke, der das Reich so schwer trifft, nicht sprechen und seine Stimme erheben, weil dies die schmerzlichen Eindrücke nur erhöhen müsste. Natürlich daß er auch nicht den Schein erwecken will, als nützte er ein Ereignis, und wäre dieses noch so tragisch, zynisch für seine Überzeugungen aus. Ähnlichen Stimmungen gibt ein Brief Ausdruck, den er an einen Freund nach Moskau schrieb. Seiner Meinung nach war es ein Fehler, daß der Hof an dem Tanz des Festes bei dem französischen Botschafter teilnahm. „Wenn der Politik Genüge geschehen mußte“, sagte er, „so hätte der Empfang des Grafen Montebello stattfinden sollen, aber in Formen, die der allgemeinen Trauer Rechnung trugen. Der Kaiser hätte acte de presence tristen können, dann aber war die Zeit der Feste vorüber.“

Auch mit der Geldverteilung an die Familien der Unglücklichen ist er nicht einverstanden. „Geld!“ rief er aus, „und wäre es auch noch so viel, könnte das ein Menschenleben ersetzen? Der Schein, ein solches bezahlen zu wollen, sollte wohl vermieden werden.“

„Ich bin gebeugt,“ schrieb er in dem obenerwähnten Briefe, „und ins Innerste getroffen. Wie viel hätte ich über das Unglück und seine Ursachen zu sagen. Ich will es nicht. Mich beschäftigt ein Werk, das teilweise in großen Zügen die Eindrücke des Augenblicks respektiert. Ich setze alle Kräfte an dieses. Zu alt, um mir Aufschübe zu gestatten, bleibe ich deshalb trotz allem, was mir auf der Seele liegt, bei meiner Arbeit.“

3. Juni.

Die Chodinka-Katastrophe macht sich in Moskau sehr fühlbar. In Fabriken und Werkstätten fehlen viele Arbeitshände, überall ist der durch die Krönung mächtig angewachsene Verkehr gehemmt. Die Lieferungstermine werden nicht eingehalten und die Lieferungsverträge als durch das Elementarereignis aufgehoben erklärt.

In den letzten Tagen sind viele Millionen Worte von den fremden Journalisten nach allen Weltgegenden befördert worden. Die Geschicklichkeit der Telegraphenbeamten bewältigte diese Riesenaufgabe. Das bedeutet viel bei der Ausdehnung Russlands und seinem Telegraphennetze von Tausenden von Kilometern. Namhafte Teile desselben gehen durch Einöden, Wälder, Wässer, wo eine natürliche Störung so leicht ist. Dabei haben wichtige Strecken, wie Warschau-Wien, nur eine Linie. Die tüchtigen Unterbeamten hoffen, ihre Vorstände werden die Erfahrungen der letzten Tage nutzen und eine Vergrößerung des telegraphischen Netzes fordern, die Russland mit seinen Nachbarreichen den modernen Anforderungen entsprechend verbindet.

Details der Katastrophe, die nun in die Öffentlichkeit dringen, zeigen, wie wild an einzelnen Orten die Roheit aufflackerte. Leichen wurden geschändet und beraubt; als die Bierverteilung stattfand, trieben berauschte Horden ein entsetzliches Spiel, sie umtanzten hohnlachend die Toten. Nun wird es erklärlich, daß viele Verwundete, die an diesen Szenen teilhatten, aus Furcht vor der Polizei sich mühsam in die Nachbardörfer schlichen, wo sie erschöpft und halbtot aufgefunden wurden.

Das orthodoxe Kinderasyl veröffentlicht mit kaiserlicher Genehmigung einen Aufruf, dem zufolge hundert Kinder im Alter von ein bis zwölf Jahren, ohne Unterschied des Standes und der Konfession, deren Eltern oder Vormünder Opfer der Katastrophe von Chodinka wurden, unentgeltliche Aufnahme finden.

10. Juni.

Die Ruhe, die jetzt herrscht, macht es möglich, ein klares Bild der Ursachen des Unglücks zu gewinnen. Die offiziellen Kreise zeigen sich diesem Streben entgegenkommend. Die bereitwillig erteilten Mitteilungen stammen von den drei Faktoren, die in den traurigen Vorgängen die Hauptrolle spielten. Dieselben sind jetzt nicht in bestem Einvernehmen, um so beachtenswerter ist es, daß die Einzelzüge ihrer Darstellung stimmen, nur über die Schuldtragenden der Katastrophe gehen ihre Meinungen stark auseinander. Ob die Unterlassungssünden durch die Rivalität zweier Behörden gefördert, ob sie durch den Mangel jeder Einheit in der Leitung herbeigeführt wurden, ob sie der Umstand verschuldete, daß man glaubte, die Volksmassen könnten erst kurz vor dem bestimmten Beteilungstermine erscheinen, ob die Vorsichtsmaßregeln für einen zu späten Zeitpunkt getroffen wurden — darüber wird erst die Untersuchung Klarheit bringen. Ihre Akten gelangen am 18. d. (a. St.) vor den Senat. Unmittelbar daraus wird der Justizminister über das Ergebnis dem Zaren berichten.

Über die Teilnahme des Militärs an der Chodinka-Katastrophe vermag man nur durch Offiziere Klarheit zu erlangen. Das russische Offiziercorps, namentlich jenes der Truppen, welche die Krönung nach Moskau zog, macht einen guten Eindruck. Seine Haltung und Adjustierung, sein persönliches Auftreten ist durchaus militärisch und gewinnend. Bei näherem Umgange zeigt sich auch Sinn für Bildung und Literatur, wie er in neuerer Zeit erfreulich in allen Heeren zugenommen.

An den Vorgängen auf dem Chodinkafelde haben nur wenige Offiziere teilgenommen. Auf dem Felde waren zuerst hundert Kosaken und vierzig Infanteristen unter dem Kommando des Lieutenants Belikowitsch. Er hatte den Befehl, die Buden zu bewachen, in denen die Geschenke zur Verteilung bereit lagen. Diese waren versiegelt. Ein bestimmtes Signal — ein Zeichen mit dem Schnupftuche, das der Chef der Moskauer Krönungsabteilung, Staatsrat v. Beer, von einer Tribüne herab geben sollte — war bestimmt, die Beschenkung einzuleiten. Die Truppen hatten sich dann zurückzuziehen. Lieutenant Belikowitsch sah nachtsüber die Zahl der Herbeiströmenden ungeheuerlich wachsen; er telephonierte und telegraphierte an die Polizei und, als dies vergeblich blieb, ins Lager. Der Lagerkommandant, ein Hauptmann, kam herbei; er hatte kein Recht, über die Truppen zu verfügen. Dennoch zog er Verstärkungen in dem geringen Maße, das ihm erlaubt schien, heran. Um vier Uhr morgens verfügte man über dreihundert Kosaken und vierhundert Mann Infanterie; diese sprengten in so scharfem Galopp zur Stelle, daß Oberst Jlowaiski vom Pferde stürzte und schwer verletzt wurde. Aber das Militär konnte nichts mehr zur Abdrängung der Masse tun. Jedes Einschreiten hätte nach Meinung der Offiziere die Not vermehrt. Sie waren nur entschlossen, ihren Befehl auszuführen. Führer und Mannschaft wären am Platze geblieben — wenn es sein mußte als Leichen, welche die vorwärts strömende Menge erdrückt hatte.

Unterdessen war das Unglück schon weit vorgeschritten. Man wußte bereits, daß es viele Tote gebe. Die Menge blieb noch gefügig. Sie ließ es ruhig geschehen, daß die Kosaken Kinder, Mädchen und Greise retteten und aus der Masse herauszogen. Als später das Signal zur Verteilung gegeben wurde, zog sich das Militär auf das Feld hinter den Buden zurück. Es erlitt keinen Verlust. Freilich hätte nicht viel gefehlt, daß mit den Opfern der Katastrophe auch das Militär zu Grunde ging.

Hören wir nun die Polizei.

Ihr Leiter ist seit fünf Jahren Oberst Wlassowski — der Polizeimeister, wie man hier seit den Tagen Peters des Großen sagt. Er war bisher einer der mächtigsten Leute in Russland — in seiner Art eine interessante Figur, in welcher Rücksichtslosigkeit. Strenge und Energie sich zu einem eigenartigen Bilde vereinigen. Er ist ein Polizeimann alten Stils. Seine Auffassungen über die Behandlung des Volkes sind regelmäßig für die strengsten, härtesten Maßnahmen. Er schwankt nur, ob der Stock, die Knute oder der Fußtritt die Menschen besser niederhält. Wlassowskis eiserne Hand hat in Moskau das Fahrwesen geordnet; er zwang die Hausherren, Trottoirs herzustellen und rein zu halten; er schuf Feuerwehren; der Mann, seinem Äußern nach so hart, förderte auch manchen wohltätigen Zweck; er gründete Tierschutzvereine und suchte eine Rettungsgesellschaft nach Wiener Muster ins Leben zu rufen. Aber selbst dies Gute wollte er in tyrannischer Weise. Diese immer und so schroff wie möglich hervorzukehren, gehört zu seinem System.

Dies wird schon bei dem Empfange sichtlich, der alltäglich mittags im Polizeigebäude stattfindet.

Die bessere Welt, die Anliegen hat, harrt des Mächtigen in einem Salon, in dem unbekümmert um sie amtiert wird; das Telephon klingelt, Offiziere und Beamte kommen und gehen, die Wartenden blicken ängstlich-scheu darein. Es sind die verschiedensten Typen unter ihnen — reiche und arme, Frauen, Witwen und Waisen, Professoren und Studenten, die hier sehr ängstlich auftreten, auch leichtere und keckere Elemente, die an das geschminkte Laster Moskaus erinnern. Ein lautes Glockenzeichen kündigt den Polizeimeister an, er tritt ein — ihm zur Seite ein gewandter Hilfsbeamter mit förmlichen Manieren. Die ganze Gesellschaft bildet einen demütigen Kreis: Wlassowski durchschreitet ihn stolz aufgerichtet mit herrischer Miene. Jeder hat sein Bittgesuch bereit, jeder darf kurz sein Vorhaben anbringen — eine flüchtige Frage, eine flüchtige Antwort, und schon ist der Nächste daran. Dieselbe Prozedur auf der Stiege und im Vestibüle, wo Kopf au Kopf die armen Bittsteller stehen: zerlumpte Gestalten, abgezehrte Gesichter, Kranke und Bettler schauerlichen Anblicks, die offenbar dem tiefsten Elend ausgesetzt sind, Mütter mit schreienden Kindern, denen das Schicksal den Ernährer entriß.

Während sie kurz abgefertigt werden, haben wir Zeit, im Saale umherzublicken.

An den Wänden hängen die Porträts der Polizeimeister, die seit einem Jahrhundert Moskau beherrschten; manche von ihnen waren Höflinge; sie ahmten die Frisur, den Bartschnitt, die Kleidung ihrer Fürsten so getreulich nach, daß sie ihnen ähnelten; andere dagegen sind eigenartige Köpfe, streng, eisenfest, gewalttätig. Ein Alba-Zug lebt in ihnen.

Wlassowski zählt zu den letzteren. Seine sarmatische [nach dem Volkstamm der Sarmaten, der im Altertum in Südrussland lebten] Physiognomie ist scharf gezeichnet, seine Stimme klingt rauh und im Kommandoton, aber ein gewisser Intellekt belebt seine Züge, wie sein Auge, das angeblich niemanden vergißt, den es einmal sah. Es hört nicht auf, forschend umherzublicken; es mustert im Amte jedermann mit inquisitorischer Kraft und wenn Wlassowski auf der Straße in seiner Troika, mit dem prächtigen Dreigespann, von dem ein Pferd enggeschiert trabt, die anderen übermütig galoppieren, einherrast, sucht er selbst im Fluge irgendwo ein Stück Schuld zu entdecken. Das fühlen die Leute sehr wohl. Wo dieses Gefährt erscheint, stockt das Leben; Menschen und Wagen halten still, bis der Polizeimeister vorüber ist. Er pflegte — immer in der gleichen Absicht — auch ungescheut mitten in die Menge zu treten, und wandelte in seinem grauen, zugeknöpften Paletot [doppelreihiger, leicht taillierter Herrenmantel mit Samtkragen] inkognito, ein polizeilicher Harun-al-Raschid, durch die Massen.

Nun finde ich ihn in seinem Arbeitskabinett, das durch prunkenden Reichtum und Luxus an das des Polizeipräfekten in Sardous[/a] [Victorien S. (1831-1908) war ein französischer Dramatiker] „Andrea“ mahnt. Ein hoher Empfangssalon mit Marmorwänden und ein kleines Gemach, verschwiegen und geheimnisvoll wie ein Boudoir, stößt an dasselbe; beide hat ein launenhafter Überfluß im gebieterischen Stil der Mode verschwenderisch und mit schwerer Pracht eingerichtet.

Wir nehmen in den breiten Fauteuils Platz, die hier dem Besucher die Arme öffnen.

Zwei dicke Möpse kauern zu unsern Füßen, sie blicken argwöhnisch drohend zu dem fremden Gegenüber empor.

Über die Katastrophe befragt, erklärt Wlassowski: „Es herrschen viele Meinungen über das Unglück, nur darin ist man einig, daß es sehr groß ist — ein Elementarereignis, das uns überraschte. Das Wahrscheinlichste ist, daß der Gebrauch der Verschenkung, der bei allen Krönungsakten vor Jahrhunderten üblich war, der modernen Entwicklung immer widersprechender geworden ist. Moskau zeigte noch bei der vorletzten Krönung in dieser Hinsicht weniger Schwierigkeiten. Seine heutige Einwohnerzahl hat die Million überschritten, sie wird nun bei dem Feste auch durch die Fremden aus der Umgebung und dem Inneren Russlands vermehrt. Im Lande war das Gerücht verbreitet, jedes Geschenkpäckchen enthalte eine Anweisung auf ein Pferd, eine Kuh, ein Los auf Treffer von fünfzig und hundert Rubeln. Das wurde geglaubt, so fest geglaubt, daß Leute, welche die Päckchen erlangten und die Anweisung darin nicht fanden, umkehrten und in den Tod gingen. Mit solchen Empfindungen maß man rechnen, wenn man die Ursachen der Katastrophe von Chodinka sucht. Bei der Krönung Alexanders II., wo noch Ochsen gebraten und Geld unter die Menge geworfen wurde, kamen fünftausend Menschen ums Leben. Selbst bei der vorletzten Krönung, wo eine ganze Division aufgeboten war, die Spaliere und Durchlässe bildete, gab es schwere Verluste. Das hat man freilich schon vergessen.“

„Die Menge ist hier gut, wird aber, wie jede Menge, leicht zum Tiere; dann beginnen für Unsereinen die schwersten Stunden. Unsere Branche will verstanden sein. Ich war in Riga und lernte dort die Deutschen kennen; ich war in Warschau, wo ich die Polen studierte; in Wilna, wo eine gemischte Bevölkerung ist. In Moskau bin ich seit fünf Jahren dem eigentlich russischen National-Charakter gegenüber. Im allgemeinen gutmütig, muß er eine Autorität über sich fühlen. Sie sahen, wie mustergültig alles früher ging. Die Leute wußten, ich sei da. Vor jedem Ereignis, für das ich die Verantwortung trage, pflege ich selbst unter das Volk zu gehen; erst wenn ich mich ihm gezeigt habe, nehme ich meinen offiziellen Platz ein. Vor dem Einzug des Zaren suchte ich die Massen in den entlegensten Straßen auf, dann erst trat ich an die Spitze des Zuges. Während der Illumination war ich im dichtesten Gedränge und trug Sorge, daß die Hälfte der Straße für die Wagen frei blieb; im ärgsten Falle war es möglich, dies Ventil für die große Menschenmasse zu öffnen. Für den Tag des Volksfestes hatte ich keine Anordnung zu treffen.“

„Ich war nicht auf dem Felde, mein Stellvertreter war da. Ich konnte nicht überall sein. Ich war in der Nähe des Zars, aber ich blieb telephonisch mit meinem Ersatzmann in Verbindung. Er war der Meinung, daß die Leute nichts Böses im Schilde führen und daß der bestimmte Termin der Verteilung unbedingt eingehalten werden könne und solle. Ich sah dis als richtig an, weil ich angeordnet hatte, daß die Arbeiter, die nach Moskau strömten, nur mit Stadtbeamten und Gendarmen an der Spitze auf das Feld dürfen, und zwar nicht vor acht Uhr morgens. Ich glaubte diesen Befehl eingehalten und bin noch der Meinung, daß es gefehlt war, ihn umzustoßen. Ich hatte für neun Uhr meine Dispositionen getroffen. Man sollte neun [b]Eskadronen
[militärische Einheit] Kosaken am Ende des Feldes, also denn Abschlusse des Menschenknäuels aufstellen, um im schlimmsten Falle dort die Menschen abzudrängen und Luft für den oberen Teil zu gewinnen. Das Ungetüm war am Schweif, nicht am Kopf zu fassen. Bei den Buden war die Truppenmacht ausreichend. Ich wiederhole, meine Dispositionen waren für den Morgen getroffen. Sonst hatte ich nichts mit der Sache zu tun.“

„Um halb acht Uhr morgens war ich dann auf dem Unglücksfelde und ordnete sofort an, was zu geschehen habe Die Katastrophe war leider schon vorüber. Die Spuren des Unglückes wurden so rasch wie möglich entfernt. Ich fuhr zum General-Gouverneur, um ihm Bericht zu erstatten. Den Kaiser hatte ich nicht mehr das Glück zu sehen, aber ich geleitete ihn mittags vom Volksfeste zurück und traf meine Dispositionen für das Diner der Stände und den Ball der französischen Botschaft. Warum — wird man nun fragen — hat ein Mann von ähnlicher Energie dieselbe nicht vor der Katastrophe gezeigt? Weil — ich wiederhole dies mit aller Bestimmtheit — die Polizei und der Gouverneur mit dieser wenig zu tun hatten. Man hat in den Zeitungen gesagt, die Krönungskommission sei nur wie ein Theater-Direktor, der eine Vorstellung gibt, und sie ist für das Unglück nicht verantwortlich. Aber der Direktor hat in einem ähnlichen Falle die Pläne vorzulegen und für Sicherheitsmaßregeln zu sorgen. Ein alter Polizist wie ich, würde eine Kommission eingesetzt haben mit Vertretern der Stadt, der Polizei, mit Ärzten und Ingenieuren; diese hätte Maßregeln verlangt, um die Menge rechtzeitig zu zerstreuen und durch Theaterspiel oder Musik von einem auf mehrere Punkte abzulenken. Auch den Bodenverhältnissen wäre Rechnung getragen worden, in denen jetzt vielleicht ein Auge, minder mißtrauisch als das der Polizei, ein willkommenes Hindernis für die Menge sah. Dach ich klage niemanden an. So viel Anlaß hiezu vorliegt und so garstige Sachen man über die Lieferungen der Geschenke des Zars und über die Bestechungen der Bierbrauer erzählen mag. Nach dem Unglücke ist die Kritik leicht. Ich bin überzeugt, daß alle nur das Gute wollten, auch jene, welche geirrt und die Dinge nicht vorhergesehen haben, die später eintrafen.“

Mit dieser Rede, die den Diensteifer des Polizeimeisters so energisch verteidigt, steht alles im Widerspruch, was in den Kreisen der Moskauer Krönungskommission gesprochen wird, Ihr Chef, Herr v. Beer, ist ein verbindlicher Hofgeneral. Er ist ohne Anstrengung die Stufenleiter des Glückes emporgestiegen, die Petersburger hohen Kreise stützen ihn. Der General, klug wie sein Auge, schließt sich nicht ab von der Zivilistenwelt, wie dies Militärs sonst zu tun pflegen. Wohlwollen für jedermann scheint der Grundzug seiner Natur. Seit dem Chodinka-Tage hat diese glatte Kunst einen Stoß erhalten und seine wohlgeformte Rede erbebt in dem Zorne ehrlicher innerer Erregung.

„Unsere Kommission als Ganzes“, sagte er mir, „hatte eigentlich mit dem Feste nichts zu tun, nur die Abteilung für Moskau, welche das Arrangement des Volksfestes, die Illumination des Kreml, die häuslichen Angelegenheiten des Hofes zu besorgen hatte, war für den Volkstag interessiert. Schon diese Agenden zeigen, daß die Ergreifung von Sicherheitsmaßregeln nicht ihre Sache war. Bei der Veranstaltung des Festes befolgte man, soweit die Kommission in Frage kam, den Vorgang von 1883; die Buden waren von derselben Bauart und in gleicher Entfernung wie damals; es waren nur fünfzig mehr, weil ein größerer Andrang erwartet wurde. Man glaubte, daß eine starke Militärkette die Menge auf dem großen Felde zurückhalten und erst dann in drei Abteilungen vorlassen werde. Bei jenen Budenreihen, die vom Zentrum weiter entfernt waren und im Osten und Westen des Chodinkaturmes lagen, vollzog sich die Verteilung anstandslos, es entstand kein Gedränge, kein Unglück, wiewohl auch hier hundertfünfzigtausend Menschen beteilt wurden. Im Jahre 1883 waren vielfach dieselben Bodenverhältnisse wie heute. Der Graben in der Mitte erwies sich damals als ein Wall gegen das zu große Vordrängen. Freilich stand Militär neben ihm und er war frei von den tiefen Löchern, die seither, und zwar in den allerletzten Tagen, zur Sandentnahme gegraben wurden. Seine Abgründe waren damals auch noch nicht durch die Entfernung der französischen Ausstellungsbauten vermehrt, die bis zum April dieses Jahres hier standen, ordnungsmäßig umzäunt waren und erst jüngst nach Nischni übergingen.“

„Man hat uns Treibereien, Unregelmäßigkeiten und unredliches Gebaren vorgeworfen, das angeblich die Herbeiführung des Unglücks nötig macht; auf solche Insinuationen [Unterstellungen] sollte man gar nicht antworten. Nach jeder Krönung werden ähnliche Behauptungen laut; man vergißt, daß Russland sich in dieser Richtung geändert hat. Gewisse Korruptionsstücke sind nicht mehr möglich. Von den Krönungsgeschenken wurde jedes Päckchen viermal kontrolliert, ob es das richtige Gewicht habe. Bei der Firma Malkil wurden die kleinen Säcke geschlossen und dann in Kisten gelegt, die auf dem Ausstellungsplatze einer neuerlichen Kontrolle unterzogen wurden. Die vierzigtausend Bierfässer wurden in Chamowniki, der größten und solidesten Brauerei Russlands bestellt, ihre Manipulanten sind durchweg Ausländer. Mit der Verteilung der Geschenke waren Artelschtschiks der Gesellschaft Tschischefski betraut. Welches Einverständnisses vieler Tausende hätte es bedurft, um irgend welche Machenschaften zu ermöglichen. Es ist auch unrichtig, daß die Bierverteilung Schuld an dem Unglücke getragen habe. Anfangs trank die Menge ruhig was sie erhielt, erst als später das elendeste Volk auf das Chodinkafeld kam, wurden die Fässer zerschlagen. Menschenleben ging keines hiebei verloren.“

„Ich war auf dem Platze — seit Mitternacht. Ich sah die Gefahr kommen, ich telephonierte der Polizei nicht einmal — sondern zehn-, zwanzigmal. Die Abschriften meiner Meldung liegen durch Zeugen erhärtet vor. Regelmäßig erhielt ich die Antwort, daß rechtzeitig Hilfe kommen werde. Als die Menschenmasse so dicht wurde, daß kein Kopf, keine Achsel, ja keine einzelne Figur mehr zu unterscheiden war und alles nur eine schwarze Masse schien, in der Lebende und Tote hin und her schwankten, als über allem ein Dunstnebel schwebte und mit fürchterlichem Geschrei der Bittens um Beginn der Verteilung sich erhob, habe ich das Zeichen durch das Lüften meiner Kappe gegeben. Mit dem Schnupftuche zu winken, wie es meine Ordre vorschrieb, war keine Zeit mehr. Jammer und Unglück waren schon zu hoch gestiegen. Ein wüstes Geschrei erfüllte die Lüfte, aus dem ich nur die wehmütigen Worte hören konnte: „Macht einen Anfang, wir Alle bitten darum!“ Ich dachte, ?dies Volk ist wirklich gut, es steht, während es ihm so leicht wäre, die Erfüllung seines Wunsches mit Gewalt zu erzwingen. Ich hatte keine Zeit ähnlich weiter zu reflektieren und viel zu überlegen“. In diesem Augenblicke hatte man mir — ich stand knapp vor der Masse zwischen den Buden — die Leichen zweier Greise vor die Füße geworfen!“

„Sieh her,“ schrie man mir weinend zu, „du bist ja nicht bloß des Kaisers, du bist auch Gottes Diener, hilf uns, indem du die Verteilung zulässt!“

„Ich lüftete verzweifelt meine Kappe. Ich gab das Zeichen zum Beginne. Wenn das unter solchen Umständen ein Verbrechen war — dann bin ich schuldig!“

Nach diesen widersprechenden Darstellungen der gegnerischen Amtsleiter besuchte ich nochmals die Stätte, wo jene ruhen, welche nichts mehr mitzuteilen und zu erzählen haben......

Der Friedhof zeigt wieder seinen mildstillen Charakter. Was zu diesem nicht stimmen will, ist nur die lange Gräberreihe am äußersten Ende — dort, wo mau sonst die Selbstmörder zu begraben pflegt.

Eng aneinander steht hier Krenz an Kreuz.

Diese glattgehobelte Symmetrie hat ihr Entsetzliches.

Sonst ist die letzte Spur der Opfer, die hier begraben sind, entfernt; ihre Kleider wurden auf einen Riesenhaufen geschichtet, mit Petroleum begossen und angezündet. Nach diesem Antodaf6 wurde der Friedhof desinfiziert. Der Karbolgeruch und der Duft des Flieders kämpfen um die Oberhand.

Auf den Grabhügeln stolzieren alte Raben; sie picken in den Boden und ziehen erstaunt die Schnäbel zurück, weil sie nur Erde und heißen Sand zu finden vermögen.

Das schwarze Geflügel des Todes ist offenbar unwillig, daß es nicht täglich Chodinkafeste gibt.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland - Momentaufnahmen