Die Deutschen. — England und Russland. — Die Polizei.

Der Einfluss deutschen Geistes drang früh nach Russland. Er zeigte sich schon zu einer Zeit, in der einzelne Bojaren als Kulturträger es wagten, ihren Bart zu scheren und die europäische Kleiderordnung anzunehmen; seither ist seine stillwirkende Kraft immer mächtiger geworden. Der erste Zar, welcher den plumpen Mongolen die Vorschule der Bildung ernstlich zu gewinnen strebte, entsendete 1547 einen seiner Ratgeber, den Sachsen Schlitter, nach Deutschland, um Ingenieure, Baumeister, Gewerbsleute, selbst Bauern, „So viel ihrer zu gewinnen wären“, als Lehrer für sein Volk zu werben. Missgünstig richtete hingegen der Deutsche Orden eine Verstellung an Kaiser Karl V. „Ein gebildetes Russland wird eine Gefahr für die Welt sein,“ hieß es in derselben. Der Kaiser willfahrte mit kurzsichtiger Bereitwilligkeit der Bitte. An der Grenze wurden die Auswanderer gewaltsam zurückgehalten.

Das Streben Russlands, deutsche führende Elemente für sein Volk zu gewinnen, ist hiedurch nicht wesentlich behindert worden. Die Deutschen waren bald so zahlreich auf seinem Gebiete, daß, um ihnen Rücksicht zu zeigen, ein Toleranzpatent den Bau calvinischer und lutherischer Gotteshäuser auf der Höhe des Moskauer Kreml gestattete. Bald darauf beginnen die Annäherungsversuche Schwedens an Russland.


„So lange der Protestantismus besteht,“ schreibt Gustav Adolph an den Zar Michael Romanow, „wird der orthodoxe Glaube sich gefahrlos entwickeln und wenn die Protestanten von Rom ernstlich bedroht sein werden, dann ist auch die orthodoxe Kirche in Gefahr.“

Dieser weise Ausspruch, der bis zum heutigen Tage an Richtigkeit nichts eingebüßt, wurde zum Talisman für die Deutschen; die Hand der Zaren schützte sie, das Volk blickte dankbar zu ihnen empor, der deutsche Einfluss war überall zu spüren; er berührte die Dynastie, den Adel, die Gilde der Kauf- und Gewerbsleute, die Beamtenschaft, ja selbst den Bebauer des Bodens; auf allen Gebieten suchten sich die germanischen Einwanderer nützlich zu machen; in Tula legten sie den Grund zu einer mächtig empor blühenden Industrie; Peter I. gewann sie als rührige und unermüdliche Mitarbeiter, ja selbst in dem späteren Weiberregiment mit seinem wollüstigen Liebesatem, seinem Mangel an jeglicher Moral, seiner garstigen Züchtung einer männlichen Halbwelt wissen sie unter dem buntseidenen Höflingskleide, scheinbar nur um Neigung, Gunst und Laune schöner Frauen buhlend, das mächtige Kulturwerk des großen Peter vor Zerstörung zu bewahren Und gegen die altrussische Reaktion zu verteidigen.

Dieser Drang, das Gute zu Schützen und immer besseres Neues zu schaffen, blieb den Deutschen in Russland bis zum heutigen Tage eigentümlich; dennoch sieht die Mehrzahl seiner Bewohner in einem starken Gegensatze zu ihnen; die Deutschen sind gründlich gehaßt, und das sonst so gutmütige, weichgeartete russische Volk wird nicht müde, ihnen argwöhnisch zu begegnen und sie die übelste Nachrede sohlen zu lassen.

„Es ist ein sonderbares Ding,“ sagt mir ein Deutscher in hervorragender Stellung, „aber es läßt sich nicht leugnen, daß wir hier höchst unpopulär wurden. Vielleicht entspringt dieser Haß ähnlichen Gefühlen wie der gegen die Juden; man wollte glauben machen, daß die Verfolgung der letzteren aus Rassen-Empfindungen hervorgehe; nun gibt es im Süden Russlands Juden, die sich von ihren übrigen Glaubensgenossen absondern, weil sie ihre Abkunft von bevorzugten Stämmen Judas herleiten. Diese jüdischen Aristokraten, Karaiten genannt, schlossen sich der antisemitischen Bewegung heftig an, wahrscheinlich in der Sucht, materielle Vorteile zu gewinnen. Wenn unsere russischen Gegner plötzlich die deutschen Stammesmängel entdecken, wollen sie kaum anderes. Neid, Missgunst, Eifersucht schüren gegen uns. Sie machen blind für unsere Vorzüge; unser Fleiß und Ernst, unsere Tüchtigkeit sind ein Schimpf geworden, weil wir im Wettkampfe häufig siegreich blieben.

„In so trauriger Lage befinden sich die Deutschen nicht zum ersten Male. Jede Epoche, die in Russland vorwärts strebte, begann mit einem Blicke in unsere Heimat. Das Gute, das man aus ihr holte, hatte sich kaum festgewurzelt, so sah man schon verächtlich auf die eben gemachte Kulturanleihe. Alle Instinkte eines beschränkten Heimatgefühles wurden lebendig. Solche Krisen erlebte das Deutschtum häufig genug in Russland — die ernsteste nach den Siegen von 1870. Daß unser Volk an die erste Stelle in Europa rücken könne, wollte niemandem einleuchten. Man hatte früher Freude an unseren literarischen und künstlerischen Erfolgen, man begeisterte sich für Goethe, Schiller, Heine, Beethoven und Mozart — Bismarck und Moltke wollte man uns nicht verzeihen. Lange noch ehe in Russland über den Undank der Bismarckschen Politik geklagt wurde, hatte die Strömung gegen das Vordringen des germanischen Geistes schon begonnen. Sie berührte die Literatur, die Politik, sie erfasste das ganze Volk.

„Es ist ein Glück für uns, daß augenblicklich die Stellung Deutschlands scheinbar schwächer wurde; die Gegensätze beginnen sich hierdurch zu mildern und selbst, der Kampf in den Ostseeprovinzen, hat infolgedessen manches von seiner früheren Härte eingebüßt. Die Deutschen, die dort nur in verhältnismäßig geringer Zahl leben, obgleich sie die Intelligenz besitzen, beginnen aufzuatmen. Die unteren Schichten werden nicht mehr drohend wie früher gegen sie aufgeboten, man beginnt ihre Kulturarbeit wieder zu schätzen, die aus Bauernhäusern mit zerrissenen Dächern schöne Gehöfte machte, die den Boden verbesserte, Wohlstand in Dorf und Stadt getragen hat und der erbitterten Gegnerschaft gegen die protestantische Geistlichkeit wird Halt geboten. Man sagt, die Kaiserin habe dies erreicht. Sie erinnerte sich ihres deutschen Ursprunges. In einem Gespräche mit dem Leiter des Synod ließ sie ein Wort zu Gunsten der stark bedrängten früheren Glaubensbrüder fallen. „Was Sie bisher getan,“ sagte sie Herrn Pobedonoszew, „war gewiß notwendig, aber vielleicht ist jetzt der Augenblick für eine schonendere Haltung gekommen.“

„Die deutschen Protestanten spüren diesen Einfluß, man ist toleranter gegen sie, aber von diesem Siege bis zu einer Wiederkehr der alten Stellung ist noch ein weiter Weg; er dürste kaum je wieder zurückgelegt werden.“

So eine deutsche Stimme; hören wir die eines Russen.

„Man verleumdet uns,“ sagt dieser, „wenn man vorgibt, daß wir mit dem Gefühle der zurückgedrängten Slawen die Umwälzungen der letzten Jahrzehnte verfolgten. Das wäre nicht Slawen-, das wäre Sklavenart! Allerdings hat man Russland die Dienste, die es 1866 und 1870 für die Einigung der Deutschen auf sich nahm, schlecht gelohnt, man hat sie einfach vergessen Deutschland mußte England hindern, uns durch diplomatische Intrigen und Ränke das Tor von Konstantinopel zu schließen, denn wir waren es, die im entscheidenden Augenblicke den Anschluß Österreichs an seine Gegner vereitelt und so die Lage Preußens erleichtert haben; in dieser politischen Sünde und Undankbarkeit liegt jedoch nicht der Grund der Abneigung gegen die Deutschen in Russland. Er ist nur bei diesen selbst zu suchen. Sie lassen uns ihr Übergewicht fühlen, sehen hochmütig auf uns herab, obwohl sie ihre Erfolge in unserer Mitte und auf unsere Kosten errangen; sie bleiben im steten Gegensatze zu uns und schließen sich eng zusammen, um aus unseren Mängeln die Hoffnung auf zukünftige Triumphe zu schöpfen, unsere großen kaufmännischen Unternehmungen, die den Verkehr beherrschen, unsere Banken sind deutsch, ihre Bücher werden deutsch geführt, ihre Geschäftssprache bleibt die deutsche, wie die der Börsen. Auf unserem Boden fühlen wir eine fremde Hand, die allerdings geschickter als die russische ist, die aber nie geschmeidig werden will. Was Wunder, daß wir sie nicht lieben. Stadt und Land haben die gleiche Empfindung für sie. In Russland besteht eine tiefe Abneigung gegen den Krieg. Niemand will ihn. Alle Denkenden sind der Überzeugung, daß Kriege überhaupt nur noch möglich sind, wenn der Letzte im Volke die Absicht derselben versteht. Das Wort „Nemez“ hat allerdings einen Klang, den ein frivoler Staatsmann leicht missbrauchen könnte, um die Leidenschaften aufzurütteln. Glücklicherweise gibt es keinen solchen, der hier Einfluss gewinnen könnte; wir fühlen, daß schon dem letzten Kriege die innere Begründung und Berechtigung fehlte, wir sind vorsichtig geworden und werden uns nicht zu einer Tollheit hinreißen lassen.“

Die Politik des Deutschen Reiches strebt vorurteilslos und ruhig, trotz solcher Stimmungen das beste Einvernehmen mit Russland zu erhalten. Dieser Wunsch wird durch das Verhältnis Russlands zu einer andern Großmacht wesentlich gefördert.

Dies ist England!

Alle politischen Empfindungen spitzen sich hier gegen dieses zu. Wenn auch nicht als offen erklärte Gegner, stehen sich doch Russland und England feindselig gegenüber, immer kampf- und sprungbereit, immer bestrebt, das Terrain dem Rivalen abzugraben und um die Oberhoheit dort zu ringen, wo ihr Einfluss sich berührt.

Der Schauplatz dieses Krieges ohne Kriegserklärung ist ein gewaltiger. Er umfasst die Welt. Die Engländer führen ihn mit der Stärke, welche die höchste Kultur verleiht, die Russen mit der Gewandtheit und Beweglichkeit eines emporstrebenden jüngeren Volksstammes. Die Engländer fechten ihre Händel wie Europäer aus, die Russen begegnen ihnen wie spitzfindige Asiaten. In den Kolonisationsversuchen Beider tritt dies deutlich zu Tage. Der Engländer sucht dem fremden Gebiete, das sein Fuß berührt, rasch die Einrichtungen der Zivilisation zu erschließen; sein eigener Vorteil, der die Lebenskraft des neu erworbenen Landes schnell aufsaugen will, scheint dies zu fordern; der Russe mit seiner Neigung für träge Langsamkeit geht bedächtiger zu Werke. Das eroberte ihm den Orient, zu dem seine Pascha-Generale, seine leicht zu gewinnenden Beamten, seine halb abend-, halb morgenländische Natur viel besser stimmten, als die irgend eines anderen Volkes.

Der „weiße Zar“ hat hierdurch Popularität in Gegenden gewonnen, die der russische Arm noch lange nicht erreichte. Der Rubel rollt, um diese geheimnisvolle Macht fortwährend neu zu erhöhen. Es gibt Ausgaben der Regierung, die nur der höchsten Kontrolle unterstehen. Mit ihrem Gelde werden die Ingenieure besoldet, die auf fernem Boden den Lauf der Flüsse, die Höhe der Gebirge messen, um die Richtung künftiger Straßenzüge und Eisenbahntrassen zu gewinnen — mit Geld beherrscht Russland die kleinen asiatischen Höfe, bei denen der Sinn für persönlichen Vorteil so mächtig ist wie bei den großen; seine Subsidien haben in China, Korea und Afghanistan die zur Thronfolge bestimmten Prinzen in goldene Netze zu locken und die Ansprüche rauflustiger Prätendenten zu unterstützen, welche dem mächtigen Nachbar Vorteil bringen könnten.

Seit den Tagen Roms ist keine ähnlich weitangelegte Expansions-Politik betrieben worden — für ihre gierigen Fangarme, ihre mörderischen Klauen gäbe es kein Entrinnen, hätte Russland nicht einen Rivalen, dessen Auge unablässig wacht — England. Der Sovereign bekämpft den Rubel. In diesem Augenblicke scheint Russland in Asien im Vorteile; England verlegt den Schauplatz seines Schachspiels nach Europa; Russland breitet, um in Asien freien Spielraum zu gewinnen, seine schützende Hand über den Sultan, England durchwühlt sein Reich und zettelt hier Verschwörung und Aufruhr an; die Rollen der beiden Gegner erscheinen plötzlich vertauscht; die alten englischen Schlagworte leben im russischen Munde auf, die Minierarbeit in der Türkei besorgt England — der Schutz des Großherrn in Stambul ist seinen alten Feinden zugefallen.

„Wir haben unsere Ziele,“ erklärte mir ein russischer Politiker ganz offenherzig, „im Orient nicht aufgegeben. Wir wissen, daß wir den Schlüssel für das Schwarze Meer gewinnen müssen. Wir brauchen ihn zu unserem Schutze, wie zu dem der Völkerschaften, die uns vertrauen, aber der Moment ist nicht günstig für so weitreichende Pläne. Man hat angeblich in unserem Interesse wiederholt die Frage angeregt, ob den Mächten das Durchfahrtsrecht durch die Dardanellen nicht gewährt werden sollte. Wir wollen das nicht, weil wir den gegenwärtigen Zustand, der alle Staaten ausschließt, als den günstigeren ansehen. Wenn die Türkei zerfallen muß, so kann dies nicht spät genug für uns geschehen. Dieser Meinung entspringt der Gegensatz in der Auffassung Russlands und Englands; dieses will, daß der Funke in das orientalische Pulverfass fliege, wir möchten die unvermeidlichen Zwischenfälle begrenzen; der Eine will die Fragen gegen den Sultan, der Andere mit ihm und wenn irgend möglich nicht zu seinen Ungunsten lösen. Wer für die Ruhe Europas ist, wird den Standpunkt Russlands fördern müssen.“

Das rassische Friedensbedürfnis ist nicht nur die Folge einer klugen Berechnung der politischen Wirkungen nach außen, es wird auch durch die innere Lage des Reiches bedingt; ungelöste Fragen hemmen seine Bewegungsfähigkeit. Der Bauernstand verarmt nach seiner Befreiung, der Adel ist von der Bodenkrise mehr als in einem andern Lande getroffen. Man ersann alle erdenklichen Mittel zu seiner Rettung; der Staat belehnte die Ernten, die Darlehenswerber fanden nicht die Mittel, das Pfand auszulösen; er gründete eine Adelsbank, die Vorschüsse derselben machten den Finanzminister zum Herrn unermesslicher Grundgebiete; er gewährte seinen Schuldnern Erleichterung auf Erleichterung, um die Massenversteigerungen von Gütern hintanzuhalten; man setzte die Eisenbahntarife für die Agrarier herab; nun beginnt ein Teil derselben Einspruch zu erheben, weil die billigeren Tarife den Grundbesitzern auf dem Boden der ergiebigen „schwarzen Erde“ viel zu große Vorteile gegenüber den unter ungünstigeren Bedingungen Produzierenden einräumen.

Zu diesen materiellen Sorgen gesellen sich politische. Die Intelligenz strebt nach wie vor, einen höheren Anteil an dem öffentlichen Leben zu gewinnen. Der Ausflucht, daß dies Gift für Russland wäre, schenken nur die Verteidiger des absolutistischen Herkommens Glauben. Die Masse ist wohl stumpfsinnig in Russland. Nirgends in Europa erscheint sie bereitwilliger sich unterzuordnen. Ihre demütige Art liegt in den ältesten Bräuchen des Landes; in den Volksspielen folgt seit jeher die Sympathie nicht dem triumphierenden Sieger, sondern dem, der sich diesem unterwürfig zu zeigen versteht; selbst die Regungen des Herzens schmiegen sich an diese Auffassung. „Die Neigung der Seele ist das schönste Gefühl, sie braucht, um fortzudauern, Hiebe wie ein staubiger Nock“, meint ein Sprichwort; aber diese Demut zeigt doch häufig Wandlungen.

Im Staube kriechend, das Haupt zu Boden geneigt, konspirierte der Russe. So entstanden die von den Bojaren geführten Empörungen, wie die folgenden revolutionären Zuckungen; so erhob in unseren Tagen der Nihilismus sein Haupt. Niemals hätte er seine drohende Macht erreicht, wenn er nicht in den Ämtern, in den Stuben der Bauern und Bürger, im Salon des Adels Mithelfer gefunden hätte, die nach einem Lichtblicke der Freiheit lechzten!

„Die Organisation der Nihilisten ist zerstört,“ seufzen die versprengten Anhänger dieser Partei, auch die Volksteilnahme mangelt ihnen, weil ganz Russland mit einer hoffentlich ungetäuschten Erwartung an den Sieg der guten Absichten Nikolaus' II. glaubt. An ernsten Wetterzeichen fehlt es trotzdem nicht. Am Tage der Krönungsfeste erhob sich außerhalb Moskaus in allen Städten das Volk. Überall gab es wilden Tumult. Man rief: „Gott schütze den Zar!“; aber mit dem johlenden Hohngeschrei: „Die Hüte ab!“ warf sich plötzlich die Menge auf die verhassten Reichen, eine Volksdemonstration begann, die eine unerwartete Kraft verriet.

Bald darauf gelang es einer verhältnismäßig geringen Zahl von Führern, achthunderttausend Arbeiter zu einem geschlossenen Widerstände zu organisieren. Er spottete durch zwei Wochen allen Gegenmaßregeln der Regierung. In dem grauen Petersburger Polizeihause nächst dem Nikolaus-Monumente gab es ernstbange Standen. Die Reliefs dieses ehernen Kaiserdenkmals erzählen, wie vor Jahrzehnten russische Volksbewegungen niedergeworfen wurden. Damals hielt das trunkene Volk, welches dem Zar das Wort Konstitution ins Ohr schrie, die fremde Bezeichnung für den Namen der Gemahlin des Großfürsten Konstantin, der Zar mußte sich nur zeigen und der Aufstand war zu Ende; heute ist der armseligste Bewohner der Hauptstadt politisch reifer. Sollte die Sturmglocke wieder tönen, das Feuer dürfte gefährlicher werden.

Der Leiter der Petersburger Sicherheitsbehörde, General Kleigels, das Muster eines großstädtischen Amts-Chefs, tat deshalb sehr klug, den Arbeiterunruhen mit der gewandtesten persönlichen Intervention und einer möglichst gerechten Würdigung der erhobenen Beschwerden zu begegnen.

„Ich wurde durch begütigende, wenn auch entschiedene Rede Herr der Situation. Ich prüfte das Vorgehen der Fabrikanten wie das der Arbeiter und suchte, unter der Bedingung, daß diese vor allem andern zu ihrer Pflicht zurückkehrten, ihnen Recht zu schaffen, wo sie dies verdienten,“ sagte mir der Polizei-Präfekt. „Man kennt übrigens,“ fort er fort, „das russische Volk schlecht, wenn man ähnliche Vorgänge nach fremden Begriffen beurteilt. Die Demonstrationen am Krönungstage zum Beispiel, von denen man viel gesprochen, waren doch kaum mehr als Äußerungen des Übermutes. Das Volk wußte, dieser Tag gehöre ihm, und es habe nichts zu befürchten; hätten sich die Szenen wiederholt oder hätte man ihnen entgegengewirkt, dann wäre die Sache, ärger geworden — so war all das nur ein Putsch ohne innere Bedeutung, und der Streik? Nun, wir glaubten anfangs, er trage einen internationalen Charakter, indem er von außen veranstaltet sei. Dies war glücklicherweise nicht der Fall. Seine Anstifter sind Russen, die nötigen Geldmittel kamen nicht aus der Fremde, sondern wurden hier von Arbeitern, die früher Ersparnisse gemacht hatten, zusammengeschossen. Wir haben keinen Sinn für die europäischen Schlagworte, und die Bestrebungen der Sozialisten berühren uns vorläufig, Gott sei Dank, nicht.“

Ähnliche Versicherungen kann man hier oft wiederholen hören.

„Die weiteuropäischen Ideen machen Halt an unserer Grenze,“ behauptet man, „viele Vorschläge des fremden Geistes bleiben deshalb auf russischen Boden ohne jegliches Verständnis. Wir werden immer taub für sie sein. Man predigt uns die parlamentarische Idee! Wir gedenken noch zu warten, ehe wir sie hier verwirklichen. Der Parlamentarismus besteht eine Krise in Europa, vielleicht zeitigt sie neue Formen, die besser sind, als die bisherigen. Mit diesen wollen wir es dann versuchen; auch mit dem sozialistischen Gedanken möchten wir es ähnlich halten, jetzt bekümmert er uns wenig, teilweise sind ihm Volk und Arbeiter zuvorgekommen, teilweise enthält er nur, was dem weiteuropäischen Geschmacke entspricht. Dieser hat Russland stets gleichgültig gelassen.“

Ist diese letztere Behauptung richtig? Die Geschichte sagt Nein. Die Abhängigkeit Russlands von den geistigen Strömungen der gebildeten Welt ist eine sehr große.

Erst als in den westlichen Staaten Europas der Übermut des Adels Einschränkung und Demütigung erfuhr, ermannten sich die Zaren zu dem Kampfe gegen ihre feudalen Bojaren; der Zornesruf reformbegeisterter Mönche gegen die Ausschreitung der Kirchenfürsten fand sein Echo in Russland; Savonarolas Wort widerhallte in seinen Klosterzellen, Luthers Lehre entfesselte eine Bewegung, die das Verhältnis von Staat und Kirche auf völlig neue Grundlagen stellte; auch der Einfluss der späteren Aufklärungsepoche grub seine Spuren in die Entwicklung Russlands; Peter der Große, Katharina II. waren nur Nachahmer gleichgesinnter fürstlicher Nachbarn; die Beschränkung der Kirchengüter und Klöster erfolgte nach josephinischem Muster; die Ideen der französischen Revolution drangen in den Winterpalast, die Enzyklopädisten herrichten hier sehr mächtig und ein Jakobiner, Laharpe [Frédéric-César de la L. (1754-1838) war ein Schweizer Politiker], wurde zum Lehrer eines Zarewitsch — als dann die große Rückströmung begann, sank Alexander I. zu dem mystisch-gläubigen Nachbeter Metternichs herab.

Dies muß man im Auge behalten, will man den richtigen Wertmesser für die russischen Vorgänge gewinnen.

„In der seltsamen Erscheinung,“ erklären mir Kenner der hiesigen Verhältnisse, „daß alle unsere Städte denselben Krönungsputsch hatten, liegt ein tieferer Grund. Das Volk demonstrierte gegen das drückendste Unrecht in unseren Einrichtungen, gegen die übermäßige Gewalt der Polizei.“

Tatsächlich ist die Polizei in Russland der stärkste Ausdruck der Staatsmacht. Ihr inquisitorischer Geist meistert alles. Er tötet geistige Regungen und streckt unschuldige Opfer grausam zu Boden. Zum ersten Mal wagt es jetzt die Presse, gegen diese lähmende Übermacht ihre Stimme zu erheben. Mit der Beredsamkeit des ungerecht Unterdrückten fordert sie, daß Russland von der Sklaverei der Geister befreit werde, nachdem die Leibeigenschaft längst aufgehoben wurde.

Gerade inmitten dieser Kämpfe der öffentlichen Meinung sahen wir einen hohen Funktionär der Polizei seines Amtes mit schrankenlosem Übermute walten.

Als die Krönungskommission, die der Zar persönlich eingesetzt hat, in Moskau erschien, fand ihr Vertreter General Beer bei dem Moskauer Polizeimeister Wlassowski die schlimmste Aufnahme.

„Ich anerkenne keine Verfügungen dieser Kommission,“ meinte der Gewaltige barsch zu dem Vertreter des Hofes.

Er glaubte im Rechte zu sein. Die Polizei steht in Russland höher als Gericht und Administration. Als in der Nacht vor dem Chodinka-Unglücke die Polizei von den Offizieren, die am Felde Wache hielten, vom General Beer, dem Vertreter des Fürsten Woronzow-Daschkow, um ein helfendes und rettendes Einschreiten bestürmt wurde, blieb sie taub und ungerührt.

„Ich konnte nicht überall sein, ich war im Kreml zum Schutze des Zars,“ meinte später Wlassowski zu seiner Verteidigung.

Diese Ausflucht war erlogen. Durch die Umgebung des Kaisers ist festgestellt, daß dieser die Nähe des Polizeimeisters nicht wünschte, daß ihm kein Schutz gewährt wurde und auch keiner nötig war. Um sieden Uhr Morgens, nach dem Unglücke, war nach Angabe des kaiserlichen Hausministers der Polizeimeister noch immer unauffindbar.

Die Polizei ist so mächtig, daß selbst ihr Moskauer Vertreter trotz dieser Sünden Verteidiger fand. Sie verwiesen auf den Beginn seiner Tätigkeit in Riga. Dieser war schimpflich genug. Wie der berühmte Polizeityrann Trepow hatte auch Wlassowski einen jungen Studenten grausam zum äußersten getrieben, wie jener hatte auch er ein gefährliches Attentat zu bestehen; aber Trepow stand der Pistole Wjera Sassulitschs gegenüber, das Opfer Wlassowskis züchtigte den kleinen Provinztyrannen mit Ohrfeigen. Alexander III. beförderte ihn hierfür; der Kriegsminister Wannowski aber erklärte mürrisch: „Der Kaiser tue wie es ihm gefällt; so lange ich Einfluß habe, soll Wlassowski nie einen hohen militärischen Grad erhalten.“

Der Minister hat sein Wort ehrlich gehalten; bis zu seiner ungnädigen Entlassung suchte der Polizeimeister vergeblich eine Gelegenheit, zu avancieren.

Solcher Wlassowskis zählt Russland viele. Sie herrschen in Nord und Süd, nicht immer sind sie ehrlich wie das Moskauer Original, nur zu häufig zeigen sie den Geist des berühmten „Revisors“, der seine begehrliche Hand Arm und Reich entgegenstreckt.

Muß der Zorn des Volkes gegen eine so feile und pflichtvergessene Autokratie nicht immer wieder auflodern? Nikolaus II. glaubte ihr ein wichtiges Strafgebiet zu entziehen, indem er der administrativen Verschickung Schranken setzte; leider hat dies den alten Missbrauch bisher nicht wesentlich berührt.

In Nischni-Nowgorod erhebt sich am Ufer der Wolga ein düster-schwermütiger Bau. Er blickt gebieterisch über den breiten, meeresgleichen Strom zu der großen Messestadt hinüber, die zu Zeiten, wo ihr reges geschäftliches Leben noch nicht begann, wie Dornröschen in totenähnlichem Schlafe ruht. Au der nämlichen Stelle der heutigen Zwingburg von Nischni stand vor Jahren ein armseliges Haus mit Wänden aus geflochtenen Zweigen. Ein Zar von milder Gesinnung erbaute es, er hatte den Vorschlag angenommen, den Verbrechern nicht mehr nach altem russischen Brauche Arme und Beine abhauen zu lassen, sondern sie nach Sibirien zu schicken. Seither nehmen an dieser Stelle die Verbannten Abschied vom europäischen Boden. Zu Zeiten wie die der Krönung, in weichen die kaiserlichen Gnadenakte reichlich stießen, steht das Gefängnis leer und unbewohnt, sonst ist es erfüllt von dem Jammer, den {b]Mereschtschagin[/b] [Wassili M. (1842-1904) war ein berühmter russischer Kriegsmaler] malte und den die russische Dichtung in wildem Unmute schilderte.

„Ewig tönt der helle Sang der Lerche, ewig auch der dumpfe Schmerz!“, wehklagte hier einer der russischen Unsterblichen!

Lebt die Hand noch nicht, die Träne zu trocknen, welche in diesen Worten zittert?!


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland - Momentaufnahmen