Das Ministerium. — Witte. — Lobanow. — Sein Tod. — Ferdinand von Bulgarien.

Die Räte des jungen Zars find meist dieselben, die Alexander III. dienten, Durnowo der Präsident, und Pobedonoszew, der bekannte Vertreter und Leiter des russischen Kirchenwesens, bilden den am entschiedensten nach rechts strebenden Teil des Ministeriums; im übrigen ist dasselbe von minder prononcierter Färbung, und es folgt fügsam der Richtung, welche die herrschende des Tages ist. Goremykin, der Chef des Departements der innern Angelegenheiten gilt bei Optimisten sogar als liberal, der Kriegsminister Wannowski schwankt in seinen politischen Meinungen, beschränkt sich auf sein Ressort oder auf die wie allerorten auch hier geltende Gepflogenheit, entscheidende Abstimmungen durch Kompromisse herbeizuführen.

Von den Ministern des verstorbenen Kaisers gilt der Finanzminister Witte als der aufgeklärteste. Er ist wie sein der Amtszeit nach viel jüngerer Kollege, der ehrliche Chilkow, einer der Männer, die sich selber schufen und ihren Wert durch eigene Kraft gewannen. Vom Bahnbeamten, vom Chef einer Eisenbahnstation hatte er sich zu dem Leiter des Finanz- und Handelsamtes emporgeschwungen und, wie natürlich, auf diesem weiten Wege zahlreiche Feinde gefunden. Keiner von ihnen bestreitet seine Begabung. Er ist nicht nur kenntnisreich, besitzt nicht nur ein starkes Organisationstalent, seine Eingebungen lassen ihn nicht bloß glückliche Konzeptionen finden, er besitzt auch die für einen Minister seltene Gabe des Fleißes und die noch seltenere Kunst, tüchtige Kräfte zu finden und neben sich zu dulden. „Er ist ein Arbeiter und versteht es, für sich arbeiten zu lassen.“ Das will viel heißen in Russland, wo man den Eifer im Amte wenig kennt, und wo die Bureaukratie noch häufig in orientalisch beschaulichem Gleichmut ihre Pflicht ausübt. Witte hat das Bahnnetz Russlands wesentlich erweitert, und er ist fortwährend bestrebt, neue Schöpfungen auf diesem Gebiete ins Leben zu rufen. Handel und Wandel gewinnen hiedurch, und der Kriegsminister findet, daß sein rühriger Kollege ihm die Mühe, die Trappen von einer Grenze des Reiches zu der anderen zu schieben, welche sonst zwei Jahre erforderte, wesentlich erleichtert hat. Wenn erst das ganze geplante Schienennetz vollendet, die sibirische Bahn befahren sein wird — was zu Beginn des nächsten Jahrhunderts der Fall sein soll — dann kann Russland seinen Mobilisierungsplänen europäischere Berechnungen zu Grunde legen als heute. Auch als Handelsminister hat Witte seine Verdienste, er holte sich Mitarbeiter, wo sie zu finden waren — wenn nötig, aus dem Kreise der radikalsten Theoretiker. Einer seiner Sektionschefs, der das Referat über Arbeiter- und sozialpolitische Fragen führt, war zur Zeit Alexanders II. unter den Angeklagten, die ihre schriftstellerische Tätigkeit als eine anarchistische zu verteidigen hatten. Es war gewiß nicht leicht, ihm den Weg zu Amt und Würde zu bahnen, und der Finanzminister brauchte hiezu all die Energie, die ihm innewohnt.


Mit derselben Eigenschaft und seiner ganzen zielbewussten Zähigkeit hatte Witte auch die Währungsfrage für Russland entschieden, denn das ist sie — seit der Minister-, der Reichs- und Staatsrat das Projekt der Goldwährung im Prinzipe und zum großen Teile auch in seinen Ausführungsbestimmungen genehmigt haben. Die Beendigung des Werkes ist aus rein technischen Gründen für kurze Zeit vertagt, aber der Metallschatz für die Goldreserve ist durch die letzte Pariser Anleihe auf der entsprechenden Höhe; die Münzprägung hat begonnen und war schon so weit vorgeschritten, daß man eigentlich den definitiven Abschluß der Währungsreform mit den Krönungsfesten verbinden wollte. Man sieht bereits Gold und Silber im Lande und kann beobachten, wie die Einführung des neuen Systems denselben Schwierigkeiten begegnet wie in Österreich. Nicht nur, daß die Bevölkerung argwöhnisch auf die ungewohnte Metallmünze blickt, die ihr minder bequem und angenehm erscheint, als das leichte Papiergeld, auch die Feindseligkeit der jedem Fortschritte abholden politischen Richtung äußert sich genau so wie dort. Wenn es richtig ist, wie der französische Ministerpräsident jüngst meinte, daß das Ideal politischer Reife mit der parteilosen Beurteilung wirtschaftlicher Fragen zusammenfalle, so ist man von diesem Zustande in Russland, wo es eigentlich keine Parteien, sondern nur geistige und politische Strömungen gibt, genau so weit entfernt wie anderorts. In Petersburg haben die reaktionär Gesinnten gegen die Goldwährung mit denselben flachen und bildungsarmen Argumenten gestritten, welche in Wien die Klerikalen und Agrarier in Umlauf brachten. Die „Poesie des Papiergeldes“ wurde auch hier besungen, der Wahnwitz, daß eine gesunde Regelung der Geldverhältnisse zu dem Ruine des Landes führt, ist auch in Russland gepredigt worden. Über die Relation, die hier nach anderen Prinzipien bestimmt ist, als in Wien und Pest, wurde genau so und mit den nämlichen Gründen heftiger Haltlosigkeit gestritten. Sie wurden in der Presse, im Staatsrate, im Ministerium laut. Trotzdem ist der Finanzminister Sieger geblieben. Er hat sein Projekt im Reichsrate mit einem Vortrage verteidigt, der als ein Meisterwerk gilt. Der Sektionschef von ehedem dozierte mit der genauesten Sachkenntnis die große wirtschaftliche Frage und wirkte hiedurch so überzeugend, daß ein Gegner nach dem andern in sein Lager überging; er wies nach, wie die reichen Länder zu einem geregelten Münzverhältnisse nach bestimmten wirtschaftlichen Gesetzen kamen; er fand die interessantesten Vergleichungspunkte für die in Österreich und Russland beabsichtigten Reformpläne. Zug für Zug folgte er den in Wien eingeschlagenen Wegen bis zu jener Enquete der wirtschaftlichen und finanziellen Autoritäten Österreichs, deren Beratungen in der Fremde eine viel höhere Würdigung und Wertschätzung finden, als in der flüchtigen Heimat; er zeigte, wie Russland rascher zur Aufnahme der Barzahlungen kommen werde, als das benachbarte Österreich, er kritisierte mit dem schärfsten Spotte die in Petersburg verteidigte Anschauung, daß man geduldig mit der Regelung der Valuta warten müsse, bis die natürlich zu gewärtigende und immer mehr fortschreitende Festigung der Finanzen sie von selbst herbeigeführt hat — er geißelte endlich die Theorien der Bimetallisten, die er als einen der stärksten wirtschaftlichen Irrtümer des Jahrhunderts bezeichnete. Dieser Vortrag des Ministers hat die Frage entschieden.

Er ist natürlich von Bedeutung für seine persönliche Stellung, denn die Intelligenz hat hier — vielleicht gerade weil sie auf einen verhältnismäßig kleineren Kreis beschränkt ist — einen höheren Anwert, als man gewöhnlich glaubt.

Dadurch ist das unbehinderte, rücksichtslose Walten starker, die bestehende Ordnung heftig befehdender Naturen, denen man hier häufig genug zu begegnen pflegt, erklärlich. Man denke nur, wie einem Manne von der Art Tolstois, der nicht nur in Romanen und freien Gebilden der Phantasie, sondern auch in kühnen Abhandlungen die sozialen Zustände geißelt, dem Militarismus die tiefsten Wunden schlägt und den monarchischen Gedanken schonungslos bekämpft, in Staaten mit freieren Gesetzgebungen, als sie Russland besitzt, mitgespielt würde. Hier ließ ihm ein Monarch von den Gesinnungen des verstorbenen Kaisers bedeuten, „er möge seiner Überzeugung folgen, man werde ihm nichts tun“.

„Allerdings,“ sagt man mir: „Diese Anerkennung geistiger Bedeutung ist nicht ganz freiwillig. Man schweigt im Publikum, wenn das Mittelmaß drangsaliert wird, man erträgt auch ruhig die Strafe der Konfiskation, die der Verbreitung einer Schrift oft mehr förderlich als hindernd ist — sollte man jedoch wagen, einem Genie wie Tolstoi ein Haar zu krümmen, so würde dies eine geistige Bewegung entfesseln, welche die drakonischsten Mittel nicht einzudämmen vermöchten.“

Auch der talentvolle Mann, der des hiesige Finanzministerium leitet, hat vieles von der Art lebhafter Temperamente, welche die Heerstraße verschmähen. Er zügelt seine Rede nicht, er ist streitlustig im Rate der Krone, er tut manches, was den Schablonenmenschen Schreck einjagt, dennoch steht er fest; sein Talent hält ihn.

„Witte,“ meinen die Kenner hiesiger Verhältnisse, „wird nie durch einen fachlichen Irrtum, nie durch irgend etwas fallen, was sein Ressort berührt, er kann nur durch eine seiner scheinbaren Unbedachtheiten und Rücksichtslosigkeiten straucheln, die er genau so wie ein größerer deutscher Staatsmann mit der Stellung einer ,hohen Excellenz‘ vereinbar hält.“ — Die Führung des Ministeriums liegt durchaus nicht in der Hand seines Präsidenten Durnowo, der nominell an der Spitze des Kabinetts steht. Er war unter Alexander III. im Besitze eines wichtigen Ressorts. Die Ereignisse, die mit der Entfernung seines Kollegen Kriwoschem zusammenhängen, haben ihn zur Höhe des Minister-Präsidiums hinauffallen lassen. Naturgemäß besitzt er nicht den Einfluß seiner Stellung. Derselbe ruhte bis vor kurzem in der Hand eines Staatsmannes, der erst im siebzigsten Lebensjahre seinen Ruhm gewann, um plötzlich jäh und unerwartet aus seiner Stellung gerissen zu werden. Dies ist der Fürst Lobanow Rostowski, der jüngst während einer Eisenbahntour von Wien nach Kiew von der Hand des Todes berührt wurde.

Dem Namen des Fürsten begegnet man wiederholt in der Geschichte Russlands. Der General, der 1806 berufen war, an der Spitze der Kalmücken, [die Kalmücken, auch Kalmüken oder Kalmyken geschrieben, sind ein westmongolisches Volk, das heute vor allem in Kalmückien siedelt. Der Begriff wurde bereits im 14. Jahrhundert von islamischen Historikern für die Oiraten verwendet und später von den Russen für an der Wolga siedelnde Splittergruppen der Oiraten übernommen] die er als Reserve herbeiführte, die erschütterten und flüchtigen Heere Alexanders I. neu zu kräftigen, war ein Lobanow. Er zeigte neben seinen guten kriegerischen auch staatsmännische Eigenschaften. Im heftigen Widerstreite mit dem leidenschaftlichsten seiner Kollegen, General Tolly, der als eine wilde Percynatur die Fortsetzung des Krieges predigte, mahnte er zum Frieden. Seine Meinung siegte. Als der Vertreter Alexanders I. ritt nun eines Morgens General Lobanow in das Heerlager des siegreichen Cäsar. Nicht Napoleon, ein Offizier mit Diplomatenblut empfing ihn — ein Neffe Talleyrands. Die Folge ihrer Unterredung, in der die Abneigung gegen England rasch eine Annäherung der beiden Offiziere bewirkte, war die Zusammenkunft der Kaiser und der Friede von Tilsit.

Natürlich kamen die Abkömmlinge und Verwandten eines Militärs von So hervorragenden Eigenschaften in der hohen Amtswelt rasch vorwärts. Auch Fürst Lobanow, der bis vor wenigen Monaten Minister des Äußern gewesen, ist ohne große Mühe die Stufenleiter des Glücks emporgestiegen. In jungen Jahren war er in leitender Stellung in Konstantinopel. Er lernte das Getriebe der diplomatischen Schule im Orient aus eigener Anschauung kennen. Eine Affäre mit romantischem Beigeschmack riß ihn aus seiner Stellung. Er mußte in die Heimat zurück, stand dort eine Weile zur Disposition und kam bald daraus als Amtsleiter in die Provinzstille des Orlower Kreises. In Orel, der Hauptstadt des Gouvernements, fielen seine Gabe rascher Auffassung, seine geistige Schmiegsamkeit, die dem ererbten, militärischen Äußern des Fürsten seltsam widersprach, seine durchaus europäische Denkweise und sein lebendiger Sinn für Literatur, mit deren Erfolgen er liebäugelte, angenehm auf. Er wurde — damals eine rara avis in Russland — ein wirklich populärer Kreischef. Man beließ ihn nicht lange auf seinem einsamen Posten; schon nach etwa acht Monaten wurde er in das Ministerium des Innern berufen; hier arbeitete er eine Zeit, um dann wieder von dem feineren und Geist erfordernden Geschäfte der Diplomatie angelockt zu werden. Er ging nach London, begründete seinen Ruf für europäische Kreise und kam später nach Wien. Wie den Orient hat er die beiden Rivalen Russlands im Osten, England und Österreich, genau studiert. Als ein Kenner ihrer Eigenart und ihrer Verhältnisse trat er in seine letzte hohe Stellung.

Wer ihn Nikolaus II. als den besseren Nachfolger des meinungs- und systemlosen Giers vorgeschlagen, ist unbekannt. Genug — eines Tages standen sich der Zar und sein zukünftiger Minister in einer bedeutungsvollen Audienz, gegenüber. —

„Ihr Programm?“ — fragte der Kaiser —

„Laissez moi faire et vous serez content.“

Mit dieser Antwort begnügte sich der Zar — sehr zu seinem Vorteile, denn mit kluger Hand hatte Lobanow mit seiner Politik einen Erfolg um den andern gewonnen und die bisher passive Rolle Russlands in eine aktive verwandelt. Allem Anscheine nach war seine ausgleichende Natur, seine Kunst, Gegensätze zu mildern und seine kluge Vorsicht auch auf die inneren Fragen von bestimmendem Einfluß. Trotz der offiziellen Versicherungen, daß man die Wege Alexanders III. beibehält, erschienen dieselben doch teilweise verlassen; man suchte offenbar die Bahnen, die zu einem vergünstigen, und reformfreundlicheren Absolutismus führen.

Noch, bevor man dies Ziel gewann, war Lobanow ein stiller Mann. Er hatte den Zaren nach Wien begleitet. Schon hier hat es an bedrohlichen Anzeichen nicht gefehlt, daß die Gesundheit des Fürsten völlig erschüttert sei. „Was tut's?“ tröstete er sich: „Eine Massagekur, ein kurzer Urlaub werden Erleichterung bringen.“ Die politischen Ereignisse bereiteten damals einige Sorge, die Vorgänge in der Türkei traten in ein gefährliches Bereich. Während der Rückkehr nach Russland, aus dem Wege nach Kiew, wo man der Einweihung einer Kirche des heil. Wladimir und der Enthüllung eines Denkmals Nikolaus' I. beiwohnen wollte, gab es aufregende Konferenzen und wichtige Entscheidungen. Als man sich nach dem Diner eines heitern Augustabends für kurze Zeit Erholung gönnte, der Kaiser in seine Waggonappartements und Lobanow in den kleinen Saal des Ministerwagens zurückgekehrt war, fesselte vor der kleinen Station Schehetoska hübsches Waldgrün, das die Eintönigkeit der ebenen Landschaft unterbrach, die Aufmerksamkeit des Kaisers. Wie auf der Reise nach Nischni, wandelte den Zaren die Lust an, die Fahrt zu unterbrechen. Ein Druck auf den Knopf wie damals. Der Zug hielt still. Die Absicht des Kaisers war bekannt geworden, alles entstieg den Waggons — auch Fürst Lobanow. Er schien erregt, sein Antlitz röter als sonst stammte förmlich, die blauen Stirnadern traten unheimlich hervor. Er war — mit Anstrengung wenige Schritte gegangen, als er sich im Grase niederlassen mußte. Er litt an Herzkrämpfen, denen Ruhe wohl zu tun pflegte. Diesmal war der Anfall heftiger. Der Fürst blieb wie ein Schwerverwundeter regungslos am Boden, sein Herz klopfte mit heftigen Schlägen. Die erstaunte Umgebung wußte nicht, was sie beginnen solle. Da geschah, was eigentlich niemand erwartete. Lobanow erhob sich, sank nach rückwärts, sein erlöschendes Auge blickte hilflos Rettung suchend in unheimlicher Starre um sich, ein schwerer Seufzer wurde hörbar — der Minister, dessen geistige Überlegenheit zwei Welten, Europa und Asien, beherrschte, war ein kraftloser Mann geworden, er war tot.

„Ist er vor Schreck gestorben? Hat ihn das plötzliche Halten des Zuges erregt?“ flüsterte es in der Nähe des Zaren, der entsetzt und mit den rührendsten Zeichen der Teilnahme herbeigeeilt war.

„Nein,“ sagten die Arzte, „seine Uhr war abgelaufen. Er war schon vor der Reise nach Wien nur mühsam zu erhalten. Die Gefäße seines Herzens waren verkalkt, sein Organismus gebrochen, der Tod mußte kommen, er war nur eine Frage der Zeit.“

Russland beklagte das Hinscheiden Lobanows als einen schicksalsschweren Schlag. Er hatte in anderthalb Jahren alle Fehler Alexanders III. ausgeglichen und die europäische Machtstellung des seiner Leitung anvertrauten Staates auf eine Höhe gehoben, die er seit den Siegen von 1812 nicht mehr besaß.

Auf dem Gebiete der äußern Politik, der eigentlichen Domäne Lobanows, war dieser indessen so wenig allmächtig als der Zar in seiner Stellung. Wie der Kaiser von zahlreich ineinanderfließenden Stimmungen abhängig erscheint, so kann auch der Minister des Äußern in Russland die Traditionen und Auffassungen nicht verleugnen, die seit Jahrhunderten sichtbar und unsichtbar das Gewebe der rassischen Politik bestimmen, merklich und unmerklich zu unausgesetzt verfolgten Zielen streben.

Wo diese liegen? Wer weiß es nicht.

Sie wurden zum erstenmal der Welt erkenntlich, als einer der noch wenig bedeutenden barbarischen Beherrscher der Russen, Swiatoslaw, zu den Toren Konstantinopels drängte. Trotz seines Bündnisses mit den Bulgaren wurde er von den Griechen bei Silistria [Die Festung Silistra ist eine Festung im Festungsviereck Silistra-Warna-Schumala-Rustschuk in Bulgarien am rechten Ufer der hier 2½ km breiten Donau, früher eine strategisch wichtige türkische Festung] schmählich auf das Haupt geschlagen. Bevor er Frieden schloß, forderte er von seinen Siegern, den Kaiser Johann sehen zu dürfen. Dieser gewährte die Bitte. Im Pompe von Byzanz, in vollem Glanze, in Seide und Sammet, gefolgt von einer nach Taufenden zählenden Heerschar, zog der Kaiser dem gedemütigten Heiden entgegen. An den Ufern der Donau begegneten sich der Fürst einer alt-neuen Kultur und der rohe Barbar. Dieser war den Fluss herabgerudert; umgeben von seinen Matrosen, lenkte er selbst das Steuer. Als der Kaiser ihm die Hand reichte, gewann die schlichte Haltung des Fremden, sein blaues Auge, der Ausdruck seines eigenartigen Gesichtes, das ein dichter Bart und zwei lange, die Wangen herabgleitende Locken beschatteten, sein einfaches Kleid von blendend weißer Leinwand, Anhänger unter seinen Feinden. „In Konstantinopel“, flüsterten sie ihm zu, „steht eine Reiterstatue des Gründers dieser Stadt, auf dem Hufe des Pferdes ist eine Inschrift eingegraben, daß Byzanz in Zukunft den Russen gehören werde.“ Diese Mythe schuf Geist und Seele der russischen Politik. Der Islam gewann für eine Zeit Oberhoheit über die Zaren; sie hörten nicht auf, den sehnsüchtigen Blick zu den Ufern des Bosporus zu wenden — dann erfolgte wie im Kampfe von Hamlet und Laertes ein überraschender Wechsel in der Fechterstellung der beiden Gegner, der Türken und der Russen — der alte Traum gewann erhöhten Zauber. Er ist bis heute nicht ausgeträumt, nur erscheint im Augenblick sein Reiz auffallend abgeschwächt. Das ist die Folge des letzten Krieges. Die öffentliche Meinung will keine Wiederholung des Kampfes mit dem Erbfeinde, sie wünscht auch nicht, daß man neuerlich den Bestrebungen Vorschub leiste, die am Balkan Unordnungen schaffen und Russland in Mitleidenschaft ziehen könnten. In den Städten wie in den Dörfern, die intelligent genug sind, politischen Ereignissen zu folgen, berechnet man, wie wenig an Glück und Vorteil die Kriege der Zwanziger-, Fünfziger- und Siebzigerjahre gebracht — wie wenig auch an Dank. Das vorherrschende Gefühl den Brudernationen am Balkan gegenüber ist, daß sie sich der Opfer an Blut und Geld, die Russland brachte, nicht würdig zeigten. Das erklärt — zum Teile wenigstens — die Erscheinungen der heutigen russischen Politik, ihr aufrichtiges Ruhebedürfnis, den Waffenstillstand mit der Pforte, das Fallenlassen der Irrtümer, die Alexander III. in Bulgarien beging.

Ferdinand, der nun mit Russlands Hilfe anerkannte Fürst von Bulgarien, hat durch diesen Umschwung die besten Früchte eingeheimst. Er ist, als er zum erstenmal in Petersburg erschien, mit höchsten Ehren und voller Herzlichkeit aufgenommen worden; dieser Empfang bedeutete das öffentliche Einbekenntnis, daß die Politik Kaulbars' [war ein General der russischen Armee und Forschungsreisender] endgültig gefallen sei. Auch während der Krönungszeit war der Fürst Gegenstand mancher Sympathie-Kundgebung, freilich mußte er diesmal schon bescheidener zurücktreten und jene Nebenrolle annehmen, die den „Fürsten des Orients“ in den Festwochen beschieden war. Sah man sie bei der großen Militär-Revue in achtungsvoller Entfernung hinter dem Zar als ihrem Führer wie Statisten in einem glänzenden Schauspiele einhertraben, dann fühlte man wohl, daß von ihnen jeder zum „Gefolge“ des eben gekrönten Fürsten zähle. Aber auch in dieser Umgebung und auf diesem Boden hatte Ferdinand von Bulgarien eine bevorzugte Stellung gewonnen. Man kennt ihn hier offenbar genau mit seinen Mängeln und mit seinen Vorzügen, die auf dem Balkan doppelt zählen; Intelligenz, kluge Kunst diplomatischer Berechnung sind dort auf den Thronen nur selten mit den Erziehungsvorzügen gepaart, die Fürst Ferdinand seiner Geburt und Familie dankt; das fühlt man, und das ist auf seine Stellung von demselben Einfluß, den ähnliche Eigenschaften für das Ansehen der rumänischen Königsfamilie haben. Der König von Serbien leidet unter der Unzuverlässigkeit der Belgrader Kreise, wie unter den Sünden seines Vaters; der König von Griechenland scheint durch Verbindungen, die Athen an London und Berlin knüpfen, den intimeren Zusammenhang verloren zu haben; der Fürst von Montenegro endlich, den Alexander III. so impetuös [stürmisch]als Russlands „einzigen Freund“ feierte, hat sich zeitweilig als ein zu „teurer Freund“ erwiesen. Sein ebengemachter Versuch der Gründung eines christlichen Balkanbundes ist hier gewiß nicht unsympathisch, denn er entspricht dem, was früher slawophile [den Slawen, ihrer Kultur besonders aufgeschlossenen gegenüberstehend] Kreise als wünschenswert empfahlen; ob er dem Fürsten die alte Stellung vollständig wiedergibt, ist doch zweifelhaft. Er zeigte sich zu oft und an verschiedenen Orten zu geldbedürftig. Natürlich müssen diese umstände dem Fürsten von Bulgarien, als dem Oberhaupte des militärisch und ökonomisch tüchtigsten Balkanvolkes, zu statten kommen. Man wird ihm nicht unbedingtes Vertrauen schenken; Beweis dessen die Sprache, die ein bekanntes Wochenblatt führt, dessen türkischer Redakteur „in Hemdärmeln“ ab und zu der Volksstimmung drastischen Ausdruck gibt. Er verspottet den Fürsten Ferdinand, weil dieser hier sein orthodoxes Herz entdeckte, von Kirche zu Kirche ging, an seinem Geburtstage sogar eine Messe hörte, die der Wundermann Johann von Kronstadt las. Aber Fürst Ferdinand ist selbst an alldem unschuldig, das Arrangement dieser Schaustellungen rührt von seinen hiesigen politischen Freunden her, deren treuer Zuversicht und kluger Ortskenntnis er ruhig sein Schifflein überlässt, um es durch alle Klippen des russischen Fahrwassers hindurchführen zu lassen. Ihre Kunst war während der Krönungsfeste auf eine harte Probe gestellt, als sie die Versöhnung der bulgarischen Offiziere versuchen sollten, die nun russische Untertanen sind und Stambulow zu Trotz Ausnahme in die Armee gefunden haben. Die russischen Offiziere waren hierüber nie erbaut. Wir wissen aus dem Munde einzelner von ihnen, daß, als in Moskau die bulgarischen Kollegen den Einzug des Zars mitfeiern wollten, sie von den im Lande geborenen Kameraden zurückgewiesen wurden.

„Ihr seid keine Russen,“ sagte man ihnen, „ihr habt nichts zu tun mit dem Feste von heute!“

Das zeigt die Stimmung, die hier gegen die wortbrüchigen Helden einer Episode herrscht, an die eigentlich jetzt niemand erinnert sein will. Nun höre man aber, mit welcher Kühnheit diese nämlichen bulgarisch-russischen Offiziere, die doch mir politische Verschwörer sind, in die Verhandlungen traten, die mit ihnen durch General Komarow als Bevollmächtigten des Fürsten Ferdinand begonnen wurden. Die Bedingungen, die sie als Preis für ihre Versöhnung stellten, waren die folgenden:

1. Nachzahlung der Gage, die sie während der Zeit ihres Exils aus den bulgarischen Regimentskassen nicht erhalten konnten.

2. Volle Einsetzung in den Rang, den sie seither hätten erreichen können, also sofortige Ernennung der am meisten Gravierten zu Generalen und Leitern der bulgarischen Armee.

3. Entfernung des Kriegsministers Petrow und all seiner verlässlichen Anhänger in der Armee.

Ehe diese Präliminarien bestimmt wurden, hätte Fürst Ferdinand eine Unterredung mit den Wortführern seiner früheren Gegner haben sollen; Zeit und Ort für dieselbe waren schon festgesetzt. Sie kamen nicht, weil sie forderten, daß, bevor sie erscheinen, ihnen die Erfüllung all ihrer Wünsche förmlich gesichert werde. Konnte ein so wahnwitziges Verlangen irgend jemandes Billigung finden?

Was diese Umstürzler wollen, ist ein Verrat an allem, was zu Recht besteht in Bulgarien. Der Fürst ist anerkannt, aber diese Offiziere, deren Name sich nur durch Mordversuche in die Geschichte schlich, deren Lügengewebe die Irrtümer der Kaulbarsschen Schule verursachte, die das offizielle Russland abgeschüttelt hat, fordern, daß man um den Preis einer militärischen Empörung ihnen den Weg nach Bulgarien ebne. Es gibt keinen Thoren, der so viel zu Gunsten von einer Handvoll Leute wagen möchte, die bisher doch nur Ekel und Abscheu der von sittlichen Empfindungen beherrschten Welt geweckt haben!


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland - Momentaufnahmen