Zehntes Kapitel. Verarmung und Hungersnot

In einem Lande von der Ausdehnung des Teiles des russischen Reiches, von dem die Rede ist, und von der Mannigfaltigkeit der natürlichen Bedingungen, wie sie dort trotz äußerer Gleichförmigkeit vorkommen, können die wirtschaftlichen Zustände der örtlichen Verschiedenheit nicht ermangeln, die aus der Ungleichartigkeit von Boden, Menschen, Lage u. s. w. entspringen. Kleinrussland und Neurussland unterscheiden sich zum größeren Teil vorteilhaft von dem Zentrum. Sie leiden weniger von dem Gemeindebesitz, der dort, wenn nicht gesetzlich, so vielfach tatsächlich mehr als im Zentrum seine erstickenden Formen abgeworfen hat; in Kleinrussland besteht die Haftpflicht der Gemeinde für die Steuern nicht. Starke deutsche Einwanderung hat zur Belebung des Landbaues beigetragen. So ist der Wohlstand dort weit größer als im Zentrum, und gelegentliche Missernten wirken weniger verderblich. Es sind Grenzländer, auf die der Verkehr mit dem Westen einigen Einfluss übt Auch im Zentrum und im Osten findet sich hier und da ein wohlhabendes Dorf, ein reicher Bauer auf eigenem Grunde. Es finden sich große Herrschaften mit prächtigen Herrensitzen. Aber das sind Ausnahmen. Alle Angaben, auch die amtlichen, bezeugen einen allgemeinen Niedergang in dem Wohlstande dieses Gebietes, und wiederkehrende Hungersnöte bestätigen die Zeugnisse. Und hätten wir auch diese Zeugnisse nicht, so müssten wir aus dem, was wir über Boden und Arbeit, die beiden Hauptfaktoren aller Volkswirtschaft, wissen, den Schluss ziehen, dass es mit der russischen Volkswirtschaft in jenen Gebieten schlecht stehe.

„Der russische Acker", sagt LOCHTIN, „weist unzweifelhafte Anzeichen auf einer starken Erschöpfung an wertvollen Nährstoffen des Bodens, und die Missernten stellen sich als die Folgen der Erschöpfung dar."*) Das ist die fast allgemeine Meinung von der Sache, der nur die gewichtige Ansicht des Finanzministers gegenübersteht, wonach böses Wetter, Dürre oder Regen oder Frost die zufälligen und unvermeidlichen Ursachen der Missernten sind.**) Der einfachste Landwirt wird sich sagen, dass bei dem schonungslosen Raubbau, der auf dem Baueracker seit Jahrhunderten getrieben wurde und der seit Erbauung der Elsenbahnen auch auf den in Acker verwandelten ungeheuren privaten Ländermassen der Schwarzerde getrieben wird, eine Erschöpfung eintreten musste. Es ist überraschend, von dem Minister zu hören,***) dass es ein Zeichen des wachsenden Wohlstandes der Steuerzahler sei, wenn in den Jahren vor 1897 so gewaltige Kornmassen erzeugt und bei niedrigen Preisen ausgeführt werden konnten, während alles dafür spricht, dass diese Massen erzeugt und ausgeführt wurden aus den zwei Ursachen: stark erweiterter Raubbau und zunehmende Verarmung. In dem Missjahr 1897, das der Minister für eine vorübergehende Erscheinung hielt, lagen offizielle Daten bereits vor, die eine andere Anschauung begründen konnten. Die „Mosk. Wedom." brachte im Jahre 1898 über das große Wolgagebiet mit seinem verhältnismäßig noch frischen Boden folgende Mitteilungen aus jenen offiziellen Quellen:****) „Vor nicht langer Zeit sei das Wolgagebiet die Kornkammer Russlands gewesen, in den letzten 2 bis 3 Dezennien aber habe sich die Situation wesentlich verändert, beinahe alljährlich brauche die Bevölkerung Verpflegungsdarlehen. In diesem gewaltigen Rayon mache sich ein Sinken der Ertragsfähigkeit bemerkbar. Vergleiche man den mittleren Ertrag der Ernte des Gouvernements Samara im Dezennium 1883 — 1892 mit dem, welcher früher für die Norm gegolten habe, so stelle sich für die einzelnen Getreidearten folgendes heraus:


Feldfrucht / Mittlere Ernte / Normalernte in den Jahren 1883—1892
Roggen . . . . . . . . . 41,7 Pud v. d. Dess. . .30,4 Pud v. d. Dess.
Winterweizen . . 30,8 Pud v. d. Dess. . .27,6 Pud v. d. Dess.
Sommerweizen . 34,7 Pud v. d. Dess. . .25,5 Pud v. d. Dess.
Hafer . . . . . . . . . . . 33,8 Pud v. d. Dess. . .26,5 Pud v. d. Dess.
Gerste . . . . . . . . . . 33,5 Pud v. d. Dess. . .18,7 Pud v. d. Dess.
Dinkel . . . . . . . . . . 35,6 Pud v. d. Dess. . .23,5 Pud v. d. Dess.
Buchweizen . . . . 26,6 Pud v. d. Dess. . .21,5 Pud v. d. Dess.
Hirse . . . . . . . . . . . 32,9 Pud v. d. Dess. . .19,0 Pud v. d. Dess.
Erbsen . . . . . . . . . 31,9 Pud v. d. Dess. . .23,4 Pud v. d. Dess.
Kartoffeln . . . . .301,9 Pud v. d. Dess. .213,6 Pud v. d. Dess.

*) a. a. O. S. 212.
**) Vgl. die Budgetberichte des Ministers für 1898 und 1899.
***) Budgetbericht für 1898.
****) Relat der „St Petersburger Zeitung".


Diese offiziellen Daten zeigen, dass im Gouvernement Samara ein starkes Sinken der Ertragsfähigkeit sämtlicher Getreidearten beobachtet wird. Die gleiche Erscheinung wiederholt sich in den angrenzenden Gouvernements. Unter diesen Umständen ist es augenscheinlich, dass man sich nicht auf die Verpflegung der Notleidenden beschränken kann, da die Schwierigkeiten hierdurch nur vorübergehend erleichtert werden, die Wurzel des Übels aber nicht beseitigt wird. Ernstlich muss man sich mit der Besserung der Vorbedingungen für die landwirtschaftliche Produktion beschäftigen, um eine Festigung des erschütterten wirtschaftlichen Wohlstandes der Wolgagouvemements zu erzielen.“

Von eben diesem Gebiet hat uns „Das hungernde Russland“ im vorigen Jahre erschütternde Schilderungen gebracht. Große Dörfer, in denen die ganze Bevölkerung halb verhungert in den Hütten liegt, in denen es keine Mäuse mehr gibt aus Mangel an Nahrung, keine Katzen aus Mangel an Mäusen, keine Hunde, weil sie verhungerten — das sind Zustände, die vielleicht in den indischen Hungerländern ihre Parallelen finden, und die vielleicht aus ähnlichen Ursachen wie dort entstanden sind. In anderen Schriften haben wir gelesen, wie in den Dörfern die Bewohner sich das Essen abgewöhnen, indem sie sich einer Art von Winterschlaf hingeben, sich so wenig als irgend möglich bewegen, wodurch sie den Stoffwechsel im Körper herabsetzen und damit an Nahrungsmitteln und Heizung sparen. Solche Zustände sind natürlich weder allgemein verbreitet noch beständig. Aber eine Bevölkerung, die sich solchen Zuständen auch nur nähert, muss notwendig an ihrer Arbeitsfähigkeit stark einbüßen. Und in den letzten zehn Jahren sind die rein ackerbauenden Gubernien des Zentrums und Ostens solchen Zustanden sehr nahe gekommen.

Wie sollte eine Bauernschaft gedeihen bei so schlechter Qualität und so geringer Quantität der Arbeit? Der russische Bauer ist nicht zur Arbeit erzogen; er arbeitet ohne rechte Lust, er ermangelt der Stetigkeit, der Zähigkeit; er mag nicht andauernd lange arbeiten und nicht mehr, als für die nächsten Tage nötig ist. Dort im Gebiet der Schwarzerde aber gibt es für ihn nur im Sommer Beschäftigung, und auch dann eine durch Feiertage sehr verkürzte Arbeit. Im Winter kann er nur selten einige Kopeken verdienen. Und seine Arbeit ist oberflächlich, wie sein ganzer Ackerbau. Der Erdboden aber gibt nur dem seinen besten Segen, die sittliche Kraft, der in ihn Mühe und Schweiß in langen Jahren gelegt, der mit ihm verwuchs, dem die Scholle ein Teil seines Wesens geworden ist Bauer wie Edelmann sind dort keine rechten Landwirte in unserem Sinne. Sie versenken sich nicht in ihre Wirtschaft, sie ringen nicht mit dem Boden um die Frucht, sie beobachten nicht scharf, sie haben nicht die Geduld, um Jahre lang auf ein Ziel hin zu arbeiten, auch wenn sie es erkannt haben. Der Bauer hat nie mit dem Erdboden verwachsen können, weil dieser nicht ihm, sondern der Gemeinde gehört Der Bauer hängt am Dorf, nicht an der Scholle, die ihm nicht gehört, wie dem Edelmann nur an seinen Einkünften, nicht an seinem Grundbesitz gelegen ist Der Bauer aber, der eine Scholle sein Eigen nennt, liebt auch den Erdboden wie jeder Ackerbauer. Der Dorfbauer, der keine eigene Scholle hat, ist halber Nomade, und nomadenhaft ist auch die Behandlung des Erdbodens. Das reichste Kornland Europas ist in die Hand des nur wenig für den Ackerbau begabten Volkes gelegt. So kommt es, dass die Produktivität der Landwirtschaft in Russland geringer ist als in anderen Ländern sowohl aus äußeren wie aus innermenschlichen Gründen. Und das wirkt auf die Moral zurück, das erschlafft, entnervt das Volk. Der Russe ist nicht dazu geschaffen, durch sich und für sich selbst vorwärts zu kommen, sondern durch andere oder die Regierung; der Individualismus ist nur in Wenigen stark, die Masse bewegt sich am besten im Artel, in der Genossenschaft, oder auf Befehl einer Obrigkeit „Die allgemeinen Klagen, sagt NOWIKOW, über die Unordnung des Dorfes, die Armut des Bauern, seine Wildheit, über die schlechte Obrigkeit des Dorfes und der Wolost,*) über die Fäuste — alles das hat dieselbe Wurzel: es ist die hundertjährige Gewohnheit des äußeren Zwanges ohne die geringste Selbsttätigkeit von Seiten der Bauern.“ Passiver, willenloser Gehorsam gegenüber dem Leibherrn früher, jetzt gegenüber dem Polizisten, dem Landhauptmann u. s. w., zuletzt gegenüber der Gemeinde und ihrem Ältesten, aber nirgend persönlich eigener Wille, selbständiges Handeln außer dem Wollen und Handeln der Gemeinde, das erschlafft den Charakter der Masse und reizt einzelne Gewaltnaturen dazu, die Schwäche der Masse zu missbrauchen, zur Faust zu werden. Das hat auch den russischen Bauer zu einem so tüchtigen Soldaten erzogen, als welcher er bekannt ist: blind ist sein Gehorsam, er erfriert auf dem Schipkapass, weil man ihn dort hingestellt und vergessen hat; er muss in der Schlacht männiglich totgeschossen werden, weil er, geschlagen, nicht leicht sich zum Rückzuge wendet, solange der Befehl dazu nicht gegeben ist. Was eine Tugend bei dem Soldaten ist, ist ein Mangel bei dem freien Arbeiter, wenn diese Eigenschaft des Beharrens im Charakter, im passiven Wesen des Menschen begründet ist. Die Unselbständigkeit ist Volkscharakter, sie ist es, wenn nicht von Natur, so durch die Geschichte geworden. Und diese Geschichte, diese Erziehung zur Trägheit durch Knechtschaft und schlechte Regierung geht noch heute ihren Gang. Noch heute sind Kirche und Staat der Meinung, dass es besser sei, durch Vermehrung der Feiertage den Bauer an die Heiligkeit der Kirche und die Autorität des Staates zu mahnen, als ihn durch Beseitigung von Feiertagen zur Arbeit anzuhalten und von der Schnapsbude fern zu halten. Ja weit nachdrücklicher als ehedem der Edelmann, drückt heute der Beamte alle Selbständigkeit darnieder.

*) Die Wolost ist die erweiterte bäuerliche Gemeinde, in der mehrere Dorfgemeinden unter besonderer bäuerlicher Selbstverwaltung zusammengefasst erscheinen.

Ein erschöpfter Ackerboden, ein erschöpfter Körper, eine staatlich und kirchlich gelähmte Arbeitskraft, eine geistige und materielle Kultur, die seit 500 Jahren stillgestanden hat, das sind Voraussetzungen, die eine Konkurrenz mit anderen Ländern auf dem Gebiete des Landbaues äußerst ungünstig gestalten. Von Seiten des Staates aber geschieht nichts, um diese Arbeit, diese Produktionskraft zu stärken. Eher muss man das Gegenteil erkennen. Die Feiertage kosten dem Lande ungeheure Summen. Wenn man auf die 126 Millionen Einwohner nur 60 Millionen arbeitsfähiger Menschen annimmt, die täglich eine Arbeit im Wert von 20 Kopeken leisten, so entginge dem Volksvermögen mit jedem Feiertage ein Gewinn von 12 Millionen Rubel. Der Russe des Ackerbaugebietes hat, wie überall zu lesen ist, bis zu 150 und mehr Feiertage, also etwa 90 mehr als der Westeuropäer, von denen freilich die auf den Winter fallenden für viele unwillkürliche bleiben würden, auch wenn man sie von ihnen befreien wollte. Indessen sucht man den Arbeiter keineswegs davon zu befreien, sondern man vermehrt vielmehr obrigkeitlich die Feiertage, und man vermehrt das Nichtstun auch in den Landesteilen mit nicht bloß ackerbauender und nicht orthodoxer Bevölkerung, die gezwungen wird, neben ihren katholischen, protestantischen u. s. w. Feiertagen auch orthodoxe Namenstage und andere nicht kirchliche Tage zu feiern, die sie früher nicht feierte. In Geld berechnet müsste der auf diese Weise obrigkeitlich erzwungene Verlust an Arbeit sehr große Summen ergeben, und rechnet man hinzu, wie viel der Arbeiter an solchen Tagen auf Branntwein verwendet, so wäre der Verlust, der dem Volke aus den Feiertagen erwachst, mit 100 Millionen jährlich sicher nicht zu hoch bewertet. Es gewinnt der Staatssäckel durch den Branntweinverbrauch und die Kirche durch — „Gaben“. Wie vorteilhaft diese Gaben nicht nur für die Kirche, sondern auch für den Fiskus sind, sieht man aus folgender von einem in Perm erscheinenden Blatte gegebenen Schilderung. Der Pope oder der Diakon bestimmt einen Tag für Darbringung der Gaben.

„Und siehe da: wenn Tag und Stunde gekommen sind, dann sieht man die Leute herbeischleppen, was ihnen gerade an Vorräten zur Verfügung steht, wie Brot, Holz, Tee, Zucker u. s. w., u. s. w. Das „Väterchen“ aber empfängt sie alle höchst liebenswürdig und gibt ihnen auch etwas Gutes zu trinken. Dabei stehen Bewirtung und Gaben in einem gewissen Verhältnis; je besser die erstere ausfällt, desto reichlicher auch die Geschenke der Bauern. — In diesem Sommer wurde ins Dorf Woskressenskoje ein neuer Diakon übergeführt, der, da die Veränderung in finanzieller Hinsicht für ihn eine unvorteilhafte war, sich natürlich auf die Gaben angewiesen sah. Er redete daher mit seinen Gemeindegliedern, überzeugte sie und setzte den Termin fest, wo die „köstliche Gaben“ ins Haus strömen sollte. In der Tat wurde es für ihn ein recht gewinnbringender Tag, obgleich er für Branntwein allein 25 Rubel verausgabt hatte. Die Gäste jedoch kratzten sich nachher den Kopf, denn von der Freigebigkeit des Diakons hingerissen, hatte mancher fast sein Letztes fortgegeben und am folgenden Tage musste man außerdem auf eigene Kosten den Brummschädel kurieren. — Wo Branntwein gespendet wird, da fehlt es selbstverständlich nicht an Zank und Streit, daher sind die Gaben eine keineswegs erfreuliche Erscheinung, deren Beseitigung recht wünschenswert wäre."*)

So wird immer und immer wieder auf Ursachen hingewiesen, die sowohl materiell als moralisch den Verfall der Volkskräfte in den großrussischen Gubernien und besonders in den reinen Ackerbaugebieten zur Folge haben. Und die Erfahrungen geben diesen Hinweisen recht Die Tatsache, dass in jenen östlichen und zentralen Gebieten die Missjahre in beschleunigtem Tempo aufeinander folgen, ist unleugbar. LOCHTlN zählt von 1885 — 1899 sieben Missjahre; SCHWANEBACH zählt zwischen 1888 und 1898 (inkl.) vier Jahre, in denen die Regierung mit Staatsmitteln die Bevölkerung der kornreichsten Landstriche ernähren musste.**) Und das Jahr 1901 hat wiederum eine Hungersnot zu verzeichnen, die hauptsächlich eben jene zentralen und östlichen Gubernien umfasste, die schon vorher von den Missernten getroffen wurden. In diesem letzten Jahre war die Missernte nicht bloß über die Schwarzerde verbreitet; aber getroffen wurden wieder 22 Gubernien der Schwarzerde. 17 Gubernien und einige Bezirke Westsibiriens wurden vom Staate unterstützt. Einen Teil derselben Gebiete mit einer hungernden Bevölkerung von 12—16 Millionen***) bereisten die Herren LEHMANN und PARVUß, um die Hungersnot von 1897 und 1898 zu beobachten, und wenn man die Schilderungen dieser Herren, sowie die Angaben vieler russischen Gelehrten und Laien über denselben Gegenstand zusammennimmt, so kann man nicht zweifeln, dass die Hungersnöte wiederkehren und verderblicher wiederkehren werden als bisher. Auch in anderen Teilen des Reiches, auch in den Grenzprovinzen treten Missernten von ähnlicher Schärfe ein wie im Zentrum und im Osten; aber dort ist die Bevölkerung im Stande, ohne staatliche Unterstützung sie zu überwinden, nicht etwa dank dem besseren Boden, dem häufigeren Regen, sondern dank der besseren Arbeit und der größeren Sparsamkeit. Im Zentrum ist der wirtschaftliche Körper dazu zu geschwächt, weshalb die Missernten konstant werden.

*) Relat der „St. Petersburger Zeitung".
**) SCHWANEBACH, a. a. O. S. 101.
***) Nach Angaben in der Schrift „Das hungernde Russland".


Ich habe schon mehrmals darauf hingewiesen, wie misstrauisch man gegenüber der russischen Statistik zu sein berechtigt ist. Indessen kann man doch einigen Wert auf solche Angaben legen, die von dem Bestreben ausgehen, die Dinge eher zu hell als zu dunkel darzustellen. Zu solchen Angaben zähle ich die mehr oder minder amtlichen. Durch die schon angeführte, von hohen Finanzbeamten geleitete Untersuchung über das Gebiet der zentralen Schwarzerde*) wurde die Verarmung dieser Gebiete vollkommen bestätigt; sie führt sie auf drei Hauptursachen zurück: das Fehlen allen Verdienstes außerhalb des reinen Ackerbaues die dadurch gegebene Arbeitslosigkeit während der Hälfte des Jahres, und endlich die zu hohe Besteuerung, durch welche dem Lande sehr viel mehr zu allgemeinen Staatszwecken entzogen, als ihm vom Staat zurückgegeben wird. So wird angeführt, dass von 1894—1898 die zentralen Schwarzerdegebiete an die Staatskasse 106,4 Millionen Rubel im jährlichen Durchschnitt abgegeben, und nur 42,8 Millionen von ihr bekommen haben; der Osten gab 80 Millionen und bekam 59,2 Millionen Rubel. Die Schrift sieht hierin eine ungerechte Belastung, obgleich z. B. auch der Süden 122,6 Millionen gab und 64,8 Millionen bekam und andere Gebiete ähnliche Verhältnisse aufweisen. Aus der Schrift tritt die Tendenz hervor, jene verarmten Gebiete auf Kosten der reicheren zu unterstützen, also wieder die alten Wege mechanisch -bürokratischer Hilfeleistung zu gehen, ohne den Grundübeln: der schlechten Landwirtschaft, der Feldgemeinschaft, der fehlenden Selbsthilfe, entgegenzutreten. Gegen die Ergebnisse dieser Konferenz von Fachleuten wendet sich ein angesehenes Fachblatt mit folgenden Ausführungen:**)

*) POLENOW, a. a. O.
**) „Russkoje Bogatstwo."


„Es sei durchaus falsch, die Tatsache des Niederganges der bäuerlichen Wirtschaft auf die neun zentralen Schwarzerdegouvernements zu beschränken. Auch wenn man nur die Symptome berücksichtigen wolle, auf welche die Konferenz ihre Diagnose stutze, so müsse man die nämliche Diagnose auch den Bauerverhältnissen einer ganzen Reihe anderer Gebiete stellen. Das gewaltige Anwachsen der Steuerrückstände ist keineswegs eine spezifische Eigentümlichkeit des Zentrums, ja in den östlichen Gouvernements hat dieser Prozess noch größere Fortschritte gemacht. Ein Rückgang der Pferdezucht und eine dadurch bedingte Zunahme der spannlosen Bauernhöfe lässt sich auch in den östlichen und in einigen südlichen Gouvernements nachweisen. Eine Abnahme des Konsums der bäuerlichen Bevölkerung konstatieren die Spezialisten nicht nur im Zentrum, sondern auch in den westlichen Grenzmarken, die sich nach Ansicht der Konferenz in günstigen wirtschaftlichen Verhältnissen befinden. Selbst der gesegnete Süden Russlands hat Bekanntschaft machen müssen mit dem allgemeinen Prozess der Verarmung der bäuerlichen Bevölkerung: Neurussland und Bessarabien mit ihrem prachtvollen Boden, ihrem schönen Klima und ihrer dünnen Bevölkerung haben in den letzten Jahren Missernten erlebt, die den bäuerlichen Wohlstand total erschüttert haben.“

SCHWANEBACH gibt für 1893 an Steuerrückständen 119,3 Millionen an, von denen 110 Millionen auf das zentrale und das östliche Gebiet fallen.*) ISSAJEW gibt für 1896 an 146,5 Millionen, nachdem im Jahre 1895 8 Millionen Rückstände waren erlassen worden. Also in drei Jahren ein Zuwachs von 22 5/6 Millionen, von denen man 20 Millionen auf Zentrum und Osten schreiben kann. Laut Reichsbudget für 1900 betrugen, nach neuen Erlassen und Umrechnungen, die Rückstände zum 1. Januar 1899 im ganzen Reiche 116 Millionen. Wie ich schon früher anführte, beliefen sich die gesamten Rückstände an Loskaufzahlungen zum 2. Januar 1901 auf 250 Millionen Rubel, wovon ein großer Teil wieder auf Zentrum und Osten fällt Der Staat hat jene Gebiete unterstützt

      im Jahre 1891/92 . mit . 162 Millionen
      im Jahre 1898 . . . .mit . .35 Millionen
      im Jahre 1901 . . . .mit . .10 Millionen
      zusammen . . . . . . mit . 207 Millionen.

*) SCHWANEBACH, S. 36.
**) Vgl. die Budgetberichte dieses Jahres; darin sind zur Unterstützung der Notleidenden des ganzen Reiches 20 Millionen angesetzt. Davon darf man wenigstens 10 Millionen auf Rechnung des Zentrums und Ostens setzen.


Nimmt man die Rückstände und Erlasse von Rückständen bis zum 1. Januar 1899 für Zentrum und Osten mit nur 120 Millionen an, so hätte der Staat jenen Gubernien, da auf das Einfließen der nicht erlassenen Rückstände nicht zu rechnen ist, 327 Millionen gezahlt, und davon 207 Millionen im Laufe der letzten zehn Jahre. Hierzu kämen die Rückstände vom 1. Januar 1899 bis 1. Januar 1902, die sicherlich groß, für die notleidenden 22 Gubernien der Schwarzerde wahrscheinlich um ziemlich den vollen Steuerbetrag beider Jahre angewachsen sind, wodurch zu jenen 327 Millionen noch einige Zehnmillionen hinzukämen. Denn wenn nach neueren Mitteilungen die Rückstände seit 1896 um 153,5 Millionen Rubel wuchsen, und zwar angeblich allein an Loskaufgeldern, so kann man für jene 327 getrost 350 Millionen Rubel schreiben. Wenn man nun auch mit jener offiziellen Kommission annehmen wollte, dass der Staat von den Steuerbeträgen jener Gubernien zu viel für seine allgemeinen Bedürfnisse, für sich zurückbehält, so hat er dieses Zuviel der letzten zehn Jahre doch wohl reichlich mit 327—350 Millionen ihnen wieder erstattet. Eine noch stärkere Ernährung des Zentrums und Ostens durch die übrigen Landesteile wäre demnach zwar bürokratisch bequem, aber weder gerecht noch vernünftig, sofern im übrigen alles beim alten gelassen wird.

Wie wenig mit staatlichen Geldunterstützungen allein so verelendeten Zuständen, wie jene Gebiete sie aufweisen, aufzuhelfen ist, wird man aus dem „hungernden Russland" entnehmen können. Ich füge indessen noch zwei Zeugnisse russischer, nicht durch russischen Parteieifer oder gelehrten Beweiseifer verdächtiger Schriftsteller hinzu, aus denen der gleiche Schluss wird gezogen werden müssen, der sich dem Leser aus jenem ergreifenden, aber glaubwürdigen Buche aufdrängt. Der Nationalökonom GOLOWIN, der an den oben berührten, unter KOWALEWSKI vorgenommenen Untersuchungen über das Zentrum beteiligt war, schreibt:

„Die glänzende Fassade unserer wirtschaftlichen Lage hat somit einen sehr unansehnlichen Hinterhof. Einerseits die unzweifelhaften Zeichen der Entwicklung: das rasche Wachstum der Staatseinkünfte, die Belebung der bearbeitenden Industrie, die Erweiterung des Eisenbahnnetzes, die zunehmenden Einkünfte vom Eisenbahnverkehr trotz der Herabsetzung des Personentarifes, sowie die Erweiterung der Umsätze im Außenhandel. Andererseits der Rückgang der Ernte im Zentrum des Landes und gerade in den fruchtbarsten Gebieten, und zu gleicher Zeit die offenbaren Zeichen der wachsenden Verarmung der beiden Ackerbauklassen: die zunehmende Rückständigkeit der Bauern*) und die Verschuldung des privaten Bodenbesitzes, die fortschreitende Vermehrung des ländlichen Proletariats, der Stillstand des inneren Handels und endlich — als das Resultat alles dessen — der Stillstand im Wachstum der Bevölkerung des russischen Zentrums. Wie sollen diese scheinbar sich widersprechenden Erscheinungen in Übereinstimmung gebracht werden? Wie soll man sich erklären, dass der Staat sich bereichert und seine Wirtschaft erweitert, während die Wirtschaft seiner Untertanen in einem großen Teil des Reiches immer mehr dem Verfall entgegen treibt? Dass die verarmende Bevölkerung im Stande ist, immer größere Budgets zu bezahlen, dass die bearbeitende Industrie wächst und zugleich auch der Barvorrat der Sparkassen, während das Hauptgewerbe des Volkes und seine Fähigkeit sich zu vermehren, zurückgehen?“

Aus ganz anderen politischen Lagern ertönt eine Stimme, die der uns schon bekannte Landhauptmann NOWIKOW zum Ausdruck bringt.**)

*) d. h. an Steuern und Ablösungszahlungen.
**) Aufzeichnungen u. s. w. S. 141.


Er beruft sich auf eine Reihe von Artikeln der als konservativ-nationalistisch bekannten Zeitung „Grashdanin“ über die ländlichen Zustände im Reichsinnern, und führt unter anderen folgende Stellen an: „Das ganze zeitgenössische Landleben — das bäuerliche wie das gutsherrliche — ist ein vollkommener Widersinn und undurchdringlich finsterer Unsinn. Diese ungeheuren Entfernungen ohne fahrbare Wege, durchschnitten von eleganten Bahndämmen; diese ringsum benagten Landpaläste neben strohenen, in riesigen Lagern aneinander geklebten Hütten; dieser fette Boden, der die Saat nicht wiedergibt; dieses vorsintflutliche Gerät, das die Pferde schlachtet; diese ausgehungerten Pferde und Kühe auf unermesslichen Wiesen; dieses fromme, körperlich starke Volk, das 150 Tage im Jahr feiert und säuft; diese Kirchen, die die Sitten nicht bessern; diese Schulen, in denen die Schriftkunde nicht erlernt wird; diese Landschaften, aus zufälligen Parteien zusammengeschmiedet, die einander hassen; diese Vereinsamung auf der verzagten Fläche der Äcker; dieser geistige Hunger, der allmählich durch physischen Hunger vermehrt wird; dieses allgemeine, alle ergreifende Gefühl der Feindschaft, der Ichsucht, des Schreckens, und das über allem hinziehende, von den Stößen des Windes aus Nord, Süd, aus West und aus Ost hergetragene Stöhnen des russischen Pflügers: rette sich wer kann! — ist das etwa nicht ein Widersinn, ein Unsinn, wenn man sich erinnert, dass Russland — ein selbstherrliches und ackerbauendes Land und der russische Mensch fromm, befähigt und zähe im Ertragen ist? Wenn die Wurzel fault, gedeihen auch keine üppigen Aste.“ Der Landhauptmann fügt hinzu: „Liest man dieses, so erfasst einen unwillkürlich ein Schauder, und der Zweifel taucht auf, ob das wahr sei. Ach, jeder der im Dorf lebt, der das Land aufrichtig liebt, fühlt, dass der Verfasser, wenn er auch die Farben dick auftrug, doch unbedingt recht hat"

Dem Finanzminister können diese steten Klagelieder nicht unbekannt sein. Er selbst berechnet (Budgetbericht für 1902) den Minderertrag, den die Missernten der letzten fünf Jahre der Bevölkerung gebracht haben, auf eine Milliarde Rubel, zieht jedoch aus dem befriedigenden Eingang der Staatseinnahmen und dem schnellen Anwachsen der Ausgaben den Schluss, „dass in dem allgemeinen Wohlstande des Landes im ganzen keine Verschlechterung eingetreten sei." Wollte man in ähnlicher Weise, wie diese Milliarde herausgerechnet wurde, die Verluste zählen, die in diesen fünf Jahren in der Industrie erfolgt sind, so käme man vielleicht auf eine zweite verlorene Milliarde. Ist es nun erlaubt anzunehmen, dass Russland in fünf Jahren solche Summen verlieren kann, ohne an seinem Wohlstande Schaden zu leiden? Sollte nicht eher einiges Misstrauen in die Ziffern des Statistischen Zentralkomitees gerechtfertigt sein, die der Berechnung des Ministers zu Grunde liegen? Und sollte man nicht noch bedenklicher werden angesichts des Optimismus des Ministers, mit dem er an den Verlust jener Milliarde nur die Betrachtung knüpft, es „erhelle daraus, einen wie mächtig belebenden Einfluss auf die wirtschaftliche Lage des Landes und auf den inneren Markt die nächste reiche Ernte ausüben könnte?“ So pflegt wohl manch ein verschuldeter Gutsbesitzer sich über schlechte Ernten hinwegzutrösten; für einen Staatsmann ist solche Hoffnungsfreudigkeit gefährlich — wenn sie ernst ist.

Können solche Zustände, wie sie oben geschildert wurden, mit Steuernachlässen und Geldunterstützungen geheilt werden? Ist es hier mit „Volksverpflegung“ getan, die der Staat neuerdings den Landschaften wieder abgenommen hat, um sie durch seine Beamten zu verwalten? Das ist sehr unwahrscheinlich. Und doch ist dieses Verkommen Großrusslands eine Angelegenheit von großer Bedeutung für das gesamte Reich. Gehen die Dinge wie bisher weiter, so muss allmählich der Schwerpunkt des Staates sich verschieben. Die staatliche Kraft steckte bisher wesentlich in den 80 Millionen Russen, und diese wieder hatten ihr nationales Zentrum eben in jenen großrussischen Gebieten. Verschiebt sich der wirtschaftliche und kulturelle Schwerpunkt nach den Grenzländern hin immer weiter, so wird eine nationale Politik, die alle nichtrussischen Bestandteile des Reiches zu Feinden des Staates macht, immer bedenklicher. Die Interessen von Staat und Nation geraten in Zwiespalt.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland, Kulturstudie um 1900
Russland 080. Kiew. Tor des Michaelklosters

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Russland 080. Prozessionen und Gottesdienst

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Russland 081. Kiew. Eingang zum Höhlenkloster

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Russland 082. Vorrichtung zum Heutrocknen (Gouvernement Mohilew)

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Russland 083. Die Klosterkirche von Krasnystok

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Russland 083. Russische Nonnen im Kloster Krasnystok bei Grodno

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Russland 084. Kowno. Ansicht der Stadt vom Njemen

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Russland 084. Minsk. Der Bahnhof

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Russland 085. Olyk (Wolhynien) Katholische Kirche

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Russland 085. Warschau. Blick von der Weichsel

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Russland 085. Warschau. St. Josefskirche

Russland 085. Warschau. St. Josefskirche

Russland 086. Weißrussische Bauern. Hakenpflug (Socha) Gouvernement Minsk

Russland 086. Weißrussische Bauern. Hakenpflug (Socha) Gouvernement Minsk

Russland 086. Weißrussische Bauern. Kastenwagen. Gouvernement Minsk

Russland 086. Weißrussische Bauern. Kastenwagen. Gouvernement Minsk

Russland 086. Weißrussische Bauern. Leiterwagen. Gouvernement Minsk

Russland 086. Weißrussische Bauern. Leiterwagen. Gouvernement Minsk

Russland 087. Bauer. Der Säemann (Gouvernement Mohilew)

Russland 087. Bauer. Der Säemann (Gouvernement Mohilew)

Russland 087. Bauer. Weißrusse (Gouvernement Mohilew)

Russland 087. Bauer. Weißrusse (Gouvernement Mohilew)

Russland 087. Litauischer Bauer (Gouvernement Grodno)

Russland 087. Litauischer Bauer (Gouvernement Grodno)

Russland 088. Kleinrussisches Dorf

Russland 088. Kleinrussisches Dorf

Russland 088. Litauisches Dorf

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Russland 088. Pskow. Fenster am Haus Sumozki (17. Jahrhundert)

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Russland 089. Smolensk. Die Stadtmauer

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