Vierzehntes Kapitel. Die Landschaftsverfassung

In Stuttgart ist von der Redaktion einer russischen Zeitschrift, die sich „Morgenröte" nennt, zu Anfang 1901 eine höchst merkwürdige Schrift veröffentlicht worden. Sie ist in russischer Sprache verfasst, betitelt sich „Selbstherrschaft und Landschaft" und enthält eine Denkschrift des russischen Finanzministers WITTE über die russischen Landschaftsinstitutionen. Sie ist eine Streitschrift gegen eine Denkschrift des ehemaligen Ministers des Innern GOREMYKIN, die ihrerseits durch eine Denkschrift WITTEs hervorgerufen worden war, und in der GOREMYKIN seinen Plan verteidigte, die Landschaftsinstitutionen in den sogenannten Westgebieten einzuführen.

Wenn es sich bloß darum handelte, nachzuweisen, dass der Plan GOREMYKlNs gänzlich verfehlt sei, so wäre dazu nichts weiter zu sagen. WITTE hätte vollkommen recht, und GOREMYKIN, weil er vollkommen unrecht hatte, musste seiner Wege gehen. Aber hier ist sehr viel mehr als ein Streit um die Einführung der Landschaft im Westen; hier wird ein Prinzipienstreit ersten Ranges geführt von einem Minister ersten Ranges nicht nur gegen einen Kollegen, sondern gegen das halbe Russland oder drei Viertel von Russland. Es handelt sich darum, ob Russland bürokratisch absolut bleiben oder in konstitutionelle Bahnen geleitet werden soll.


Was die Meinung GOREMYKlNs sei, kann uns gleichgültig sein, um so mehr, als man aus dieser Streitschrift diese Meinung nicht deutlich zu erkennen vermag. Die Meinung eines so gewaltigen Mannes wie WITTE aber interessiert uns sehr, und er sagt sie uns am Schluss der Schrift mit klaren Worten. Er hält die modernen Konstitutionen für die große Lüge unsrer Zeit und ihre Anwendung auf Russland für das sichere Mittel der Auflösung dieses Reiches. Darin mag er wohl nicht, unrecht haben. Nun aber erklärt er selbst, dass es so wie jetzt mit der Verwaltung des Reiches nicht weiter gehen könne, weil zwei feindliche Prinzipien einander in der Verwaltung bekämpfen: die staatliche Bürokratie und die Organe der landschaftlichen Selbstverwaltung, jene als Vertreterin monarchischer Selbstherrschaft, diese als Vertreter einer Volksgewalt, die notwendig zur Konstitution, zur Teilnahme des Volkes an der Gesetzgebung führen müsse. Auch hierin mag WITTE recht haben. Aber was soll nun geschehen, den Zwiespalt aufzulösen? Es soll, sagt Witte, keinerlei Erweiterung der Tätigkeit der Landschaften erlaubt werden, es soll ihr eine klare Grenze gezogen werden, die sie unter keinem Vorwande überschreiten darf. Zugleich aber soll so schleunig als möglich eine richtige und zweckentsprechende Organisation der staatlichen Administration vorgenommen werden, in dem Bewusstsein, dass „wer der Wirt im Lande ist, auch der Wirt in der Administration sein soll.“

Soll hierin nun das Programm WITTEs enthalten sein, mit dem er die große Reform ins Werk setzen und die Entwicklung einer landschaftlichen Tätigkeit von vierzig Jahren abtun will? Eine Reform der Staatsverwaltung — nichts weiter? Das Ei des Kolumbus, so scheint es; nur dass man, wenn man bedenkt, wie sich seit zweihundert Jahren alle russischen Zaren und Zarinnen, Minister und Kanzler bemüht haben, eine solche „regelrechte und passende Organisation“ zu erfinden, bisher aber keine „regelrecht und passend" war, etwas zweifelhaft werden kann an der Ausführbarkeit der Aufgabe, die Witte sich oder andern Ministern stellt Wenn das so leicht wäre, wenn das auch überhaupt ausführbar wäre, was Witte will: eine durchaus zentralistisch geleitete, allgewaltige Beamtenherrschaft, mit einer „richtig organisierten Beteiligung der gesellschaftlichen Elemente an den staatlichen Institutionen", dann wäre seit den Reformen Katharinas II dieses Ideal wohl gefunden worden, dann hätte auch Witte nicht so viel Mühe darauf zu verwenden brauchen, nachzuweisen, dass die Landschaftsinstitutionen prinzipiell unvereinbar seien mit der absoluten frischen Macht. Was ist denn die „richtig organisierte Beteiligung der gesellschaftlichen Elemente“ an der Verwaltung der öffentlichen Dinge, die die unrichtig organisierte Beteiligung der Landschaften ersetzen soll?

„Die Entwicklung der gesellschaftlichen Kräfte“, sagt WITTE, „die volle und allseitige Entwicklung widerspricht nicht nur nicht den Prinzipien der absoluten Monarchie, sondern verleiht ihr vielmehr Lebendigkeit und Kraft Indem die Regierung zur Entwicklung der gesellschaftlichen Selbsttätigkeit mitwirkt, indem sie sozusagen auf den Schlag des gesellschaftlichen Pulses horcht, gerät sie doch nicht in Abhängigkeit von der Gesellschaft, bleibt sie eine vernünftige Kraft und eine folgerichtige Macht, versteht immer ihre Ziele, kennt immer auch die Mittel zu ihrer Erreichung, weiß, wohin sie geht und führt.“ Nun wahrlich, wir haben WITTE bisher oft als einen Mann der praktischen und energischen Tatkraft bewundert und sind um so mehr erstaunt, ihm hier als einem Idealisten von höchstem Fluge zu begegnen. Der aufgeklärte Absolutismus des Herrn Ministers stellt sich da, wie es uns scheint, eine Aufgabe, die kein Staat des achtzehnten Jahrhunderts vollständig gelöst hat, auch wenn er das beste Material an Beamten zur Verfügung hatte, und die das Russland des zwanzigsten Jahrhunderts nun nach der Meinung WITTEs lösen soll. Was trieb denn die Regierung Alexanders II dazu, zur provinziellen Selbstverwaltung zu greifen, wenn nicht die Erfahrung, dass das staatliche Beamtentum unfähig sei, sowohl den Pulsschlag des Volkes zu vernehmen, als auch die übrigen Ideale des Herrn Ministers zu erfüllen? Was ist denn die ewige seit Jahrhunderten von Russland zu uns herübertönende Klage, dass es an einem tüchtigen Beamtenmaterial fehle? Hat sich denn das plötzlich geändert? Hören wir denn nicht täglich von uralten Schäden dieser Bürokratie, an der seit Peter I herum reformiert wird ohne durchgreifenden, genügenden Erfolg, und der als Ersatz und Kontrolle in bescheidenen Grenzen die landschaftliche Selbstverwaltung von 1864 gegenübergestellt ward? Woher hat denn der Minister plötzlich das Vertrauen in diese Bürokratie gewonnen, um mit ihr, auch wenn sie „richtig und passend organisiert'' ist, die ideale Verwaltung eines Reiches wie Russland zu ermöglichen?

Es ist aber nicht unsre Sache, als Verteidiger der russischen Selbstverwaltung aufzutreten. Uns interessiert vor allem die Frage, welchen Weg das russische Staatsleben einschlagen werde. Und hier haben wir eine Schrift, in der sich der heute, oder doch vor drei Jahren, als er die Schrift verfasste, mächtigste Mann in Russland klar für die Rückkehr zu dem System rein bürokratisch-zentralistischer Regierung ausspricht. Wenn wir jedoch aufmerksam zwischen den Zeilen lesen, so dünkt uns, dass der Minister nur unter schwerem inneren Kampf zu seiner Erklärung gelangt ist, weil er der Ausführbarkeit seines bürokratischen Ideals keineswegs so ganz sicher war, vielmehr zu seinem Entschluss nur deshalb gelangte, weil er keinen andern Ausweg fand, der gefürchteten Konstitution zu entgehen. So ängstlich wie er steht aber wahrscheinlich nur eine Minderheit der politisch tätigen Männer einer kommenden Volksvertretung gegenüber, und noch viel geringer dürfte die Zahl derer sein, die mit dem Minister die Selbstverwaltung definitiv zu lähmen und die Omnipotenz des Tschinowniktums zu rehabilitieren bereit sind. Es ist deshalb doch zweifelhaft, ob WITTE das letzte Wort behalten wird; es ist von Interesse, seinen Ausführungen etwas genauer nachzugehen. In seiner ersten Denkschrift hatte er ausgeführt, dass in einer autokratischen Staatsordnung mit der in ihr unvermeidlich bürokratischen Zentralisation die landschaftliche Selbstverwaltung ein unpassendes administratives Mittel sei, oder dass sie unvermeidlich zur Volksvertretung und zur Teilnahme dieser an Gesetzgebung und oberster Verwaltung führe. Beides sucht er in dieser zweiten Denkschrift eingehend zu begründen, wobei freilich der Beweis für die Unverträglichkeit der Selbstverwaltung mit einer autokratischen Staatsordnung recht leicht genommen wird. Denn so groß die Menge wissenschaftlicher Autoritäten ist, auf die sich der Minister in seiner Schrift beruft, so erscheint seine Behauptung, dass die Selbstverwaltung schon heute von der Theorie fast verworfen sei, dennoch auch wissenschaftlich anfechtbar. Sehr viel besser begründet, aber freilich auch kaum von jemand bestritten ist die weitere These, dass Selbstverwaltung und Staatsbürokratie einander wesentlich gegensätzlich gegenüber stünden. Diesen prinzipiellen Gegensatz hält WITTE nun für einen ausgiebigen Beweis gegen die Ersprießlichkeit einer gleichzeitigen Tätigkeit beider Arten von Beamten, denn es kommt ihm gar nicht in den Sinn, auch nur zu untersuchen, ob das Vorhandensein eines solchen Gegensatzes und der aus ihm folgende Kampf nicht an sich auch nützlich sein können. Widerstand gegen die oberste Staatsleitung ist ihm an sich ein Übel, das prinzipiell beseitigt werden muss. Er führt gegen die Selbstverwaltung als eine Erfahrung ins Feld, dass es leichter sei, einen Gouverneur ein- und abzusetzen, als ein gewähltes Stadthaupt, leichter, eine Anordnung irgend einer staatlichen Behörde abzuändern, als den Beschluss einer Landschaft u. s. w. Der starre Bürokrat charakterisiert sich hiermit genügend scharf. Aber alle solche Bedenken treten doch zurück vor der drohenden Gefahr, aus der lokalen Selbstverwaltung eine allgemeine Volksvertretung, eine Reichsverfassung nach europäischem Muster hervorgehen zu sehen. Um diese Gefahr recht deutlich zu machen, lässt der Minister einen langen Zug wissenschaftlicher Größen als Zeugen auftreten.

Es ist, sagt man, fast üblich, dass russische Minister und Würdenträger in solchen Staatsschriften in der vollen Rüstung europäischer Wissenschaft auftreten. Jedenfalls hat WITTE in einer Anlage zu dieser Denkschrift eine Sammlung gelehrter Quellen gegeben, zum Beweise des innigen Zusammenhangs zwischen Selbstverwaltung und repräsentativer Staatsverfassung. Er bedauert zwar die Kürze dieser Quellensammlung; aber der kurze Abriss dieser Sammlung, der einen großen Teil des Textes seiner Denkschrift umfasst, ist allein schon ausreichend, über die Gelehrsamkeit Staunen zu erregen, über die ein russischer Minister verfügt Die gesamte staatsrechtliche Literatur Europas, die Verfassungen und Provinzialordnungen und Kreisordnungen Deutschlands, Frankreichs, Englands, ja Rumäniens und Japans, die Geschichte der französischen Revolution und der STEIN-HARDENBERGschen Reformen bis auf die Vorgänge von 1848 und die Debatten im Reichstage von 1872 — alle die Waffen des Geistes sind da, um — die enge Verbindung von Selbstverwaltung und Konstitutionalismus zu beweisen. Allerdings scheint das dringend nötig gewesen zu sein gegenüber einem Minister, der seinerseits, ganz auf wissenschaftlichem Boden stehend, aus der russischen Geschichte nachgewiesen hatte, dass die örtliche Selbstverwaltung durch den ganzen Gang der russischen Geschichte, durch die besondere gesellschaftliche Struktur und sogar durch die geographische Lage im voraus angezeigt sei, und dass mit Ausnahme einer kurzen Übergangszeit um die Mitte des dreizehnten Jahrhunderts die bürokratische Verwaltung niemals zur Grundlage des russischen Staatsbaues gedient habe. So überraschend diese Anschauungen des Ministers des Innern sind, so überzeugend ist die Meinung des Ministers der Finanzen von der Tendenz der örtlichen Selbstverwaltung zu der allgemeinen Selbstverwaltung, wenn es eines Beweises noch heute bedurft hätte; nur dass der große Vorzug, der nach WITTEs Meinung der russischen Entwicklung vor der europäischen eigen ist: der Vorzug, den Kampf der Stände untereinander und mit dem Monarchen vermieden zu haben, schwerlich allgemeine Anerkennung finden dürfte. Denn diesem Kampfe wird auch Russland nicht entgehen, und WITTE selbst schürt ihn vielleicht zu unnötig hoher Flamme auf, eben durch die rücksichtslose Verwirklichung seines staatlichen Ideals der autokratischen Bürokratie und der aus ihr folgenden Zentralisation der Staatsverwaltung.

In der Verehrung dieser Zentralisation lässt WITTE sich wieder von der Wissenschaft, insbesondere von A. Leroy-Beaülieü, bestärken, dem Fremden, obwohl der entgegengesetzte Standpunkt von so guten Kennern Russlands wie Herzen, den beiden Aksakow, dem Historiker KOSTOMAROW eingenommen wird. Es ist in der Tat leicht, blendende Argumente für die Notwendigkeit einer administrativen Zentralisation in Russland aufzuführen, und LEROY-BEAULIEU hat das ausgiebig getan. Aber wir haben einmal erlebt, wie der Baron HAXTHAUSEN vor fünfzig Jahren alle Welt mit seiner Entdeckung des sozialen Ideals in der russischen Gemeindeverfassung blendete und die vernünftige Entwickelung der russischen bäuerlichen Verhältnisse bis auf den heutigen Tag in unheilvollster Weise zurückgehalten und verwirrt hat Der Mir, die russische Bauerngemeinde, ist bis heute noch ein nationales Dogma, an das viele glauben, und wenn WITTE sein Ziel erreichen sollte, so könnte die bürokratische Zentralisation ebenso zu einem nationalen Dogma werden. Denn an blendenden Argumenten dafür mangelt es nicht für den, der weniger das Wohl des russischen Volkes als den Glanz des russischen Staates im Auge hat und wenn dieses Dogma, einmal anerkannt auch nicht die Lebensdauer des anderen Dogmas HAXTHAUSENscher Erfindung haben wird, so wird es doch weit größeres Unheil als dieses über das gesamte, nicht bloß das bäuerliche Volksleben Russlands bringen. Wenn WITTE alle die wissenschaftlichen Quellen, die er in überreichem Strome fließen lässt, wirklich gründlich, und besonders wenn er sie selbst erforscht hätte, so hätte er an seinem Dogma und an seiner Autorität Leroy zweifelhaft werden müssen. Aber so gut Witte unbedenklich annimmt, dass die wissenschaftliche Rüstung seines Gegners GOREMYKIN von anderen Händen zusammengestellt wurde, so gut dürfen wir annehmen, dass Witte niemals die große Bibliothek gesehen oder doch durcharbeitet hat, auf die er sich beruft Auch er hat sich seine wissenschaftliche Ausrüstung von „Zusammenstellern“ machen lassen, auch er hat weder GNEIST noch HOLTZENDORFF noch gar FRIEDERTHAL, weder BARANTE, noch DICY, noch BROUGHAM, noch MARX, noch MILL, noch den Japaner JYENAGA u. s. w. studiert, um diese seine Denkschrift zu verfassen, und seine „Zusammensteller“, wie der Ausdruck bei Witte wörtlich lautet, haben die große Literatur Europas nur in usum ministri verarbeitet, ohne ihm mehr davon zu sagen, als er hören wollte. Und hören wollte er nur, dass Russland nicht anders regiert werden könne, als von einem zentralisierten Staats-Tschinowniktum, und dass deshalb die Selbstverwaltung in Russland ein Unding sei.

Wenn das wissenschaftliche Turnier der beiden Minister uns allenfalls als Kennzeichen für die Art der Kriegführung zwischen russischen leitenden Staatsmännern interessiert, so wird doch unsere Aufmerksamkeit weit stärker in Anspruch genommen von den Abschnitten der Schrift, in denen uns eine kurze Geschichte der Kämpfe geboten wird, die von 1864—1900 zwischen den Landschaften und der Staatsregierung ausgefochten wurden. Und man wird die Objektivität anerkennen müssen, mit der der Minister diese Kämpfe darlegt, indem er, die Fehler der Landschaften wenig beachtend, hauptsächlich auf das gewaltsame Vorgehen der Staatsregierung hinweist. Wir folgen seinen Darlegungen in gedrängter Kürze.

Das allständische Prinzip, sagt der Minister, erschien in unseren Institutionen plötzlich, ohne einen ihm vorausgehenden langen historischen Prozess, der die gesellschaftlichen und ständischen Unterschiede schrittweise ausgeglichen hätte. In dem Russland zu Anfang der sechziger Jahre vollzog sich ein tiefer Umschwung in den Anschauungen von Regierung und Gesellschaft. Die alten Ordnungen brachen zusammen; der politische Bau des Reiches, der so lange auf der ständischen Organisation und der Hierarchie der örtlichen Gesellschaften geruht hatte, fand sich Auge In Auge dem allständischen Prinzip gegenübergestellt; man musste das System der örtlichen Verwaltung radikal ändern. Die allgemeine Strömung war auf eine politische Änderung gerichtet und hatte ihren Brennpunkt in der „Glocke“ Herzens. Die liberalen Ideen und der Konstitutionalismus waren damals so stark, dass sogar Katkow die Berufung einer allrussischen Landschaftsversammlung zur Organisierung der öffentlichen Meinung befürwortete. Unter den Männern, die das Gesetz über die Organisation der Landschaften vorbereiteten, waren viele, die mit dem Führer in dieser Sache, MILUTIN, meinten, dass die Einführung einer Konstitution verfrüht, aber prinzipiell zu wünschen sei. MlLUTlN wollte den Bau von unten beginnen, mit örtlichen Wahlkörpern, in denen das Land zur Selbstverwaltung erzogen werden würde; die Wahlkörper sollten die Keime für eine kräftige repräsentative Reichsregierung werden. Es ist bemerkenswert, wie objektiv und warm WITTE an dieser Stelle die „hervorragenden Staatsmänner der sechziger Jahre" gegen Angriffe GOREMYKINS verteidigt, die „ihrer Zeit so viel Großes vollbrachten, wie es ihre Nachfolger nicht leisteten, die sich um die Erneuerung unseres staatlichen und gesellschaftlichen Baues nach ihren innigen Überzeugungen mit freier Ergebenheit gegenüber ihrem Herrscher und nicht gegen sein Streben bemühten." Rechnet WITTE sich zu ihren Gesinnungsgenossen?

In dem die Landschaftsinstitutionen ankündenden Manifest vom 31. März 1863 bezeichnete Alexander II die vernünftige Ordnung der örtlichen Selbstverwaltung als die Grundlage des gesamten gesellschaftlichen Baues. Weiter hieß es: „Indem wir diese Einrichtungen bewahren, behalten wir uns vor, wenn sie durch die Praxis erprobt sein werden, an ihre weitere Entwicklung nach Maßgabe des nach Zeit und Ort Nötigen zu gehen.“ Und in einer Depesche vom 14. April desselben Jahres an den russischen Botschafter in London sagte der Reichskanzler Fürst GORTSCHAKOW: „Das von unserem allerhöchsten Monarchen angenommene System enthält in sich den Keim, der durch Zeit und Erfahrung entwickelt werden soll. Es hat die Bestimmung, auf Grund provinzieller und munizipaler Einrichtungen, die in England der Ausgangspunkt und die Grundlage von Größe und Wohlfahrt gewesen sind, zur administrativen Autonomie zu führen.“ In demselben Sinne sprach sich der Zar im August gegen MlLUTIN aus: er habe keine Abneigung gegen eine repräsentative Staatsleitung, aber die Russen seien für eine Konstitution noch nicht reif.

In der Kommission, die das Landschaftsgesetz von 1864 ausarbeitete, präsidierte ein so konstitutionell denkender Mann wie MILUTIN, und arbeitete man im Geist und in den Formen konstitutionellen Lebens. Aber sehr bald erstarkte neben der liberalen Strömung das Misstrauen, die Furcht vor dem Reformelfer, besonders in dem von der Aufhebung der Leibeigenschaft erschütterten Adel und bald auch in den Regierungskreisen. Der neue Minister des Innern, WALUJEW, übernahm an Stelle MILUTINs den Vorsitz in der Kommission, und man begann in ihr zu lavieren, zwischen den beiden Prinzipien Ausgleiche zu suchen. Die Selbständigkeit der Landschaften wurde nicht mehr das klare Ziel der Arbeiten, sondern die ohne Gefährdung der staatlichen Autorität mögliche Befriedigung der hochgespannten Erwartungen der liberalen Menge. Das Landschaftsgesetz bekam den unbestimmten Charakter, der das Ergebnis des Bestrebens war, sowohl die Anhänger als die Gegner der Reform zufrieden zu stellen: die ersten wurden mit der Zukunft vertröstet, die anderen damit beschwichtigt, dass die Kompetenzen der Landschaften äußerst elastisch bestimmt wurden. Insbesondere unterließ man, die Grundlage des Baues, die allständische Gemeinde zu schaffen. Im ganzen blieb die gesetzgebende Gewalt des Staates unangetastet, seine verwaltende Macht aber wurde stark zu Gunsten der neuen landschaftlichen Institute eingeschränkt als der repräsentativen Organe der örtlichen Bevölkerung. Die Regierungsgewalt spaltete sich und musste zum Antagonismus führen. Von den ersten Jahren des Bestehens der Landschaften an machte sich dieser Antagonismus bemerkbar. Gegenseitiges Misstrauen und Verdacht, je nach Umständen offene oder geheime Opposition, passiver Widerstand und sogar offener Kampf — das sind die Züge und die einzelnen Episoden der Geschichte dieser Beziehungen. Auf selten der Regierung war die Macht, und die Ausbrüche der Landschaften waren deshalb zur Erfolglosigkeit verurteilt Die äußere Erscheinung dieser Beziehungen ist diese: von der einen Seite unterdrückt das gouvernementale Prinzip mehr und mehr das landschaftliche, andererseits strebt die Landschaft danach, aus dem engen Rahmen, den man ihr gegeben hatte, herauszukommen, zu einer realen Macht zu werden, sich ausführende Organe zu schaffen und Teilnahme an der Zentralverwaltung zu erlangen. Dieser Kampf ist nicht zufällig, keine psychologische Verirrung, sondern ein Prinzipienkampf.

Die Selbständigkeit der Landschaften war schon durch das Grundgesetz von 1864 beschränkt Manche ihrer Beschlüsse konnten vom Gouverneur oder vom Minister des Innern inhibiert werden, wenn sie „den Gesetzen oder dem allgemeinen Nutzen des Staates" widersprachen. Der elastische Begriff des staatlichen Nutzens ermöglichte eine immer fortschreitende Unterwerfung der Landschaften unter die Macht und Aufsicht des Gouverneurs. Durch Senatserläuterung vom 16. Dezember 1866 wurde den Gouverneuren das Recht eingeräumt, jeder von den Landschaften erwählten Person die Bestätigung wegen mangelnder Wohlgesinntheit zu verweigern. Im folgenden Jahre wurde die Disziplinargewalt des Vorsitzenden der Landschaftsversammlungen (Adelsmarschälle) stark vermehrt Diese Versammlungen kamen damit ganz in die Hände des ständischen Vorsitzenden und des Gouverneurs. Im Jahre 1879 erhielten die Gouverneure das Recht, landschaftliche Beamte wegen mangelnder Wohlgesinntheit zu entfernen. Durch verschiedene Verordnungen wurden die landschaftlichen Arzte und Apotheker abhängig gemacht von den staatlichen Medizinalbehörden und Gouverneuren, die Schulräte von den Schulkuratoren, die Lehrer von den Inspektoren u. s. w., woraus hervorgeht, dass die Regierung strebte, die landschaftliche Selbständigkeit einzuschränken, zu bloßem Schein zu machen, die Landschaften selbst aus selbständigen, nur unter der Kontrolle der Regierung stehenden Organen allmählich auf die Stufe bürokratischer, dem Willen des Gouverneurs gehorsamer Behörden herabzusetzen.

Damit parallel ging stufenweise eine Beschränkung der landschaftlichen Kompetenz. Durch Gesetz vom 21. November 1866 wurde das Recht der Landschaften, die Handels- und Industrieanstalten zu besteuern, eingeschränkt Aber der ernstesten Einschränkung unterlag die Landschaft auf dem Gebiet des Volksunterrichtes. In den ersten Jahren war der Landschaft eine sehr weite Teilnahme an der Fürsorge für das Volksschulwesen auf Grund des Gesetzes von 1864 eingeräumt worden, so dass tatsächlich die Landschaft fast volle Herrschaft in der Volksschule gewann. Nachdem Graf Dimitri Tolstoi Minister der Volksaufklärung geworden war, erging alsbald eine Reihe von Maßregeln, die den Zweck hatten, die Landschaft von der tatsächlichen Leitung des Volksunterrichtes zu beseitigen und sie auf die bloß ökonomischen Interessen zu beschränken. Im Jahre 1869 wurden staatliche Inspektoren geschaffen, die 1871 das Recht erhielten, Volksschullehrer wegen mangelnder Wohlgesinntheit zu entfernen und Beschlüsse der Schulräte zu inhibieren; 1873 wurde durch kaiserliches Reskript offen die Sorge ausgesprochen, dass die Volksschule zu einem Werkzeuge sittlicher Fäulnis des Volkes werden könnte, weshalb den Adelsmarschällen aufgetragen wurde, in dieser Hinsicht besonders wachsam zu sein. Im Jahre 1874 wurden die Adelsmarschälle zu Vorsitzenden in den Schulräten gemacht, die Kompetenz der Schulräte wurde auf bloße Formen herabgesetzt, und die ganze Verwaltung der Schulen in Wirklichkeit in die Hände staatlicher Direktoren gelegt Die Landschaften protestierten heftig gegen die Bedrückungen. Die Landschaftskommission von Charkow klagte 1880, der Volksschullehrer sei in die Abhängigkeit von einer ganzen Reihe von Obrigkeiten geraten, angefangen bei den Schulräten, den Adelsmarschällen, den Inspektoren und Direktoren bis hinab zum Bezirkspolizisten und Landpolizisten, ja mittelbar bis zum Dorfgeistlichen und Gemeindeschreiber, von denen jeder in der Schule seine Rechte und Forderungen geltend mache. Der Lehrer vertiere allen Boden, könne seine Pflicht nicht ernstlich erfüllen, und die Folge sei eine allgemeine Flucht der Volksschullehrer. Ähnliche Proteste kamen von anderen Landschaften und Schulräten. So schrieb der Nowgoroder Schulrat: „Wenn sich noch so selbstlose Lehrer finden, die unter solchen Umständen ihre Pflicht gewissenhaft erfüllen, so muss man sich darüber verwundern, muss sich noch der Resultate freuen, die jetzt erzielt werden."

Auf den anderen Gebieten der Selbstverwaltung, wie Medizinalwesen, Wegebau u. s. w., konkurrierten die Landschaften mit den in den Gubernien noch erhaltenen entsprechenden staatlichen Organen; „in dieser konkurrierenden Tätigkeit gewährte die Staatsregierung systematisch alle Vorzüge diesen letzteren, die sie als die ihrigen ansah, und überließ der Landschaft nur eine untergeordnete, rein dienende Rolle. Diese Bevorzugung äußerte sich sogar in den unwesentlichsten, bedeutungslosesten Fragen, einschließlich der bescheidenen Angelegenheit der Wegereparaturen."

„So wurde“, sagt Witte weiter, „die Selbständigkeit, diese Grundlage jeder Selbstverwaltung, und ebenso die Sphäre der landschaftlichen Kompetenz von der Regierung systematisch eingeengt Offenbar traute sie der Landschaft nicht. Das Misstrauen ist besonders klar zu erkennen in ihrem Verhalten zu den landschaftlichen Gesuchen. In Bezug auf diese Gesuche war die Regierung sogar nicht immer konsequent; sie äußerte sehr häufig ein übermäßiges Misstrauen, indem sie auch solche landschaftliche Gesuche abwies, die eine ernste Begründung für sich hatten.“ So wurden alle landschaftlichen Gesuche abgewiesen, die Ausschließung der Steuerschuldner von der Wählbarkeit in die landschaftliche Vertretung und Geldstrafen für die stimmenden Glieder der Landschaftsversammlungen wegen unbegründeten Ausbleibens von den Sitzungen beantragten. Ganz besonders scharf aber war das Misstrauen der Regierung gegen die Bitten der Landschaften um Schaffung eines untersten kleinen Verwaltungskörpers, um eine Vereinheitlichung ihrer Tätigkeit und um Erlass dieser oder jener allgemein staatlichen Gesetze.

„Nach dem Grundgedanken des Gesetzes von 1864 sollte die Landschaft „eine dauernde Verbindung mit der Örtlichkeit und der Gesellschaft“ aufrecht halten, aber zur Erhaltung dieser Verbindung gab ihr das Gesetz keinerlei Mittel. Es wurde nicht nur die landschaftliche Kommune, diese Urzelle der Selbstverwaltung, nicht geschaffen, sondern den landschaftlichen Kreisbehörden wurde nicht einmal anheimgegeben, selbst die Beschlüsse der Landschaften auszuführen. Unmittelbar handeln konnten die Landschaften nicht, teils weil das vom Gesetz verboten war (z. B. rücksichtlich der Naturallasten), teils deshalb, weil der Kreis eine zu große Einheit darstellt, deren lokalen Verschiedenheiten und Besonderheiten nachzugehen die zentrale Kreisverwaltung außer stände ist Ohne festen Boden und die nötige Verbindung mit der Örtlichkeit, ohne eigene ausführende Organe waren die Landschaften nicht nur außer stände, ihre Maßregeln richtig durchzuführen, sondern konnten nicht einmal das richtige Eingehen der landschaftlichen Steuern sichern, weshalb zuweilen manche von ihnen in eine sehr bedrängte finanzielle Lage gerieten. Die niederen Polizeiämter waren schlechte Hüter der Interessen der Landschaften und erfüllten schlecht deren Anordnungen, während ihnen doch die Ausführung der landschaftlichen Maßregeln oblag.

Den gekennzeichneten Mangel ihrer Organisation suchten die Landschaften von den ersten Tagen seines Auftauchens an zu beseitigen. Diesem Ziele strebten die einzelnen Landschaften auf verschiedenen Wege zu . . . Alle landschaftlichen Gesuche in dieser Richtung aber wurden systematisch abgewiesen, und man darf annehmen, dass sich bei diesen Abweisungen die Regierung mehr von politischen Erwägungen leiten ließ; denn vom Standpunkte der Zweckmäßigkeit kann es keinem Zweifel unterliegen, dass die Landschaft ohne festen Boden und ohne Zusammenhang mit dem Wirkungsgebiet nicht erfolgreich wirken konnte und mit oder ohne ihren Willen manche ihrer wichtigsten Pflichten versäumen musste. Ganz besonders misstrauisch verhielt sich die Regierung zu den Versuchen der Landschaften, eine engere Verbindung zwischen sich und der bäuerlichen Selbstverwaltung herzustellen. Die Mehrheit der Bevölkerung der Gubernien machen die Dorfbewohner aus; auf Befriedigung der Bedürfnisse dieser Volksklasse waren denn auch anfänglich alle Bemühungen der landschaftlichen Ämter gerichtet Die landschaftlichen Vertreter meinten, dass die Sorge um die Bedürfnisse des bäuerlichen Standes die alltäglichste und hauptsächlichste sei, dass zur Befriedigung dieser Bedürfnisse das sorgfältigste Bekanntwerden mit dem Sein und den Lebensbedingungen der örtlichen Bauern unumgänglich sei; sonst konnte es immer vorkommen, dass Unwesentliches befriedigt wurde und Wesentlicheres nicht. Die Regierung jedoch erachtete nicht bloß für unmöglich, die bäuerliche Selbstverwaltung*) in den Bau der Landschaftsinstitutionen einzufügen, etwa durch Errichtung einer allständischen Dorfgemeinde, sondern verhielt sich zu den Bemühungen der Landschaften um die Bedürfnisse des Bauernstandes sogar höchst abwehrend." So verbot z. B. der Minister des Innern im Jahre 1874 der Landschaft von Taurien, die sich um die Volksernährung kümmern wollte, alle örtlichen Untersuchungen über die wirtschaftlichen Bedürfnisse und die Ausstattung mit Land bei den Bauern. „So wurde der landschaftlichen Selbstverwaltung, die berufen war, „für die örtlichen Bedürfnisse und den Nutzen der Bevölkerung zu sorgen“, in Wirklichkeit das Recht genommen, diese Bedürfnisse des Volkes durch Untersuchung seiner Lage zu erfahren."

*) „Die Bauerngemeinde ist das einzige ständische Institut in Russland, das sich seit lange einer unangetasteten gesetzlichen Selbstverwaltung erfreut.

„Während die Regierung das Streben der Landschaften, im Lande Wurzel zu schlagen, in eine engere Verbindung mit der bäuerlichen Selbstverwaltung zu treten, nicht erlaubte, verhielt sie sich mit womöglich noch größerem Misstrauen gegenüber der Einigung der landschaftlichen Tätigkeit zur Herstellung einer Verbindung unter den einzelnen Landschaften." „Ganz zu Anfang ihres Bestehens hatten die landschaftlichen Ämter das Recht, unter ihrer Verantwortung und ohne Präventivzensur ihre Berichte, Unterlegungen und Journale zu drucken. Damals überboten sich die Zeitungen in dem Eifer, über die Tätigkeit der landschaftlichen Versammlungen zu berichten; die öffentliche Meinung interessierte sich lebhaft für diese Tätigkeit, und es begann eine Gemeinschaft zwischen landschaftlichen Kreis- und Gubernialämtern aufzutauchen. Aber schon am 13. Juni 1867 erschien ein Allerhöchst bestätigtes Gutachten des Reichsrats, das verbot, ohne vorgängige Erlaubnis der örtlichen Gubernialobrigkeit die in den landschaftlichen, städtischen und ständischen gesellschaftlichen Versammlungen gefassten Beschlüsse, Sitzungsberichte u. s. w. und ebenso die vorhergegangenen Debatten und Reden zu drucken. Trotz dieser ersten verbietenden Maßregel, deren Wirkung, nach den Worten KOSCHELEWs, sehr scharf war, fuhren die Landschaften fort, mit allen Kräften nach einer Einigung ihrer Tätigkeit zu ringen. Sie setzten einen gegenseitigen Austausch der Berichte fest und bemühten sich, dem Punkt . . . des Gesetzes über die Landschaftsinstitutionen eine weite Anwendung zu geben, durch den ihnen erlaubt war, Beschlüsse zu fassen über Beziehungen oder Vereinbarungen mit anderen Versammlungen in Sachen, die allgemeine Verordnungen der Regierung und Fragen nach den gesetzlichen Grenzen der Kompetenz der Versammlungen betrafen. Zugleich begannen die Landschaften Gesuche anzuregen um Gestattung allgemeiner Versammlungen zur Beratung von Fragen, die mehrere Landschaften betrafen, und um Genehmigung der Herausgabe eines gesamtlandschaftlichen gedruckten Organs.“

„Man muss, so scheint es, anerkennen, dass alle diese Bestrebungen und Gesuche der Landschaften mit dem Grundgedanken des Gesetzes von 1864 übereinstimmten, dessen Ziel es war, die Landschaften zu einigen, in ihnen eine selbständige und regelrechte öffentliche Meinung heranzubilden.“ Man muss ebenso zugeben, dass das Streben nach Einigung der landschaftlichen Tätigkeit auch eine tiefe praktische Begründung hatte. Die Zerrissenheit der Landschaften und die Unmöglichkeit geschäftlichen Verkehrs unter ihnen mussten äußerst schädlich auf den Gang der landschaftlichen Sache wirken; in ihm konnte keine Einheitlichkeit sein, auch in den Zweigen der Wirtschaft, in denen eine solche Einheitlichkeit wesentlich notwendig war, nicht bloß im Interesse der einzelnen Landschaften, sondern auch im Interesse des Reiches. . . . Weiter kann man die unzweifelhafte Tatsache nicht leugnen, dass die benachbarten Landschaften immer die engsten und unzerreißbar miteinander verbundenen Interessen haben werden und haben müssen. . . . Der Kampf mit Epidemien, mit schädlichen Tieren und Insekten kann von einer einzelnen Landschaft nicht mit Erfolg geführt werden. Der Bau der Verkehrsstraßen zwischen benachbarten Gubernien, die Verteilung des Risikos bei landschaftlicher Versicherung auf ein breiteres Gebiet, die Gründung von Pensionskassen für die landschaftlichen Beamten u. s. w. — das alles ist nicht anders möglich, als nach Übereinkommen mehrerer an der Sache interessierter Landschaften. Endlich vermag man eine scharfe Grenze zwischen „örtlichen wirtschaftlichen Nutzen und Nöten“ und „allgemeinen Reichsinteressen“ gar nicht zu ziehen. . . . Alles dieses zusammen rechtfertigt vollkommen das Streben der Landschaften nach Einigung ihrer Tätigkeit. . . .

Die Regierung sah jedoch alle diese Versuche . . . ganz anders an: sie sah ohne Zweifel in der Einigung der Landschaften eine Gefahr. Das von dem Grundgesetz von 1864 den Landschaften gewährte Recht, sich untereinander zu vereinbaren, wurde immer weiter eingeschränkt, erfuhr eine immer engere Auslegung, und alle Versuche der Landschaften, es anzuwenden, wurden von der Regierung abgeschnitten, sogar bei der größten von den Landschaften angewandten Vorsicht, so dass z. B. eine Landschaft (Charkow) eine Unterlegung einsandte, in der sie die Regierung bat, ihr die Möglichkeit der Anwendung des Gesetzes anzugeben. Weiter beschränkte ein Zirkularbefehl vom Jahre 1868 den Verkehr der Landschaften untereinander und ihre Öffentlichkeit; alle Zusammenkünfte mehrerer Landschaften, die Gründung eines gemeinsamen Organs, das alles wurde an der Wurzel abgeschnitten. Endlich verbot man, in der Presse überhaupt von den Zusammenkünften der Landschaften zu reden.

Ganz besonders eifersüchtig verhielt sich die Regierung zu den Versuchen der Landschaften, irgend einen Einfluss auf die Gesetzgebung zu gewinnen. Am häufigsten baten die Landschaften um solche Änderungen der Gesetze, die eine allgemein landschaftliche oder allgemein staatliche Bedeutung hatten. Viele davon verdienten ernstliche Beachtung und widersprachen keineswegs der Grundidee des Gesetzes von 1864. Alle solche Bitten wurden mit rein formeller Begründung abgewiesen. . . . Die Tendenz zum Misstrauen und zur Einengung der Kompetenz der Landschaften ging vom Zentrum aus zur Peripherie, nicht umgekehrt, wie GOREMYKlN meinte, und schuf im Lande die „traurige Chronik von Widersprüchen und Widerhandlungen, an denen die Geschichte der Landschaften so reich ist". War die Zentralgewalt misstrauisch, so zeigten sich das Misstrauen und das Bestreben, die Landschaft der gouvernementalen Bevormundung zu unterwerfen, noch stärker in den Handlungen der einzelnen Gouverneure: sie verletzten sehr oft die den Landschaften gesetzlich zustehenden Rechte. Und noch weiter gingen in diesem Kampf die staatlichen Gewalten der Kreise: Bedrückung der bäuerlichen Gemeinden bei der Wahl der Stimmhaber (stimmfähigen Glieder) für die Landschaften; Strafen für die Wahl der Administration nicht genehmer Personen, und sogar Zwangsmittel gegen die Stimmhaber selbst „Hier", sagt WITTE, „begegnen wir in der Geschichte der Landschaft ganz traurigen Seiten." Die Landschaft konnte natürlich nicht umhin, in allen diesen Handlungen der zentralen und der örtlichen Gewalten eine systematische Beschränkung ihrer Tätigkeit zu sehen. Sie musste ebenso die Mängel und Unfertigkeiten ihrer Organisation erkennen und wandte sich deshalb in vielen Gesuchen an die Regierung, die viel bittere Wahrheiten enthielten. Angesichts des Misstrauens der Regierung, der allseitigen Beengung, der Unmöglichkeit, die Entwürfe der landschaftlichen Versammlungen in dem nötigen Maße zur Ausführung zu bringen, erkalteten viele der besten Leute für die Sache der Landschaft, und in dem Maße, als sie sich von der landschaftlichen Tätigkeit zurückzogen, gingen die Wahlen mehr und mehr in die Hände einer besonderen Klasse von sich heraufarbeitenden Machern über, die auf das landschaftliche Budget als die Quelle guter Gehälter sahen. In der Tätigkeit der Landschaften zeigten sich solche Mängel und dunkle Seiten, die auch ihre eifrigsten Anhänger nicht leugnen können. „Bedrängt", sagt WITTE, „von gouvernementaler Reglementierung, unfertig in ihrer Organisation, wurde die Landschaft ohne Zweifel ein sehr schlechtes Werkzeug der Verwaltung."

Obwohl über diese Dinge viel gesprochen und geschrieben wurde, und ohne das Hindernis der Zensur noch mehr geschrieben worden wäre, so blieb die wahre Ursache dieser traurigen und unnormalen Lage der Sache doch im Schatten. „Wenn man von der unterirdischen Presse und der fremdländischen Literatur absieht, die von ihrem Standpunkt aus eine ziemlich richtige Schätzung der Sachlage gaben, so bestanden im ganzen zwei herrschende Meinungen. Die liberale Presse sah die Ursache der Beschränkungen, denen die Landschaft unterworfen wurde, ebenso wie auch Ihre (GOREMYKINs) Denkschrift, hauptsächlich in der beleidigten beamtlichen Eigenliebe der einzelnen Minister und Gouverneure, in dem bureaukratischen Druck u. s. w. und forderte ihrerseits Gewährung möglichst weiter Freiheit für die Landschaft (was Ihre [GOREMYKINs] Denkschrift nicht im Auge hat), mit der Versicherung, es werden mit dem Aufhören der Bedrückungen auch alle Mängel der landschaftlichen Tätigkeit verschwinden. Umgekehrt wandte die konservative Presse die Aufmerksamkeit hauptsächlich auf die in der landschaftlichen Tätigkeit hervorgetretenen Mängel und forderte zu ihrer Abstellung eine Verstärkung der administrativen Bevormundung. Der Streit geriet auf eine solche Weise in einen verhexten Kreis: die Landschaft wurde ein schlechtes Werkzeug der Verwaltung, weil sie eingeengt wurde: man muss sie einengen, weil sie ein schlechtes Werkzeug der Verwaltung geworden ist Während dessen war der Ausweg aus diesem Kreise sehr einfach, aber die einen sahen ihn nicht, die anderen, und ihrer war ohne Zweifel die Mehrheit, wollten ihn nicht sehen, oder fürchteten sich, ihn zu bezeichnen. Die Landschaft geriet ohne Frage deshalb in Verfall, weil sie von der Regierung unter unnormale Bedingungen gestellt war, aber diese Bedingungen zu ändern, der Landschaft Freiheit zu geben ohne nachfolgende Änderung des selbstherrlichen Baues des Reiches war unmöglich.“

Mag die Zentralregierung allzu misstrauisch, mögen die Gouverneure oft von persönlicher Eigenliebe beherrscht gewesen sein: es wurde sehr bald klar, dass der Grundgedanke des Gesetzes von 1864 „sich sehr schnell zu verwirklichen begann, dass die Landschaft sich als eine gute Schule repräsentativer Einrichtungen erwies, und dass man sie nicht in eine richtige Stellung bringen, noch ihr die nötige Entwicklung geben könne, ohne den gesamten Staatsbau zu ändern.“

Wir können hier leider den höchst interessanten weiteren Schilderungen des Ministers von den Beziehungen und Kämpfen zwischen den Landschaften und der Regierung, auch nur flüchtig, nicht weiter so folgen, wie es auf den letzten Seiten geschehen ist Der harmlose Leser dieser Schilderung wird aber, wie ich vermute, Herrn WITTE für einen Ranzenden Verteidiger der freiheitlichen Landschaftsinstitutionen halten, dem nur das Schlusswort auf den Lippen erstarb, die Folgerung, man müsse also die autokratische Verfassung Russlands ändern. Auch weist er nachdrücklich darauf hin, dass diese Folgerung nicht bloß in den Landschaften, sondern auch in einem wesentlichen Teile der Gesellschaft gezogen worden sei. Namentlich waren es fünfundzwanzig hervorragende Bürger Moskaus, die im Jahre 1880 dem damaligen Minister des Innern LORIS-MELIKOW eine Bittschrift zur Überreichung an den Zaren vorlegten, in der sie die Fortschritte der revolutionären Tätigkeit zum wesentlichsten Teil auf „das erzwungene Schweigen der Landschaften zurückführten.“ . . . . . „Die russische Gesellschaft“, hieß es weiter in der Bittschrift, „bestärkt sich immer mehr und mehr in der Überzeugung, dass ein so weites Reich, wie das unsere, mit seinem komplizierten sozialen Leben nicht ausschließlich von Staatsbeamten verwaltet werden kann.“ Und zum Schluss heißt es: „Das einzige Mittel, das Land aus seiner gegenwärtigen Lage herauszubringen, besteht in der Berufung einer unabhängigen Versammlung von Vertretern der Landschaften, in der dieser Versammlung gewährten Teilnahme an der Regierung der Nation, und in der Ausarbeitung der notwendigen Garantie für die Rechte der Person, der Freiheit der Gedanken und des Wortes.“ Soweit hatten sich die Gegensätze zu Anfang der achtziger Jahre zugespitzt „Die Regierung stand vor dem Dilemma: entweder den landschaftlichen Institutionen eine geregelte Stellung zu schaffen, ihnen weitere Entwicklung zu geben, und so, den Forderungen der Landschaften nachgebend, offen in die Bahn des Konstitutionalismus einzulenken, oder, die Grundlagen der Autokratie während, allendlich jede Selbständigkeit und Selbsttätigkeit der landschaftlichen Institutionen zu unterdrücken und dem gouvernementalen Prinzip ein entschiedenes Übergewicht über das landschaftliche Wahlprinzip zu erteilen."

„LORIS-MELIKOW beschloss offenbar, vorsichtig den ersten Weg zu versuchen, sofern er nicht etwa im Sinn hatte, das Dilemma zu umgehen." Er sprach sich hierüber den Vertretern der Petersburger Tagespresse gegenüber im einzelnen aus, durch die dann sein Programm vor ganz Russland verkündet wurde. „In Wirklichkeit versprach dieses nichts Bestimmtes, aber die Agitation der Landschaften verdoppelte sich, und die Gesellschaft glaubte die Verheißung eines neuen, auf eine Verfassung abzielenden Kurses erkennen zu können." In der Zusammenkunft von 1880 wurde von den Vertretern einer Verbindung, die sich der „landschaftliche Bund" nannte, die Notwendigkeit festgestellt, „eine zentrale Volksvertretung mit der unbedingten Schaffung eines Repräsentantenhauses und allgemeinen Stimmrechtes zu erlangen, d. h. auf breitester demokratischer Grundlage beschloss man, Petitionen einzureichen um Erweiterung der landschaftlichen Rechte, um Zulassung der Landschaft zur Teilnahme an der Zentralverwaltung. Und in der Tat, die Petitionen schütteten von den Landschaften im Überfluss herab, wobei bemerkenswert ist, dass die landschaftlichen Vertreter „in dem Ausdruck ihrer Zustimmung zu der neuen Richtung der Politik der Regierung“ eine große Mäßigung zeigten." . . . Die brennende Teilnahme drückte sich hauptsächlich in beglückwünschenden Adressen der landschaftlichen Versammlungen an LORIS-MELIKOW, in seiner von vielen Stadtmagistraten beschlossenen Wahl zum Ehrenbürger aus. Und LORIS-MELIKOW kam ihren Wünschen entgegen. Es wurden Senatoren zur Untersuchung der Lage in die Gubernien geschickt, in deren Instruktionen die Frage nach der Erweiterung der landschaftlichen Tätigkeit sehr klar und bestimmt gestellt war. Alle die landschaftlichen Missstände, die oben berührt worden sind, sollten erforscht werden. Noch vor der Beendigung der Untersuchungen ging LORIS-MELIKOW an die Beantwortung der Fragen. Die Regierung berief zu Ende 1880 die Landschaften ein „zur Beratung über die aufgetauchten Fragen und zur Abänderung einiger Bestimmungen der Verordnung vom 27. Juni 1874 über die Errichtung örtlicher Bauernbehörden." . . . Besonders eifrig kam die Regierung dem Wunsch der Landschaften in Bezug auf den Volksunterricht entgegen. Der unbeliebte Minister der Volksaufklärung, Graf TOLSTOI, wurde entfernt, sein Nachfolger machte Versprechungen, dass die eingegangenen Gesuche der Landschaften genau geprüft werden würden. Mit den Beziehungen zu der Zentralregierung besserten sich auch die Beziehungen der Landschaften zu den örtlichen Verwaltungsorganen. Nachdem sechzehn Jahre lang alle Versuche der Landschaften, an Fragen der Staatswirtschaft (soll heißen der Volkswirtschaft im Reiche) heranzutreten, unterdrückt worden waren, erklärte der Gouverneur von Tschemigow am 12. Januar 1881 bei der Eröffnung der Landschaftsversammlung, „die Regierung bedürfe mehr als je der beratenden Stimme der Landschaft in vielen Zweigen der Staatswirtschaft".

Loris-Melikow entschloss sich, den großen Schritt weiter zu tun: Erwählte der Landschaften und Städte zur Teilnahme an der legislativen Tätigkeit zu berufen. Die Gerüchte von der Konstitution verstärkten sich. Zu Anfang 1881 schritt LORIS-MELIKOW zur Verwirklichung seines Planes: am 28. Januar unterbreitete er dem Zaren den Entwurf zur Einberufung einer Kommission, bestehend aus Erwählten der Landschaften, und wo diese noch nicht eingeführt waren, aus Personen, die von der Regierung eingeladen werden sollten. An die Spitze dieser Kommission sollte ein allerhöchst ernannter Vorsitzender treten, und sie sollte die Beteiligung der Volkskräfte an der zentralen Verwaltung in die Wege leiten, unterstützt von mehreren aus den verschiedenen Ressorts von der Regierung berufenen staatlichen Unterkommissionen, denen die Vorbereitung der nach allerhöchster Bestimmung zu machenden legislativen Vorlagen zustehen sollte. Die Kommission sollte eine beratende sein, die von den Unterkommissionen vorbereiteten, von der Hauptkommission beratenen Gesetzentwürfe sollten von den Ministern mit ihren Gutachten an den Reichsrat gebracht werden, der sie abändern durfte; die endliche Entscheidung blieb dem Monarchen vorbehalten.

Dieses war noch keine Konstitution, aber unleugbar, meint Witte, wurde damit die Volksvertretung durch Wahl in das System der Legislative eingeführt, und alle Welt begriff, dass damit ein weiterer Schritt zur Vollendung der landschaftlichen Reform getan wurde, d. h. dass die Regierung beschlossen hatte, eine Konstitution zu geben. Man sah klar, dass eine vereinigte Landschaftsversammlung folgen müsse, die nichts anderes sein werde, als der preußische Vereinigte Landtag von 1848, und dass unstreitig diese Versammlung einen Anteil an der gesetzgebenden Gewaltfordern und zuletzt erhalten werde. Kennan versicherte in seiner im Jahre 1890 erschienenen Schrift,*) der Ukas zur Einberufung der Kommission sei vom Zaren am 1. März 1881 unterschrieben und LORIS-MELIKOW übergeben worden, und zwar nach Durchlesung der oben angeführten Petition der fünfundzwanzig Moskauer Bürger, in der die Frage nach der Konstitution sehr klar gestellt war, und die auf den Monarchen einen tiefen Eindruck gemacht habe.

*) KENNAN, Die letzte Erklärung der russischen Liberalen. (Russisch.)

Ich muss mir versagen, den weiteren Darlegungen WITTEs über diese Angelegenheit zu folgen; doch will ich noch hervorheben, dass nach diesen Mitteilungen LORIS-MELIKOW als früherer Minister des Innern dem neuen Zaren Alexander III eine Unterlegung wegen der Ausführung der von Alexander II gebilligten Maßnahmen machte, worauf zum 8. März eine besondere Beratung der Minister anberaumt wurde. Was auf dieser Versammlung vorging, meint WITTE, und zu welchem Ergebnis sie gelangte, sei nicht zuverlässig bekannt geworden.

Von da ab ging es mit den Landschaften rasch abwärts. Alexander III entschloss sich, umzukehren zu dem anderen Wege: zur Kräftigung der Selbstherrschaft durch Errichtung einer starken Regierungsgewalt. Im Jahre 1882 bekam Graf D. TOLSTOI das Ministerium des Innern, und im Jahre 1890 erschien das Gesetz, wodurch das Landschaftsgesetz von 1864 umgestaltet wurde. „Graf TOLSTOI", sagt Witte spitzig, „verließ nicht die gewohnte Politik des Ministeriums des Innern gegenüber den landschaftlichen Institutionen. Seinen Gedanken, in Wirklichkeit die Landschaft aufzuheben, gab er in seinem Projekt offen Ausdruck; unter dem Anschein regelrechter Ausbildung der Prinzipien der Selbstverwaltung wünschte er deren äußere Form zu erhalten, sie aber jedes Inhaltes zu berauben.'' So wurde das Gesetz von 1890 zu einer neuen Halbmaßregel: es schaffte die Landschaft nicht ab, nahm ihr aber Charakter und Farbe; es vernichtete nicht das allständische Prinzip, fügte aber eine ständische Färbung hinzu; es ließ Wahlämter bestehen, erklärte aber den Dienst in ihnen als Staatsdienst; es machte die landschaftlichen Ämter nicht zu Staatsbehörden, aber vermehrte ihre Bevormundung durch den Gouverneur; es ließ den landschaftlichen Versammlungen ihre bisherige selbständige Beschlussfassung in den meisten ihrer Sorge zugewiesenen Dingen, aber verstärkte das bloß negierende Einspruchsrecht des Gouverneurs. Von der Hauptmasse der Landbevölkerung, den Bauern, wurde die Landschaft völlig getrennt. Zwischen beide wurde durch das Gesetz von 1889 die Gewalt der Landhauptleute gesetzt, die mit den Landschaften nichts gemein haben. Das Gesetz von 1890 war ein offenbarer Schritt zur Aufhebung der Landschaften.

Dennoch wurden die Landschaften nicht gehorsame Werkzeuge der Regierung. Man kann — immer nach WITTE — deshalb geradezu behaupten, dass die gewünschte Vereinheitlichung ihrer und der staatlichen Tätigkeit solange nicht erreicht werden wird, solange die Landschaften in den staatlichen Zentralbehörden etwas ihnen Gegensätzliches sehen werden, solange nicht Erwählte aus den Landschaften aktiven Anteil an ihrer Tätigkeit nehmen, solange die Gesetze nicht als Ergebnisse der Beschlösse dieser Erwählten erscheinen werden. Andererseits wird das Misstrauen der Regierung nicht verschwinden, solange sich auch nur der Schatten von Selbständigkeit bei den landschaftlichen Institutionen erhalten wird.

Bei der Thronbesteigung Nikolaus II drückten neun Gouvemementslandschaften in ihren an den Thron gerichteten Adressen ihren Protest aus gegen die bestehende Ordnung und baten um Zulassung der Landschaften zur Teilnahme an der legislativen Arbeit. Die meisten anderen Landschaften äußerten wenigstens dieselbe Gesinnung, ohne sie in Adressen auszudrücken. Witte hält die landschaftliche Bewegung, die sich in diesen Adressen zeigt, für weit ernster, als die leere und lärmende Opposition gegen die Gouvernementsobrigkeit. Welcher in der Form, sagt der Minister, ist sie doch nach ihrem inneren Gehalt weit bedeutsamer sogar als die heftige Bewegung von 1879 — 1883 war; man darf nicht vergessen, dass die neueste Bewegung von der durch das Gesetz von 1890 verstümmelten Landschaft ausgeht.

Weder eine Verschmelzung mit den staatlichen Organen, noch eine Belebung und ein Erfolg in der landschaftlichen Tätigkeit, noch das Verschwinden der politischen Tendenzen in den umgestalteten Landschaften ist erfolgt Umgekehrt bemerkt man in den neuen Landschaften ein neues Anschwellen der landschaftlichen Besteuerung gerade für Bedürfnisse, die von den Landschaften befriedigt werden sollen, darunter auch für solche, wie die Volksbildung, die nach der Meinung GOREMYKINs nicht der Landschaft unterstehen sollten. Der Hader zwischen Landschaft und Regierung ist gewachsen, und endlich ist das gleichgültige Verhalten der landschaftlichen Stimmgeber gegenüber den Angelegenheiten der örtlichen Verwaltung gewachsen, und ebenso die tatsächliche Abhängigkeit der ausfahrenden Organe der landschaftlichen Wirtschaft von den Kanzleien. . . . „Unsere örtliche Verwaltung ist in der unnormalsten, traurigsten Lage. . . ."

In einer Schlussbetrachtung sagt WITTE: „Nur unter der Bedingung gleichartiger Prinzipien in der Ordnung der obersten und der untersten Instanzen, der zentralen und der örtlichen Organe, erlangt man eine wirkliche Einheit der Verwaltung; der Staat erscheint wirklich als Herr in dieser Sache; nur unter dieser Bedingung können die örtlichen Organe zuverlässige Ausführer der Vorschriften der zentralen Gewalten sein, und gehören zu ihnen als „eigene“, nicht als „fremde“. Ist die Regierung erst sicher aller Teile ihrer Verwaltung, bietet diese ihr erst eine zuverlässige Stütze, so werden Ausnahmemaßregeln überflüssig; sie gehören ins Gebiet der Ausnahmefälle. Nachdem die Regierung feste, bestimmte Rahmen des Gesetzes aufgestellt hat, kann sie ruhig die Äußerungen persönlicher und gesellschaftlicher Selbsttätigkeit, die Freiheit des Wortes und des Gedankens behandeln, indem sie nur darauf achtet, dass niemand, auch die Administration nicht, aus dem Rahmen dieses Gesetzes trete, und indem sie von allen eine unweigerliche Befolgung und widerstandslose Unterwerfung darunter fordert.“ Das Schwanken ist vorüber, „die Regierung hat den Pfad der Verstärkung der Selbstherrschaft betreten, und — das Bild hat sich wieder geändert"

So gedrängt die Wiedergabe der Erörterungen des Ministers ist, die ich in dem Vorstehenden gegeben habe, so wird der Leser doch vielleicht einen Einblick in diese für die Zukunft unseres großen Nachbarreiches so bedeutungsvollen Kämpfe zwischen den beiden altbekannten Prinzipien des Staatslebens gewonnen haben. Ja allerdings, das Bild hat sich geändert, und nicht bloß das Bild des Kampfes zwischen Landschaft und Regierung, sondern auch das Bild des Ministers, das wir zu Anfang seiner Erörterungen sahen. Es schien, als ob wir einen glänzenden Anwalt der bedrängten Landschaften vor uns hätten, und nun müssen wir ihn als Vertreter des starren bürokratischen Absolutismus anerkennen. Und dennoch: sollte diese Schrift auf irgend eine Weise in Russland Verbreitung finden, so vermute ich, dass der Anwalt der Selbstverwaltung weit mehr Gehör finden wird, als der Vertreter der Autokratie und des Tschinowniktums. Diese Schrift überzeugt nicht im Sinne des Ministers des Absolutismus, sondert, weckt Sympathie mit den Vertretern der Selbstverwaltung. So hoch wir die Begabung eines Mannes wie des Ministers WITTE anerkennen müssen angesichts seiner übrigen praktischen Leistungen, so staunen wir doch über das in seiner Schlussbetrachtung abgelegte Bekenntnis. Mag ihm auch vor dem Konstitutionalismus noch so sehr grauen, so können wir doch kaum verstehen, wie er an die Zukunft eines so offenbar bankrotten Systems zu glauben vermag, wie das ist, dem er hier Ausdruck gibt „Homogene Prinzipien“ oben wie unten, d. h. absolut herrschender Wille des Monarchen; „Einheit der Verwaltung“, d. h. bürokratischer Zentralismus; „Zuverlässigkeit“ der unteren Organe, d. h. volle Abhängigkeit, alles in allem eben der altbekannte Absolutismus, wie er in Europa im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert, wie er in Russland noch unter Nikolaus I blühte. Also jedenfalls nichts Neues, was WITTE lehrt. Was aber sollen wohl die „festen Rahmen des Gesetzes" bedeuten, die, einmal aufgestellt und polizeilich bewacht, die „Selbständigkeit von Personen und Gesellschaften, sogar die „Freiheit von Wort und Gedanken" erlauben würden? Ist das nicht der echte und rechte alte Polizeistaat, der 1855 zusammenbrach, und den Witte nun neu errichtet? „Widerstandsloser Gehorsam" — den fordert Witte vor allem, und was er unter vernünftiger Selbstverwaltung versteht, das ist die selbständige Verwaltung des Gutes durch den Gutsbesitzer, der Fabrik durch den Fabrikherrn, kurz, der privaten Interessen durch private Personen und Gesellschaften. Das Verständnis für Selbstverwaltung in öffentlichen Dingen, für die erziehende, stärkende Kraft der politischen Selbstverwaltung, für die gewaltige Bedeutung, die sie in allen Kulturstaaten für Volk und Staat gehabt hat, vermissen wir. Wir vermissen auch den Nachweis, dass die Landschaften ihre Pflichten nicht erfüllt hätten, ihrer Aufgabe nicht wären gewachsen gewesen. Solcher Mängel werden sie gar nicht beschuldigt, obwohl der Verfasser der Schrift ohne Zweifel reiches Material hätte herbeischaffen können, um zu beweisen, welche Fehler die Landschaften begangen haben. Denn dass ein junges Institut wie dieses viele üble Erfahrungen durchmachen musste in diesen bald vierzig Jahren seines Bestehens, dass mancherlei Irrwege beschritten, Torheiten begangen wurden, kann man annehmen auch ohne Untersuchung und ist in der Tat geschehen. WITTE aber lässt dem Eifer, der Tätigkeit, den Erfolgen der Landschaften in ihrer anfänglich freieren Stellung Gerechtigkeit widerfahren, nur dass es ihm darauf gar nicht ankommt, was die Selbstverwaltung leistete und leisten könnte, sondern nur darauf, dass sie durch ihre Tendenz zur Bildung einer Gesamtlandschaft dieses Gespenst der Konstitution heraufbeschwört, vor dem der Minister den Staat um jeden, sogar um den Preis des Verdorrens, schützen will, weil der Bestand des Reiches, der äußere Riesenleib, dadurch vielleicht gefährdet würde. Dieser Standpunkt scheint für jeden politisch denkenden Menschen ein bedenklicher, ein fast verzweifelter zu sein, besonders in einer Zeit, wo derselbe Minister alle Kräfte des Staates daransetzt, einen industriellen Mittelstand zu schaffen. Glaubt der Minister wirklich, ein sich industriell und kommerziell entwickelndes Reich zwischen Eismeer und Stillem Ozean, zwischen Pamir und Weichsel von St. Petersburg aus mit dem „homogenen Prinzip“ des staatlichen Mechanismus dauernd regieren zu können? Nach den Erfahrungen, die uns anderen Europäern zu Gebote stehen, ist das unmöglich. Gerade der Minister, der sich mehr als einer vor ihm bemüht hat, wirtschaftliches und geistiges Leben in dem Reich zu wecken, müsste fürchten, dass mit der Rückkehr zur bürokratischen Alleinherrschaft die eine Hand zerstöre, lähme, was die andere schuf. Bürokratische Alleinherrschaft würde weit mehr zu einem System POBEDONOSZEW passen, zur Niederhaltung der ganzen geistigen Volksentwicklung. In der Türkei ist dieses System vielleicht passend, aber Herr WITTE tut ja mehr als irgend jemand dazu, die Unähnlichkeit Russlands mit der Türkei zu vergrößern. Er holt eine ganze Bibliothek staatsrechtlicher Schriften zu seiner Beweisführung heran, ja er stützt sich auf eine Menge von Schriften, die, wenn er sie vor Jahren besessen und gelesen hätte, ihn vielleicht nach Sibirien statt an die Spitze der Regierung gebracht hätten: wenn er all diese Schriften aber nicht bloß durch „Zusammensteller“ seiner Denkschrift hätte herbeiholen lassen, sondern auch nur einen geringen Teil davon selbst gelesen hätte, so konnte es bei einem so bedeutenden Geist nicht ausbleiben, dass eine mehr staatsmännische Auffassung von den sittlichen Kräften des Volkes und den politischen Aufgaben des Staates aus solchem Studium hervorgegangen wäre. Dem Verfasser der Denkschrift hätte es nicht entgehen sollen, dass die vielen wissenschaftlichen Autoritäten, die er nennt, an der Verderblichkeit einer staatlichen Uniformität und bürokratischen Zentralisation von der Art und Ausdehnung, wie der Minister sie im Auge hat, keinen Zweifel lassen. Wissenschaftlich für diese zum Gemeinplatz gewordene Erfahrung des europäischen staatlichen Lebens noch ein Wort zu verlieren, ist überflüssig. All der Gelehrsamkeit — nicht des Herrn Ministers, dem die Verantwortung zuzuweisen vermessen wäre, sondern des „Zusammenstellers" — erlaube ich mir nur ein Zitat aus einem Roman entgegenzustellen. BULWER sagt in seiner „Alice", Buch 6, Kapitel 2, von der staatlichen Zentralisation der Franzosen: „ein Grundsatz, der augenblickliche Kraft sichert, aber jedes mal mit plötzlicher Vernichtung der Staaten endet. Die Zentralisation ist wirklich ein gefährliches tonisches Mittel, das zwar das System zu stärken scheint, aber das Blut zu Kopf treibt und Schlagfluss oder Tollheit hervorzurufen pflegt. Durch Zentralisation werden die Provinzen geschwächt . . ." Der Herr Minister hätte nur „Alice" zu lesen brauchen. Da er sich aber zu sehr auf seinen „Zusammensteller" verlassen hat, so ist das Ergebnis seiner Forschungen eine so flach mechanische Auffassung — soweit Auffassung und Programm innerlich übereinstimmen — , wie sie allenfalls dem Gesichtskreise eines Kreispolizeichefs, nicht aber dem des leitenden Ministers eines großen Reiches entspricht Hätte der Minister selbst auch nur die russische Geschichte bis zu den Reformen Alexanders II selbst studiert, so wüsste er, dass das, was er als die allein segensreiche Grundlage der Regierung Russlands neu festigen will, eben das abgewirtschaftete System ist, das zu den Reformen nötigte. Die reine Bürokratie ist in Russland bankrott, und sie neu errichten, heißt ein gefährliches Spiel spielen. Aber der Minister will ja auch nur einem nach seiner Meinung noch gefährlicheren Spiele entgehen. Es ist, wenn die Frage so scharf gestellt wird, allerdings nicht ganz leicht, sich zu einer Antwort zu entschließen. Und auch dem Minister ist sie, wie ich schon oben vermutete, schwer genug gefallen. Aber sie ist doch gefallen.

Er will mit Selbstherrschaft und administrativer Zentralisation die Einheit Russlands retten. Er kennt nur zwei Möglichkeiten: Selbstherrschaft oder Konstitutionalismus. Er bemerkt nicht, dass es auch Mittelwege gibt, dass z. B. die bestverwalteten Teile Russlands, nämlich die Ostseeprovinzen und Finnland, ihre Blüte durch mehr oder minder freiheitliche Selbstverwaltung erreicht haben unter der Selbstherrschaft und ohne eine russische Konstitution. Er bemerkt nicht, dass er aus Furcht vor einem Zerfall des Ganzen einem Zustande zustrebt, der eine Paralyse oder eine Explosion zur Folge haben muss. Er bemerkt nicht, dass, wenn seine Schultern vielleicht einer solchen Last, wie er sie schon heute trägt, noch gewachsen sind, die künftige Last des nach seinem Sinn neu geformten Staates von keiner Zentralregierung in nützlicher Weise wird getragen werden können. Er rechnet als Finanzminister, dass die Staatsbeamten billiger seien als die landschaftlichen Beamten, und bemerkt nicht, dass die Staatsbeamten oft deshalb schlecht sind, weil sie zu billig sind. Ja, es könnte sein, dass der Finanzminister, der schon bald 2 Milliarden Rubel jährlich durch seine Hände fließen lässt, meint, es wäre besser, wenn auch die etwa 88 Millionen die von den Landschaften aufgebracht und verwandt werden, ihm zur Verfügung ständen. Er ist eine gewaltige Arbeitskraft und will ein Atlas werden. Sollten ihn nie Zweifel anwandeln an der Ausführbarkeit seines Unternehmens? Vorläufig scheint er noch an sich und an sein System zu glauben.

Wenn man die oben skizzierte Geschichte der russischen Landschaften überblickt, so fällt es auf, wie genau die Krisen in dem Leben der Landschaften mit den großen inneren Erregungen der Zeit und besonders mit den Krisen in dem Leben der Monarchen selbst zusammenfallen. Der politisch genommen tragische Tod Nikolaus I trieb zu den großen Reformen seines Nachfolgers an. Aber noch ehe diese Reformen bis zu den Landschaftsinstitutionen gediehen waren, brachen die Studentenunruhen vom Anfang der sechziger Jahre aus und 1863 der polnische Aufstand. Das kühlte den Liberalismus ab, und wenn man die Landschaftsverordnung 1864 auch durchführte, so trat doch zugleich eine Rückwirkung auf das System der Regierung ein: dem freiheitlichen Gange der neuen Institutionen wurden die ersten Steine in den Weg geworfen. Dann kamen von 1866 an die Attentate auf Zar und Minister, und parallel ging die Knebelung der Landschaften in einem von Jahr zu Jahr verstärkten Maße. Endlich wird die Erregung in den Landschaften und Städten bedrohlich; man merkt im Zentrum, dass man zu weit gegangen ist im Rückschritt. Da kommt die Adresse der fünfundzwanzig Moskauer, deren Gewicht groß genug ist, dem Zaren die Zustimmung zur Einberufung einer die Verfassung vorbereitenden Kommission, die Unterzeichnung des Befehls dazu zu entreißen. An demselben Tage, am 1. März 1881, wird Alexander II ermordet. Noch halten der leitende Minister LORIS-MELIKOW und die meisten seiner Kollegen mit ihm an dem freiheitlichen Programm fest. Am 8. März ist Beratung darüber, ob der Ukas über die Einberufung der Kommission erfüllt werden solle, und — so können wir der Diskretion des Ministers, der nicht aus dem Amt plaudern will, nachhelfen — die meisten Minister sind von der Zustimmung der beratenden Ministerversammlung, sowie des neuen Zaren überzeugt Da erhebt sich der Oberprokureur des Synods POBEDONOSZEW und erklärt sich dagegen, aber nicht bloß sich, sondern auch den Zaren, den er insgeheim gewonnen hatte. Gegen die Mehrheit blieb der Ukas unausgeführt, POBEDONOSZEW ging als Sieger hervor und leitete fortan wie ein zweiter Pater LACHAISE den Kampf gegen alle freiheitlichen Bewegungen. Und was war das Mittel, nicht nur Alexander III, sondern auch einen so gewissenhaft und gerecht denkenden Monarchen wie Alexander II dazu zu bringen, sich selbst zu widerrufen? Es war die Furcht. Und mit diesem elenden Instrument hat man seither viel erreicht . . .

In dieser Denkschrift vom Jahre 1899 sagt Herr WITTE: „Die landschaftlichen Institutionen sind jetzt fast aller Selbständigkeit beraubt und unter strenge administrative Bevormundung gestellt; sie haben einen ständischen Anstrich bekommen; ihre Exekutivorgane erhielten eine bürokratische Färbung und sind in starke Abhängigkeit vom Gouverneur gesetzt worden; in kurzer Zeit beabsichtigt man die strengste Reglementierung der landschaftlichen Tätigkeit und ihre Herabsetzung auf ein Minimum.“

Nun, das ist offen gesprochen, und wie die Erfahrung gezeigt hat, auch offen gehandelt Am 12./25. Juni 1900 wurde gesetzlich verordnet, dass die landschaftliche Immobiliensteuer um nicht mehr als 3 Prozent jährlich erhöht werden dürfe, und da dies die hauptsächliche Einnahmequelle der Landschaften ist, so ist ihre ganze Tätigkeit fast zum Stillstand gebracht worden. Zugleich verloren sie die Selbständigkeit völlig, da ihr Beschlussrecht in die Befugnis verwandelt wurde, Anträge zu stellen und Vorschläge zu machen. Das heißt freilich gründlich reglementieren. Und wie kam dieses die Landschaften völlig lähmende Gesetz vom 12. Juni 1900, das Witte schon 1899 voraussagte, zustande? Nach den Ergänzungen des Herausgebers der Denkschrift in der Weise, dass in dem Reichsrate neunzehn Stimmen gegen, zehn Stimmen für den Entwurf abgegeben wurden, der Zar aber der Minderheit zustimmte. Der Finanzminister, POBEDONOSZEW, SIPAGIN vereint vermögen viel, und der Finanzminister am meisten. Eben deshalb muss uns Deutsche seine Denkschrift doppelt interessieren. Denn wenn jeder Gebildete heute auch Anteil nehmen wird an der Erzählung staatlich sozialer Kämpfe, über die bisher wenig in die Öffentlichkeit gedrungen ist, so werden wir ganz besonders acht haben müssen auf Äußerungen eines Mannes, der den Willen und die Macht gezeigt hat, unser großes Nachbarreich in Bahnen zu zwingen, die vielleicht für lange Zeit entscheidend sein werden. Entscheidend nicht darüber, ob Russland bürokratisch-zentralistisch oder dezentralistisch-selbstverwaltend regiert werden soll, denn für uns ist kein Zweifel an der Unhaltbarkeit des WITTEschen, oder sagen wir lieber von WITTE vertretenen Systems, für längere Dauer möglich. Zweifelhaft bleibt nur, welches Ende diese, nach der Ansicht des Herausgebers der Denkschrift „letzte Anstrengung des selbstherrlich-bürokratischen Regimes" nehmen wird. Die Empfindung von der Unhaltbarkeit dieses Regimes, von der Notwendigkeit, die Erstarrung zu brechen; das Bedürfnis nach freier Bewegung auf den Hauptgebieten des sittlichen Volkslebens, nach kirchlicher und politischer Freiheit und Selbstbestimmung, diese Empfindung, die schon zu einer Meinung geworden ist, ist heute sehr groß in Russland, sehr verbreitet auch bis in die obersten Schichten des Beamtentums hinauf. Und diesem Drängen nach Luft und Licht setzt der tatsächlich leitende Minister die Erklärung entgegen, es solle Selbstverwaltung geben, aber nur auf dem Gebiete privater Interessen, d. h. in europäischer Sprache: es solle keine Selbstverwaltung geben. Es ist kaum möglich zu glauben, dass Herr WITTE im letzten Grunde wirklich in diesem Widerstreit zwischen Selbstherrschaft und Selbstverwaltung sich ganz und allendlich auf die Seite der unbedingten Erhaltung der Selbstherrschaft stellen will. Indem er den Gegensatz schroff zeichnet, lässt er die Wahl offen — das ist es, was viele zwischen den Zeilen dieser Schrift lesen. Und wenn Herr Witte auch nur einen Teil der Quellen gelesen hat, die hier angeführt werden, so wird er ohne Zweifel auch die Lehren kennen, die sich aus der französischen Geschichte vor 1789 aufdrängen. Damals waren es zwei Finanzminister, TURGOT und NECKER, die vielleicht die Gräuel der Revolution hätten vermeiden können, wenn sie die Macht gehabt hätten, ihre Pläne voll durchzuführen. Was waren diese Pläne, diese Mittel? TURGOT suchte zu dezentralisieren durch Organisation selbständiger Körper in Gemeinde und Kreis; Necker wollte diese durch Provinzialkörper ergänzen. So sollte eine Selbstverwaltung gegründet und entwickelt werden, die den Zentralorganismus entlastet hätte. Die Minister wurden gestürzt, die Reformen kamen nicht zur Entwicklung, und — der Staat brach zusammen. Der heutige Finanzminister ist stärker, als es TURGOT und NECKER waren. Sollte er wirklich nicht an diese Männer, sondern an CALONNE und die Notabeln gedacht haben, als er diese Denkschrift verfassen ließ? Haben wir Anlass, an JULES POLIGNAC und die Ordonnanzen zu erinnern? Russland ist nicht Frankreich, aber die Russen sind denn doch auch, sozusagen, Menschen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland, Kulturstudie um 1900