Siebzehntes Kapitel. Verfassungsfragen

Es ist ein verzweifelter Kampf, den Russland mit den Kulturvölkern Europas und Amerikas kämpft. Dort im Westen senkt sich die Kraft, die ehemals ihren Schwerkpunkt in der Spitze, in Fürst und Regierung hatte, in immer breitere Schichten des Volkes hinab, und gewinnt damit an Umfang, Stetigkeit, Festigkeit, freilich mit Verlust an kriegerischer, erobernder Beweglichkeit nach außen. Russland hingegen ist sehr beweglich für Unternehmungen nach außen, indem es alle Kräfte des Volkes aus den unteren Schichten nach oben zieht und den Schwerpunkt in der selbstherrlichen Spitze zusammenhält, wodurch die Kräfte handlicher für die Verwendung werden, aber im Wert für die Entwicklung des Volkes sinken. Die politische Gestaltung des heutigen Europa der parlamentarischen Ära ist dahin gelangt, dass viele zweifelhaft werden an dieser Regierungsform, die doch hundert Jahre lang als politisches Zaubermittel verehrt worden ist. Das Vertrauen wurde in Europa durch die Erfahrung erschüttert, dass die vollendetste Konstitution, der schönste Parlamentarismus nur zu immer neuen sozialen Gärungen führten, und dass, je tiefere Schichten an dem politischen Leben teilnahmen, um so roher die Formen des politischen Lebens und auch um so schwieriger die Behandlung des Inhaltes wurde. Das Vordringen des Einflusses der Massen auf die Politik vergrößert die politische Technik, engt das Denken durch das Wollen ein und fördert eine Gewaltsamkeit in dem Ringen der Interessen, die oft einen übermäßigen Verbrauch an Arbeitskraft ohne die entsprechenden Früchte zur Folge hat Logik und Erfahrung sprechen gleichmäßig dafür, dass, sobald die politische Macht zu tief hinuntersinkt, der Staat Gefahr läuft, plötzlich umgestülpt zu werden, indem die Gewaltsamkeit in die Massen oder in die Hand eines einzelnen übergeht.

Die Russen, die stets mit sehr gespanntem Interesse dem politischen Leben Europas folgen, haben längst das Sinken des Ansehens bemerkt, welches sich gegenüber den Parlamenten Europas in den meisten Ländern kund tut. Voreilig folgern sie daraus oft, dass der Parlamentarismus überlebt sei, indem sie übersehen, dass, soviel auch gegen die Blößen, die die Parlamente sich geben, selbst in Deutschland gewettert wird, es kaum einen Deutschen gibt, der ernstlich wünscht, dass die Volksvertretung beseitigt werde und der Kaiser selbstherrlich regieren möge, und wenn sie diese Folgerung, dass die konstitutionelle Staatsform sich abgelebt habe, nicht immer ernstlich ziehen, so treibt das Bedürfnis nach Selbstverherrlichung sie leicht dazu, die eigene zarische Verfassung als urrussisch und als den repräsentativen Verfassungen Europas weit überlegen darzustellen. Es ist dasselbe Bedürfnis nach Originalität, welches die Ursache war, dass die russische Dorfverfassung zu einem nationalen Heiligtum gestempelt und zum Unheil des Volkes bis heute erhalten wurde, oder dass heute Individualismus und Kollektivismus von konfusen Köpfen für urrussische große Prinzipien erklärt werden. Man wird zwischen dem Drange nach innerer Entwicklung und der Scheu, das Unvermögen einzugestehen, hin und her geworfen, und kommt so nicht von der Stelle. Und die Lage ist nicht nur für den sein Vaterland liebenden Russen, sondern auch für den praktischen Staatsmann allerdings eine außerordentlich schwere. Denn auch er muss anerkennen, dass die innere Entwicklung Russlands im Sinne europäischer Kultur in ihrem weiteren Verfolge nur möglich ist unter Verzicht auf eine Tradition und auf äußere Ansprüche, von denen kein Staat und kein Volk sich leicht trennen können. Russland wird nicht Kulturstaat werden, solange es die bisher verfolgte Weltpolitik und national-propagandistische Politik treibt, und es kann diese Weltpolitik nicht weiter treiben, wenn es seine bisherige despotisch-bürokratische Zentralisation aufgibt. Täglich 438 Quadratkilometer Land hinzuerwerben und zugleich aus einer mehr denn 120 Sprachen redenden Bevölkerung eine national und kirchlich gleichförmige russische Masse machen, das kann nur einer despotisch zentralisierten Regierung, ich sage nicht gelingen, sondern in den Sinn kommen. Mit einer Bevölkerung, wie die Vereinigten Staaten sie haben, kann das größte Reich der Welt in den freiesten staatlichen Formen ohne große Schwierigkeiten gelenkt werden. Mit einer russischen Bevölkerung, wie sie noch heute ist, sich in den Parlamentarismus zu stürzen, wäre ein gefährliches Unternehmen, auch wenn man die weltpolitische Stellung aufgeben wollte, die Russland heute genießt. Und doch ist es wiederum aussichtslos, mit dem heutigen System der Regierung das russische Volk zu einer Entwicklung zu heben, die es den europäischen und amerikanischen Kulturvölkern gegenüber konkurrenzfähig machen könnte. So wie dieses Volk heute ist, kann es besten Falles noch für eine nicht gar lange Zukunft ein stehendes Heer von anderthalb Millionen und ein ungeheures Budget ertragen, aber es vermag weder wirtschaftlich noch geistig den Vorsprung der leitenden Kulturvölker einzuholen, hinter denen es vielmehr immer weiter zurückbleibt. Dies könnte nur in einer langen Periode langsamer innerer Erziehung zu Selbsttätigkeit, Arbeit und Freiheit erreicht werden, und unter einer Regierung, die allen äußeren Glanz auf staatlichem und auf nationalem Gebiet entsagend sich ausschließlich dem wirtschaftlichen und geistigen inneren Volksleben widmete. Zu einem solchen Bruch mit Tradition und Neigung wird sich jede Regierung nur in der äußersten Notlage entschließen, und ganz besonders schwer eine Regierung, deren Ansehen gerade in äußerer Politik und in der Befriedigung nationaler und kirchlicher Empfindungen hauptsächlich wurzelt. Ein solcher Bruch könnte kaum anders als infolge großer Erschütterungen durch Krieg oder Revolution zur Ausführung gelangen. Es scheint aber, dass zahlreiche Elemente in Russland auch diese Bedingung anzunehmen entschlossen sind, nur um aus der völligen Stockung herauszukommen, in die das Volksleben in dem größten Teile des Reiches geraten ist.


Man kann sich kaum vorstellen, dass in Russland eine Revolution ausbrechen könnte, wie sie in anderen Ländern möglich war. Die natürlichen Verhältnisse des Landes sowohl als der Charakter des russischen Volkes sprechen dagegen. Die einzigen größeren Aufstände, die im 17. und 18. Jahrhundert vorkamen, wurden zu Stande gebracht unter der vorgespiegelten zarischen Autorität STENKA ROSINS Flotte hatte an ihrer Spitze eine reichgeschmückte, angeblich zarische Bawka, in der man den Zaren Alexei verborgen glaubte. PGATSCHEW gab sich für Peter III aus. Heute bringt man das Landvolk durch gefälschte zarische Manifeste auf die Beine. Allein es lässt sich doch nicht leugnen, dass noch niemals so viel Stoff für revolutionäre Erhebungen vorhanden war als jetzt. Die Bevölkerung der wenigen großen Städte nimmt immer offener den Geist in sich auf, den die revolutionäre Propaganda verbreitet; Mittelklassen, zum Teil auch obere Schichten sind vielfach staatsfeindlich; das Landvolk wird vom Hunger getrieben: die Fragestellung ist bereits die, ob das Heer noch sicher ist. Und die Frage kann man nicht mehr ohne weiteres bejahen. Russland ist nicht mehr vor Revolutionen sicher, die weitere Kreise erfassen könnten, als bloß Palastverschwörer. Finanzen, Volkswirtschaft, Selbstverwaltung — das sind die Dinge, von denen die nächste Zukunft des Reiches wird bestimmt werden.

Wir haben in einem früheren Kapitel gesehen, wie der heute mächtigste Mann Russlands scheinbar für Aufrechthaltung des Absolutismus eintritt Ihm kann man die Schrift eines sehr angesehenen und gereiften russischen Staatsmannes als Antwort gegenüberstellen, auf die ich schon hingewiesen habe.*) Der Verfasser gehört nicht zu den jungen Stürmern, sondern zu den besonnenen und erfahrenen Leuten, die unter den Schlägen der Reaktion ihr Gleichgewicht behalten haben. Er weist die parlamentarische Regierungsform als für Russland ungeeignet zurück, weil es an politischer Erfahrung und Schulung fehle. Aber er fordert, dass der unbegrenzten Gewalt Schranken gesetzt werden und der Monarch dem korrumpierenden Einfluss der herrschenden Bürokratie entrissen werde. Hierzu genüge es, wenn in die Residenz eine Versammlung Erwählter berufen werde, etwa zwei oder drei von jeder Guberniallandschaft, welche Versammlung die Gesetzesvorlagen und das Budget zu beraten hätte. Zugleich solle der Reichsrat von den bloß dem Tschin nach ihm angehörenden Gliedern gereinigt und zum Oberhause gemacht werden. Damit wäre die Verfassung gegeben, und man brauche sich weiter nicht viel den Kopf zu zerbrechen. Nur müssten notwendig die Erwählten mit Rechten ausgestattet werden, da eine bloß beratende Versammlung immer von der regierenden Bürokratie abhängig sein würde, auf deren Zügelung es gerade ankomme. Ein Gegengewicht gegen die den Thron umgebende Tschinownikschaft könne nur ein ganz unabhängiges Organ bieten mit beschließender Stimme für die inneren Angelegenheiten. Nur eine mit Rechten ausgestattete Versammlung könne den Willen des Monarchen selbst einschränken, was die erste Bedingung einer gesetzlichen Ordnung bilde. „Solange“, sagt der Verfasser mit feinem Verständnis der Lage, „der Monarch sich nicht an den Gedanken gewöhnt, dass sein Wille nicht alles vermag, dass es ein von ihm unabhängiges Gesetz gebe, dem er sich anpassen muss, ist es vergeblich, über irgend welche Garantien des Rechts und über die Zügelung der Beamtenwillkür zu grübeln: Alles wird beim Alten bleiben . . . .“

*) „Russland am Vorabend des 20. Jahrhunderts."

Das ist ohne Zweifel sehr wahr und sehr klar. Nur bleibt es fraglich, auf welchem Wege dieses Ziel erreicht werden könnte in einem Staat, wo das Bedürfnis nach Recht bei der großen Masse der Untertanen so wenig entwickelt und das Bedürfnis nach Macht bei den Organen der Regierung so stark ist. Wenn man in Russland die Gewohnheit, die Geduld, Verständnis für organisch langsame Entwicklung hätte, so fände man vielleicht jene Wege. Man gebe es auf, Weltmacht und Kulturmacht zugleich zu spielen. Man versuche, das Budget nicht durch Anleihen und Großindustrie zu balanzieren, sondern, vom anderen Ende anfangend, den Ackerbau, die lokale Arbeit, den Bauern, das Kleingewerbe zu fördern. Man versuche zu sparen, indem man die Ausgaben für das Heer auf die Hälfte herabsetzt. Denn diese Kriegsstärke dient wohl dazu, nach außen zu drohen und in Asien zu erobern, ist aber zum Schutz eines friedlichen, an seiner inneren Entwicklung arbeitenden Russland entbehrlich, da es keinen Gegner gibt, der Russland zu Lande bedroht Dieser Staat ist schon geographisch für eine defensive Politik so günstig gelegen, dass er, will er ernstlich abrüsten, es tun kann, ohne jemand zu fragen und ohne jemand zu fürchten. Niemand ist ihm bedrohlich in seinem Bestande außer etwa die Polen, und gegen die bedarf es keines Heeres von Millionen an Soldaten. Die westlichen Grenzgebiete sind heute wirtschaftlich und kulturell die stärksten Träger des Staates; sie können es auch politisch werden, sobald der Staat den nationalen und konfessionellen Kampf in diesen Gebieten aufgibt, und sobald die Westgrenze weiterem Einströmen westlicher Kultur geöffnet wird. Deutschland ist der bequemste und sicherste Nachbar, den Russland hat, und kann der nützlichste werden, wenn Russland sich entschließt, sich ihm politisch und wirtschaftlich eng anzuschließen. Es ist in Deutschlands Interesse, dass Russland Weltmacht bleibe, und dasselbe gilt auch umgekehrt. Ein enges Zusammengehen beider Staaten gibt Russland die Möglichkeit, Weltmacht zu bleiben und seine Kriegsrüstung zu Lande in großem Maßstabe einzuschränken. Erst dann wird es materiell und kulturell die Mittel gewinnen, seine innere Entwicklung kräftig zu fördern.

Niemand ist ihm in seinen wirtschaftlichen Interessen bedrohlich, außer etwa England, und gegen dieses sich durch eine Flotte zu schützen, ist die flotte Russlands allein viel zu klein, sie kann auch nie so vergrößert werden, dass sie der englischen gewachsen wäre; schon die geringe nutzbare Küstenausdehnung verbietet das. Die Werte, die die Flotte schützen soll, stehen nicht im Verhältnis zu den Kosten der Marine, solange die Marine sich nicht sicher an andere Seemächte anlehnen kann. Ohne eine verbündete Seemacht hat die heutige russische Flotte geringen Wert, ebenso wie das Heer weit mehr kostet, als die Interessen wert sind, die es schützen soll. Und ähnlich liegt es mit der Verteidigungsstellung, die Russland auf dem Boden der Kultur einnimmt. Es will nationale russische Kultur erzwingen und Kultur lässt sich nicht erzwingen. Statt nationaler Eroberung im Westen nachzujagen, die viel kostet und nichts einbringt, müsste die Grenze dem Einströmen fremder Kultur weit geöffnet werden, müssten die Provinzen mit eigenen Kulturelementen in ihrer Eigenart gefördert werden, müsste überall dezentralisiert und provinzielles Sonderleben von Petersburg bis Odessa gefördert werden. Seit der Absolutismus in Europa seine einigende, zentralisierende Aufgabe erfüllt hat, ist der föderative Staatsorganismus zum leitenden Prinzip in den Kulturstaaten geworden. Hierin gehen die germanischen Völker in Amerika, Deutschland, England voran, und je größer ein Staat ist, um so mehr bedarf er der inneren Mannigfaltigkeit, um die äußere Einheit sich zu erhalten, und mehr noch um sich kulturell zu entwickeln. Das gilt durchaus auch für Russland, nur dass es sich hier um eine andere, mildere Form des föderativen Prinzips, um provinzielle Dezentralisation handelt. In der Provinz müsste die Schule gepflanzt werden, wo politische Erfahrung gesammelt, wo die Kunst der Selbstverwaltung erlernt werden könnte, an deren Mangel das Reich hauptsächlich krankt Im ganzen Reiche müsste das religiöse Gewissen unbehindert sein und die Bedrückung der Sekten und der nicht orthodoxen Konfession aufhören. Aber in Russland geht man in diesen inneren Angelegenheiten selten den langsamen und sicheren Gang; man will auf der einen Seite die gestern gepflanzten Setzlinge einer provinziellen Selbstverwaltung ausrotten, weil sie heute noch keine reife Frucht tragen, und man will auf der anderen Seite sich an großer Weltstellung und an slawischer Kultur berauschen, ehe man die Mittel dazu erworben und die Kultur geschaffen hat und dann: sind denn die Leute, die ein Parlament wünschen, dessen so sicher, dass mit einer beschließenden Volksvertretung, einer Verfassung moderner Form, auch die Freiheit begründet werden wird, nach der man sich so sehnt? Ja, man wird die Freiheit erlangen zu reden und zu schreiben, was man auf dem Herzen hat. Aber die Freiheit individueller, kommunaler, provinzieller Entwicklung? Die lokale Sicherheit vor dem zentralen Zwang? . . . Revolutionen sind despotischer als Monarchen, und der liberale Doktrinarismus ist ebenso gewaltsam wie selbstherrliches Beamtentum. Noch heute steht der großen Masse des niederen Volkes nur ein mit öffentlichen Pflichten wenig vertrauter Adel und eine „Intelligenz" gegenüber, die mit wenigen Ausnahmen von praktischer politischer Arbeit erst recht nichts versteht, umso mehr aber von theoretischer Schulweisheit erfüllt ist, die sie zu verstehen glaubt. Der Russe ist von Natur demokratisch, er neigt zur abstrakten Doktrin, und bei dem Mangel an politischer Bildung und Erfahrung würde sich eine russische Volksvertretung von Doktrinen beherrschen lassen. Eine Volksvertretung des ganzen Reiches würde Gefahr laufen, ebenso gewaltsam und unbesonnen zu dekretieren, ebenso verständnislos das Recht, die Voraussetzung aller gesitteten Staatsordnung, zu missachten, wie die alte Beamtenschaft, und die uniformierte Zentralisation wäre wieder da. Ohne vorhergehende Dezentralisation in Verwaltung, Rechtspflege, partikularer Gesetzgebung, ohne politische Schulung in provinzieller Selbstverwaltung, wird eine russische Volksvertretung sich leicht dazu hinreißen lassen, die vernünftigen Grenzen ihres Wirkens zu überschreiten, und viel Schlamm, vielleicht Blut würde über die russische Ebene sich ergießen, ehe man zu der ersehnten Ordnung, zu Freiheit und Recht gelangte.

Wir haben einen sehr mächtigen Minister gehört, der die Selbstherrschaft für den prinzipiellen Feind der Selbstverwaltung erklärt, und einen angesehenen Staatsmann, der die Selbstherrschaft zu beschränken wünscht durch verfassungsmäßiges Volksrecht Das scheinen vollkommene Gegensätze zu sein, und sind es doch im Grunde nicht Die Macht ist auf Seiten des Ministers und der Bürokratie, und die Erfahrung spricht freilich dafür, dass der Absolutismus sich freiwillig nicht selbst aufgibt. Die staatliche Omnipotenz aber hat Grenzen in sich selbst, die nicht überschritten werden ohne die Gefahr, bei kultureller Impotenz anzulangen und wirtschaftliche und soziale Katastrophen herbeizuführen. Und dass man in Russland diesen Grenzen gefährlich nahe gekommen ist, scheint auch Herr Witte selbst erkannt zu haben.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland, Kulturstudie um 1900