Siebentes Kapitel. Der Bauer

In bäuerlichem Besitz befanden sich (nach LOCHTlN) im Jahre 1892 an Gesamtareal nur 111 Millionen Dessätinen oder 119 Millionen Hektar, an Ackerland 74,3 Millionen Dessätinen.*) Und wenn man die endlosen Landstrecken hinzunimmt, die sowohl im europäischen wie im asiatischen Russland noch ganz unangetastet oder halb verwüstet vorhanden sind, so wird man überzeugt sein, dass es an Nährboden für 126 Millionen Menschen nicht fehlt In demselben Jahr soll**) der Landbesitz, Gemeinacker und Pachtland, des russischen Bauern auf den Kopf 2 Dessätinen betragen haben, wovon 0,74 Dessätinen unter Frucht standen. Der Anteil des früheren Domänenbauers ist größer, bis zu 4 Hektar. Dieser Satz von 2 Hektar und weniger auf den Kopf im zentralen Russland, der heute von verschiedenen Seiten als die Regel angegeben wird, ist das Resultat der Umteilungen, wie die bekannte russische Gemeindeverfassung sie mit sich bringt. Der Anteil war jedoch gerade in dem Gebiet der reichen Schwarzerde des Zentrums von Hause aus auch nur 3 bis 4 Dessätinen groß, er hätte aber bei guter Bewirtschaftung und bei einem entwickelten Städtewesen noch immer die Nahrung einer Familie hergeben können. Denn bei einer Familie von 7 Köpfen, wie sie in Russland als Durchschnitt angenommen wird, hat der Bauernhof 14 Hektar Land, und zwar sehr fruchtbares Land. Aber da liegt dieser Anteil von 14 Hektar in mindestens drei, oft viel mehr Stücke geteilt, in weit voneinander abliegenden Gewannen zerstreut Die Gewanne sind bis zu 20 Kilometer vom Dorf entfernt, sie bestehen in schmalen, langen Streifen, auf denen der Bauer mitunter einen halben Tag braucht, um mit seinem Pfluge hin, und einen halben, um wieder her zu ackern.

*) Alle diese russischen statistischen Ziffern darf man nicht genau nehmen, sondern nur im großen und ganzen und auch dann nur mit Vorsicht.
**) LOCHTIH, S. 225 ff.


Er kann mit seinem elenden Gaul unmöglich einen 10 oder 20 Kilometer weit abliegenden Acker gut bearbeiten, noch weniger bedüngen. Er kann 5 oder 10 Fetzen Landes, ein jedes 10 oder 20 Fuß breit, weithin verstreut, nicht anders bearbeiten als die Nachbarn es tun; er muss weiden, wo und wann die anderen weiden und säen, wo und was sie säen, denn sonst wird ihm die Saat zertrampelt und abgeweidet von den Nachbarn, die später säen als er, und von der Dorfherde, die auf das Brachfeld zieht Im Kreise Uglitsch, Gubernium Jaroslaw, also nicht einmal im Gebiet der teureren Schwarzerde, sondern des ärmeren Bodens der Mittelregion, besteht der Landanteil des einzelnen Bauers heute durchschnittlich aus 36 getrennten Stücken, und es gibt in 12 Prozent der Dorfgemeinden solche Schnurländer oder Gewanne, die ½ Faden, d. i. 3 ½ Fuß breit sind.*) Das ist natürlich nicht immer so gewesen, sondern allmählich geworden mit dem Anwachsen der Bevölkerung und den wiederholten Teilungen des Gemeinackers. Vor 30 bis 40 Jahren mögen die Gewanne weniger zerstreut und breiter gewesen sein ; aber mit der Zahl der Köpfe, die auf sie Anspruch erhoben, wuchs die Zahl der Gewanne, der Acker aber, aus dem diese Streifen geschnitten wurden, blieb stets derselbe. Zwischen 1875 und 1895 hat sich der auf den Kopf entfallende Landbesitz der Bauern, trotz einiger Landerwerbungen außer der ursprünglichen Dorfflur, stark vermindert. Auf 1.000 Bauern beiden Geschlechts kam im Jahre 1895 gegen 1875 ein Verlust an Landbesitz durch Zunahme der Bevölkerung von 20 Prozent im Zentrum, 23 Prozent im Osten, 24 Prozent im Südgebiet.**) Bleibt es nun bei der bisherigen Kommunalwirtschaft, so muss der Landanteil auf den Kopf der Dörfler immer weiter sich mindern. Dabei hat der Bauer wenig Wiesen und Weiden im Verhältnis zu dem so elenden Acker. Auf ein bäuerliches Gesamtareal in 50 Gubernien von rund 111 Millionen Dessätinen rechnet LOCHTIN 17 Millionen Dessätinen Wiesen und 14 Millionen Dessätinen Weiden.

*) S. St. Petersburger Zeitung 1901, Nr. 51.
**) POLENOW, Untersuchung der wirtschaftlichen Lage der zentralen Schwarzerde-Gubernien. Moskau 1901. S. 13.


Eine Ausdehnung des Ackers innerhalb der Dorfflur ist schwierig und soll auch nur in geringem Maße (0,8 Millionen Dessatinen zwischen 1892 und 1899) vorgekommen sein. Der Kleebau ist schon wegen der Feldgemeinschaft nicht möglich. Das Ackergerät ist das elendeste, das Pferd, die Kuh sind die elendesten. Man wird bei solchen Verhältnissen nicht überrascht sein zu hören (LOCHTIN), dass auf jenen 0,74 Dessätinen Acker durchschnittlich von der Ernte dem Bauer rein nachbleiben 20,4 Pud oder 6,8 Zentner*) Korn. Ein anderer Forscher, SlMKHOWITSCH,**) gibt als den Minimalsatz für die Lebensnotdurft des russischen Bauern 19 Pud an, und findet folgende Zustände (in runden Zahlen): 45 ½ Millionen Seelen oder 70,7 Prozent der gesamten Bauernschaft erhalten von ihren Landanteilen weniger als 19 Pud Getreide; 13 Millionen Seelen oder 20,4 Prozent der Bauernschaft hat weniger als 26,5 Pud pro Kopf; 5,7 Millionen Seelen oder 8,9 Prozent der Bauernschaft hat mehr als 26,5 Pud. Indem SlMKHOWITSCH 25,5 Pud als das Quantum annimmt, welches zur Ernährung eines Bauern nebst seinem Arbeitsvieh genügt, kommt er zu dem Schluss, dass nur 8,9 Prozent der russischen Bauern aus dem Ertrage ihres Landes so viel erübrigen, um überhaupt Vieh halten zu können.

Wie viel oder wie wenig Vertrauen man nun diesen Ziffern auch schenken mag, so darf man als richtig annehmen, dass der Landanteil der meisten Bauern in den fruchtbarsten Teilen des Reiches heute nicht 2 Hektar auf den Kopf oder 14 Hektar auf den Bauernhof übersteigt, und dass der Anteil der ehemaligen Domänenbauern 3 bis 4 Hektar pro Kopf beträgt Nach einer neuerdings von SERING in Schlesien angestellten Untersuchung***) beginnt bei den dortigen Bauern der Komverkauf bei einem Mindestareal an Acker von 3 bis 5 Hektar. Diese 3 bis 5 Hektar gut gepflegten Ackers geben dem Bauer die Notdurft für sich, seine Familie und sein Vieh, und erst der sechste Hektar, bei gutem Lande der vierte, gibt Verkaufsware. In Russland selbst liegen ausreichende Erfahrungen vor in den deutschen Kolonistendörfern. Dort, in den blühenden Kolonien Kleinrusslands, hält der Kolonist einen Bauernhof erst für rentabel, wenn er ein Areal von 45 bis 50 Dessätinen umfasst.

*) Pud = 16,38 Kilo.
**) Die Feldgemeinschaft in Russland. Jena 1898. S. 292.
***) S. Deutsche Monatsschrift 1901, Heft 2.


Der kleinrussische Bauernhof umfasste ursprünglich 65 Dessätinen und ist heute auf 8 Dessätinen herabgesunken. Daher der Rückgang des russischen und die Ausbreitung des deutschen Ackerbauers in Kleinrussland. Der Hofbauer hat auf 14 Hektar Land etwa 5,18 Hektar Acker, was in Schlesien sehr ausreichend wäre. Aber dieser Acker ist so ausgesogen, dass er nur drei oder vier Korn trägt In den letzten 40 Jahren ist, nach POLENOW, die Ertragsfähigkeit des Ackers im Gebiet der Schwarzerde um ein Drittel gesunken.*) Wenn man nun hört, dass der Bauer trotzdem bedeutende Mengen von Getreide verkauft, so wird man versucht sein, den nationalökonomischen Berichten jede Glaubwürdigkeit abzusprechen. Und dennoch sind die Angaben, wenigstens im ganzen, richtig. Wie ist das nun möglich?

Nachdem man über die russische Gemeindeverfassung seit Jahrzehnten und nicht bloß in Russland, sondern auch in Deutschland ganze Bibliotheken zusammengeschrieben hat, wäre es höchst überflüssig, hier noch die Schäden des Kommunalbesitzes, der Umteilungen der Äcker, der Haftpflicht der Gemeinde für die Steuern auseinander zu setzen. An diesen nationalen Götzen, der zahllose Menschenopfer gefordert hat und noch fordert, zu glauben, ist heute nur noch der verbohrteste russische Fanatiker im stände. Aber freilich: es gibt ihrer noch viele, und man hört noch immer das alte Lied von dieser urrussischen und zukunftsreichen Institution. Das Wahre an der Sache ist, dass das ursprünglich allgemein bestehende bäuerliche Privateigentum am Boden seit 300 Jahren durch die Regierung allmählich aufgehoben wurde, und dass die Haftpflicht der Gemeinde eine reine technische Verordnung der Regierung war, um das bequeme und sichere Einfließen der Steuern zu erzielen. Die Haftpflicht soll nach SIMKHOWTSCH schon vor der Feldgemeinschaft bestanden haben. Die kommunale Besitzform des Bodens ist in Nordrussland noch in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts mit Anwendung von Gewalt durchgesetzt worden, wobei die Bauern, die ihr Eigentum verteidigten, als Rebellen behandelt wurden. Die Feldgemeinschaft wird bis in die neueste Zeit von der Staatsregierung geschützt, denn ein Gesetz vom 14. Dezember 1893 verordnet, dass Ausscheidungen der Anteile aus dem kommunalen Besitz und ihr Übergang in Privateigentum, wie sie unter gewissen Bedingungen (Auszahlung der Ablösungsschuld) nach dem ursprünglichen Gesetz von 1861 gestattet waren, von der Zustimmung der Gemeinde und Bestätigung durch die Minister des Innern und der Finanzen abhängig sein sollen. Da nur der Wohlhabende und der Fleißige sich von der Gemeinde in dieser Weise lösen kann und will, so würden die besten Steuerzahler der für die Steuern und Abgaben haftenden Gemeinde entschlüpfen, weshalb diese also niemals in die Ausscheidung willigt. Der strebsame Bauer kann daher nicht daran denken, sein Landstück zu eigen zu erwerben und in dieser Aussicht es besser zu bearbeiten als die Nachbarn. Er muss weiter für den faulen Nachbar, der seine Zahlungen nicht aufbringen kann, haften, er muss weiter sein Landstück aussaugen wie der Nachbar das seine, denn nach einigen Jahren sitzt dieser faule Nachbar vielleicht auf seiner, des Fleißigen, Scholle, und der Fleißige bekommt das Stück des Faulen.

*) POLENOW, a. a. O. S. 12.

Trotz der bis in die neueste Zeit festgehaltenen Tendenz der Staatsregierung, die verrückteste aller agraren Ordnungen aufrecht zu erhalten, treten Anzeichen auf einer Zersetzung dieser Ordnung von innen heraus. Da die Reichen nicht die Fesseln abwerfen dürfen, so tun es die Armen.

Der Kommunalbesitz mit seiner Feldgemeinschaft, hervorgegangen aus höchst praktischen, aber auch ebenso gewalttätigen Motiven, hat sich im Geiste der nationalistischen Verblendung die ideale Glorie der demokratischen sozialen Gleichheit zugelegt. Alle Bauern der Gemeinde sollen gleich bleiben auf Grund ihres gleichen Landbesitzes. Wie überall, so hat sich auch hier die menschliche Natur von dem Gleichheitsideal nicht lange narren lassen, sondern sehr bald sich daran gemacht, die Ungleichheit herzustellen. Es dauerte nicht lange, bis sich in jedem Dorf Reichere und Ärmere befanden; die Reicheren sorgten unausgesetzt dafür, ganz reich zu werden, indem sie die Ärmeren ganz arm machten. Dieses höchst menschliche Streben, verbunden mit der fortschreitenden Verkleinerung der Landanteile durch die Umteilungen, raubte einer immer größeren Zahl von Bauern ihr Pferd, die Kuh, das Ackergerät und trieb sie dazu, ihr Leben durch Nebenverdienst neben ihrem Acker und dann ohne Acker als Tagelöhner im Dorf oder in der Stadt zu fristen. Es stellte sich ein, was die heutige Fachliteratur die Differenzierung des Bauernstandes nennt. Der Kulak, die Faust, wurde der Bauer genannt, der, die Not seiner Dorfgenossen ausnutzend, einen nach dem andern zu seinem Schuldner, dann zu seinem Knecht machte, deren Landanteile an sich zog und von den herabgekommenen Genossen für seine Rechnung bearbeiten ließ. Die ähnliche Erscheinung wie beim Adel der kleine, wuchernde Beamte oder Krämer, der allmählich Land, Haus, Park und alles wegfrisst und den Landedelmann in weit hilfloserer Lage hinaustreibt, als die ist, in welcher der Bauer sich befindet, der, von der Faust vertrieben, doch wenigstens seine Arme hat, die ihm Brot schaffen können. Oder eine ähnliche Erscheinung, wie der Adel des Mittelalters, der den Bauer, den armen Edelmann oder den Gewerbetreibenden erst in Schutz nahm, wie der Wucherer beim Leihgeschäft dem Bauer gegenüber auch als Wohltäter aufzutreten pflegt, aus welchem Schutzverhältnis sich dann auf die einfachste Weise Leibeigenschaft, Hörigkeit, Vasallenschaft herausbildeten. Welches Geschrei erhob sich vor 20 und 30 Jahren, als dieser Typus des Kulak, der Dorfwucherer, entstand, dem man später, als man seine erfolgreiche Arbeit näher kennen lernte, den Namen Dorffresser beilegte. In ihm erblickte man den Feind des nationalen Heiligtums der Dorfgemeinde und suchte ihn durch Recht und Gewalt zu bekämpfen. Aber er ließ sich nicht niederzwingen, weil er auf dem festen Boden der natürlichen, menschlichen Anlagen stand, die wohl in rechtliche Formen gebracht, aber nicht weggeschafft werden konnten. Und je mehr der Landanteil sich durch Umteilungen verkleinert, je mehr der Bauer auf Erwerb außerhalb des Dorfes angewiesen wird, je geringer die Erträge des Ackers und je häufiger die Hungersnöte werden, um so leichter, natürlicher fällt der Landanteil des Armen dem Reicheren in die Hand, um so billiger wird der Boden, um so schwerer wird es der Gemeindeversammlung, die zwei Drittel der Stimmen zusammen zu bekommen, die nötig sind, um die Reichen durch eine neue Umteilung aus ihren zusammengewucherten oder billig erworbenen Ländereien hinauszudrängen. So zählte man denn schon am Schluss der achtziger Jahre in 22 russischen Gubernien*) 13 Prozent aller Bauernhöfe als ohne alles Vieh, und die Pferdezählung von 1882 ergab 1.100.000 Höfe ohne Gespann.**)

*) Ich meine national russisch im Unterschiede von gesamtrussisch.
**) Vgl. SlWKHOWlTSCH, S. 316.


In den letzten 10 Jahren verschwanden in 13 Gubernien des Zentrums und Ostens (Schwarzerdegebiet) 185100 Spannhöfe und verminderte sich der Pferdebestand um 1.393.400 Haupt, d. i. um 21 ½ Prozent im Osten und um rund 29 Prozent im zentralen Schwarzerdegebiet.*) Dementsprechend mehrten sich die spannlosen Höfe, denn der Bauer ackert dort nicht mit Ochs oder Kuh, sondern nur mit dem Pferd. Offenbar konnten ohne Gespann die Besitzer die Acker nicht bestellen; aber eben so wahrscheinlich blieben sie deshalb nicht unbestellt; die Erklärung liegt nahe, dass diese Acker von den kräftigeren Bauern gepachtet oder sonst wie an sich gebracht und mit ihrem Gespann bestellt wurden. Die Million Hofbauern war eben zu einer Million Land- oder Stadtarbeiter geworden. Und dieser Prozess der langsamen Depossedierung der schwächeren Bauern durch die Dorffresser geht stetig weiter und wird nur aufgehalten durch das Bestreben der gespannlosen Bauern, ihr Land durch gemietete Kräfte bestellen zu lassen und das Geld dazu durch auswärtige Arbeit zu verdienen. So wurden**) um 1891 in 5 schwarzerdigen Gubernien, nämlich Tschernigow, Woronesch, Poltawa, Saratow, Kursk, 915.140 Bauernhöfe untersucht, und man fand, dass von ihnen 25,1 Prozent ohne Arbeitsvieh waren, 25,3 Prozent hatten 1 Stück Arbeitsvieh, und 49,6 Prozent hatten 2 und mehr Stück. In 16 Gubereien des Ostens und Südens stieg die Zahl der Bauernhöfe ohne Gespann von 1882—1891 um 3,6 Prozent, und wenn man heute die Zählung in diesen Gubernien, die in diesen 10 Jahren von Hungersnöten getroffen wurden, wiederholen wollte, so würde sich ohne Zweifel ein noch weit stärkerer Rückgang herausstellen. „In Neurussland“, sagt GOLOWIN, „wo das Gemeindeeigentum meistenteils nur noch auf dem Papier existiert und die Haftpflicht nicht angewandt wird, stellte das Leben dem natürlichen Wachstum der starken Höfe keine Hindernisse in den Weg. Sie entwickelten sich bis zu normalen Dimensionen durch den Bodenankauf bei den Privatbesitzern und die Pachtung von Anteilen bei jenen benachbarten Bauern, deren Wirtschaft keine nutzbringende war.“***)

*) POLENOW, a. a. O. S. 17.
**) Nach HURWITZ, Die ökonomische Lage des russischen Dorfes. Newyork 1892. Englisch. Vgl. SIMKHOWITSCH, S. 317 ff.
***) GOLOWIN, a. a. O. S. 93.


Von manchen Seiten wird als auf ein entscheidendes Hindernis der Aufhebung des Kommunalbesitzes darauf hingewiesen, dass die Dörfer zerschlagen und die Dorfflur in Einzelhöfen vergeben werden müsste, was unerschwingliche Ausgaben erfordern würde. Davon kann natürlich keine Rede sein, es ist auch durchaus nicht nötig. In ganz Europa herrscht die Dorfsiedlung vor, der Einzelhof ist selten. Schon der Mangel des Wassers würde die Aussiedlung der Bauern in Einzelhöfen unmöglich machen. Aber der Kulak gibt die richtige Methode an: man gebe die Freiheit des Erdbodens, und der Individualbesitz wird sich auf Grund des persönlichen Interesses schon Raum schaffen. Es werden Tausende schwacher Höfe eingehen, aber es wird sich der Bauernstand kräftigen; es werden die übervölkerten Dörfer an Hofzahl abnehmen, aber die nachbleibenden Höfe werden besser wirtschaften und stärker werden. Der Kommunalbesitz fördert nur die üblen Eigenschaften: Faulheit, Sorglosigkeit, Misswirtschaft; er unterdrückt die guten Triebe: Fleiß, Sparsinn, Liebe zum Landbau, Arbeitstrieb. Diese Fessel muss schwinden; dann träte der naturgemäße Gang der agraren Entwicklung, der seit 300 Jahren künstlich und gewaltsam verrenkt wurde, wieder ein und würde zur Gesundung führen. Es würde, wenn die gesetzliche Fesselung durch den Kommunalbesitz nicht wäre, sich gar bald eine Klasse von Hofbauern mit eigenem Lande herausarbeiten, die vielleicht den allgemeinen Verfall der Bauernschaft aufhalten könnte. Indessen wird diese Entwicklung einer bäuerlichen Aristokratie auch durch die Haftpflicht zurückgehalten, die von dem aufstrebenden Bauer das nimmt, was der verarmte nicht mehr an Steuern zahlen kann und so der Ansammlung von Vermögen entgegenwirkt. Denn die Besteuerung des Bauern ist hoch im Verhältnis zu seinen Einnahmen. Ein russischer Agrarstatistiker*) hat herausgerechnet, dass „die gesamte Belastung des bäuerlichen Grundbesitzes mit Staatsabgaben den Bruttoertrag" ums Jahr 1885 um 20—27 Prozent, um 1890 um 62—69 Prozent überstiegen habe. Er erklärt, dass die ehemaligen Leibeigenen in 37 Gubernien von dem Reinertrage ihres Bodens nicht nur nichts für sich behalten, sondern 198,25 Prozent, also fast das Doppelte des Reinertrages als Steuern dem Staat zahlen müssen, und dass die besser gestellten Staats- und Apanagebauern von ihrer Reineinnahme 92,75 Prozent abgeben, also 7,25 Prozent für sich behalten.

*) NIKOLAl-ON, Die Volkswirtschaft in Russland. München 1899. S. 2 u. 171.

Es muss wohl hinzugefügt werden, dass zu den Steuern auch die Kapitaltilgung für das abgelöste Land, die sogenannte Loskaufzahlung, gerechnet worden ist Obwohl dieser Gelehrte sich auf offizielle Quellen beruft, wird man zweifeln dürfen, ob dieses Verhältnis als durchschnittliches anzunehmen sei, da es den Bauer, der mehr als 14 Dessätinen Land hat, um so sicherer zu Grunde richten müsste, je mehr er besitzt. Indessen weisen alle Angaben auf eine Überbürdung des Bauern mit Steuern hin. Ein weniger gelehrter, aber in bäuerlichen Verhältnissen erfahrener Zeuge, der Landhauptmann NOWIKOW, sagt*), man müsse im Gebiet der Schwarzerde auf die Seele, d. h. auf den Kopf der vorhandenen männlichen Bevölkerung an Steuern, nämlich Staats-Grundsteuer, Loskaufszahlung, Landschafts- und Gemeindeabgaben 7—8 Rubel jährlich rechnen, d. i. 3 — 4 Rubel auf die Dessätine Landes, was ungefähr die Hälfte der Pachtsumme für das Land ausmache. In den ärmeren Böden der industriellen und der Seengebiete bezahle der Boden oft die Abgaben nicht, die sich so in eine Personalsteuer verwandeln. Der Bauer würde oft gern auf sein Land verzichten. Man vergegenwärtige sich nun die elende Bebauung des Ackers, das bei der oft seit Jahrhunderten mangelnden Düngung entkräftete Land: so wird man allerdings gestehen müssen, dass die Aufhebung der früheren Kopfsteuer den Bauer nicht davor gerettet hat, in anderer Form einer erhöhten Kopfsteuer unterworfen zu sein. In dem städtearmen Lande gibt es, nachdem die Hausindustrie von der Großindustrie zerstört worden ist, nur selten und meist in weiter Entfernung einen Nebenverdienst. Doch der Bauer wandert hinaus und sucht ihn, wandert leicht 100 Kilometer weit, fährt mit der Bahn viele hundert Kilometer, um während des Sommers 20—30, oft nur 10 oder 12 Rubel zu ersparen, dann kehrt er im Herbst heim und die Steuern werden beigetrieben. Das ist die Obliegenheit einer langen Reihe von Beamten: Kreispolizeichef und dessen Bezirksgehilfen, Landhauptleute, Steuerinspektoren, Kreisversammlung der Beamten — das alles müht sich um den Steuerbeutel, und hat mehr oder weniger seine Hände auf der Tasche oder auch in der Tasche des Bauern. Die Hauptsache aber macht der Polizeichef mit den von ihm abhängigen Gemeindeältesten, und man wird Herrn NOWIKOW gern glauben, dass die Zeit der Abgabenzahlung die wichtigste Zeit des Jahres für den Bauer ist. Gleich hier auf der ersten Stufe der administrativen Tätigkeit machen sich die ewigen Schäden des rein bürokratischen Regiments geltend: Willkür und Bestechung, in sanfteren Formen als vor hundert Jahren, aber doch überall umher schleichend, bald in dem Glase Branntwein sitzend, mit dem der Bauer den Gemeindeältesten vertröstet, bald in dem Tribut, den der Gemeindeälteste dem Landpolizisten leistet; daneben der Druck, den die geistlose Uniformität des bürokratischen Mechanismus ausübt. Die Kornpreise sind im September schlecht — aber der Bauer muss verkaufen, was er gestern erdroschen, oft die ganze Ernte, um Steuern und Rückstände zu zahlen; oder das Dorf hier baut Tabak, der im November zum Markt kommt. Aber bis zum November ist der Gemeindeälteste schon dreimal oder viermal vom Polizeimeister wegen versäumter Einzahlung der Steuern bestraft worden; denn was kümmert sich die Polizei darum, ob dieses Dorf Tabak baut oder Fische fängt: vom Weißen Meer bis zum Schwarzen müssen die Steuern an einem bestimmten Tage gezahlt werden, einerlei, wann der Bauer dazu in die Lage kommt: so erfordert es die staatliche Ordnung.

*) Aufzeichnungen eines Landhauptmanns. Petersburg 1879. S. 119 ff.

Trotz aller Urädniks (Landpolizisten), Polizeimeister u. s. w. gelingt es nicht, die Steuern überall beizutreiben, und es entstehen Rückstände. Die Versteigerung der letzten Habe wird angedroht, der Bauer nimmt Geld auf unter jeder Bedingung, oder verkauft das Notwendigste. Wer dem Bauer Geld zu 30 Prozent leihen wollte, wäre um diese Zeit, meint NOWKOW, ein Wohltäter. Und doch mehren sich die Rückstände jährlich, gerade im sogenannten Zentrum, dem großrussischen Russland. SCHWANEBACH führt an, dass um Mitte 1893 die bäuerlichen Rückstände in 46 Gubereien 119 ½ Millionen Rubel betrugen, wovon auf das Zentrum 110 Millionen entfallen. „Fast in allen zentralen und östlichen Gubernien überstiegen die Rückstände die Jahresquote, und in einigen — Ufa, Kasan, Orenburg, Samara — sogar zweifach und dreifach." Für das Jahr 1896 gibt ISSAJEW*) schon 142 ½ Millionen an, obgleich ein Jahr vorher 8 Millionen erlassen worden waren. Im einzelnen gab es Rückstände im Gouvernement Woronesch 164 Prozent der Jahresquote, Nowgorod 306 Prozent, Kasan 355 Prozent, Samara 342 Prozent, Orenburg 492 Prozent Außerdem liegt auf diesen Bauern aus früheren Missjahren eine bedeutende Schuld dem Staat gegenüber an Summen der Volksverpflegung. Und jene Ziffern beziehen sich auf das Jahr vor der Hungersnot von 1897 — 1898, die jene Gubemien schwer traf. Die Folge ist gewesen, dass die Rückstände der Loskaufzahlungen sich am 2. Januar 1901 auf 250 Millionen Rubel belaufen haben. Wie es nach diesem Hungerjahr dort aussah und aussieht, haben uns anschaulich und, wie ich glaube, richtig die Herren LEHMANN und PARVUS geschildert.**)

*) Zur Politik des russischen Finanzministeriums. Stuttgart 1898. 5. 7.
**) In „Das hungernde Russland“.


Zu all diesen Nöten kommt nun noch die große Finanzpolitik, die von WYSCHNEDRADSKI begonnen ward und bis heute fortgesetzt wird, bestehend in dem Druck der Regierung auf die steuerpflichtigen Ackerbauer mit dem Zweck, die Kronausfuhr zu steigern. Kaum ist die Ernte beendet, so wird die Beitreibung der Steuer in Gang gebracht, die den Bauer nötigt, sofort sein Korn zu verkaufen. Er erntet, wie wir sahen, weniger als die Notdurft, muss nun aber auch diese um jeden Preis losschlagen, und so beginnt schon im Herbst das Hungern, und je billiger das Korn auf dem Weltmarkt ist, um so mehr muss der Bauer, um die Steuersumme voll zu machen, auch von dem losschlagen, was er auf gepachtetem Lande oder gekauftem etwa erntete. So standen die Preise in den Missjahren von 1891 und 1892 hoch, aber der hungernde Bauer hatte keine Ware; dann fielen sie, z. B. im Gubemium Samara*) im Jahre 1894 auf 3—5 Mark der Zentner Weizen, auf etwa 1,17 bis 2,27 Mark der Zentner Roggen; 1895 stand das Korn noch niedriger, z. B. im Gubernium Poltawa die Gerste 9 Kopeken das Pud (18 Pfennige für 16,38 Kilo); an der Wolga wurde das Pud Getreide mit 11 — 19 Kopeken bezahlt Die Preise begannen 1896 wieder zu steigen. Aber je billiger, um so mehr musste ausgeführt werden und wurde ausgeführt, weil die Handelsbilanz gehalten und der Goldvorrat des Staates gemehrt werden sollte.

*) Nach BRSCHESKI, zitiert in ,,Das hungernde Russland“. S. 459.

Im Jahre 1864 exportierte Russland an Getreide 9V2 Millionen Tschetwert oder etwa 121 ½ Millionen Pud (zu 16,38 Kilo) im Wert von 54,7 Millionen Rubel, d. h. 33 Prozent des gesamten Exports. Zwischen 1882 und 1887 wurden durchschnittlich ausgeführt 312 Millionen Pud; dann kam unter WYSCHNEGRADSKI die künstlich verstärkte Ausfuhr mit durchschnittlich 441,8 Millionen Pud bis 1891, und unter WITTE bis 1897 mit durchschnittlich 522,8 Millionen Pud. Man exportierte bis zu einem Viertel des gesamten Ertrages des Reiches.*) Und davon lieferte der Bauer 350 Millionen Pud (Golowin), also mehr als die Hälfte, obwohl er eigentlich überhaupt nichts zu verkaufen hatte. Denn der Ackerbauer erntet durchschnittlich im ganzen Reich (mit Ausnahme von Polen und Finnland) nur 29,3 Pud Getreide und Kartoffeln (in Mehl umgerechnet) auf den Kopf der ackerbauenden Bevölkerung.**) Da steckt eben der Steuerbeamte dahinter, der das „Herauspeitschen des Kornes" im Herbst besorgt, zum Wohl der ministeriellen und zum Unheil seiner, des Bauern Rechnung. Denn nachher muss der Bauer sein Brotkorn zu höheren Preisen wiederkaufen, und im Frühling erst recht teuer das Saatgut bezahlen. So kommt LOCHTlN zu dem Ergebnis, dass in 50 Gubernien des europäischen Russland auf den Kopf der gesamten Bevölkerung durchschnittlich jährlich an Korn (Kartoffeln eingerechnet) geerntet wird 22,4 Pud, wovon exportiert wird 3,6 Pud, und also für den Bedarf nur zurückbleibt 18,8 Pud, was weniger ist, als in irgend einem Kulturlande zum Lebensbedarf der Bevölkerung gehört. Und wir sahen schon, dass der Bauer, ohne den Großbesitz, noch weniger als jene 29,3 Pud, nämlich von seinem 0,74 Dessätinen großen unter Frucht stehenden Acker nur 20,4 Pud erntet. Natürlich kann der Bauer unter solchen Umstanden keine Vorrate für schlechte Jahre ansammeln; aber auch der Gutsbesitzer kann das aus anderen Gründen nicht, denn in Jahren mit niedrigen Preisen kann nichts gespeichert, sondern muss um so mehr verkauft werden. In den Jahren 1894 und 1895, als die Preise fielen, stieg die russische Kornausfuhr sofort von 404 Millionen Pud im Jahre 1893 auf 639,5 Millionen im Jahre 1894 und 574,7 Millionen Pud im Jahre 1895.***) Und wie unfähig das Land aus Mangel an Betriebskapital ist, das Getreide zurückzuhalten, zeigt der Umstand, dass die Ausfuhr auch in Hungerjahren nicht oder wenig sinkt, bis die aus Vorjahren noch vorhandenen Lager geleert sind. So sank die Ausfuhr in dem Hungerjahre 1891 nur um 27,2 Millionen Pud.

*) SCHWANEBACH, S. 95.
**) So LOCHTIN, der selbst unter den Nationalökonomen als Zahlenmagier hervorragt. Sollte er dieses Erntemaß des Bauern zu niedrig geschätzt haben, so hat er anderseits es für den russischen Bauern des Zentrums doch noch zu hoch gegriffen, weil er z. B. die Bauern der baltischen Provinzen mit in den Topf geworfen hat, die in völlig anderen Verhältnissen leben, d. h. genug Brot haben und gelegentliche Missernten leicht überwinden.
***) SCHWANEBACH, S. 95.


Dieselbe Erscheinung zeigte sich bei der Missernte von 1897. In den letzten 6 Monaten von 1897 wurden 233,3 Millionen Pud Korn ausgeführt, mehr als in den vorhergehenden guten Jahren, und in den folgenden 6 ersten Monaten von 1898 wurden 241,3 Millionen Pud ausgeführt, wieder mehr als im Vorjahre. Im Jahre 1901 war die Missernte in einem großen Teil Russlands seit dem Juli bereits gewiss und sogar offiziell anerkannt. Der ministerielle Budgetbericht gibt die Gesamternte an Getreide für 1901 mit 3.050 Millionen Pud und den Ausfall gegen den Durchschnitt der letzten 5 Jahre mit 236 Millionen Pud an. Dieser Ausfall beträgt fast die Hälfte des im Durchschnitt ausgeführten Getreides. Dennoch drückt sich die Kornausfuhr in folgenden, die ersten 11 Monate des Jahres umfassenden Ziffern aus: 1899 323.866.000 Pud, 1900 395.691.000 Pud, 1901 428.300.000 Pud. Trotz der Missernte wird also mehr als vorher ausgeführt „Wenn", sagt SCHWANEBACH (S. 103) von dem Missjahr 1897, „die Bewegung unseres Kornes sich unserem eigenen Bedarf unterordnete, so hätten die Überschüsse des Südwestens (wo die Ernte gut gewesen war) die Richtung zur Aushilfe in den (notleitenden) zentralen Gubernien genommen. Aber die zentrifugale Strömung blieb fest und die Ausfuhr kiewschen und podolischen Korns nach Österreich nahm solchen Umfang an, dass die österreichischen Eisenbahnen nicht imstande waren, die Anforderungen an das rollende Material zu befriedigen.“ Eine dortige Zeitung zog den Schluss, dass „wie gering auch die Ernte in Russland sein möge, der Welthandel von dort stets soviel Korn nehmen werde, als er braucht, wenn die Ausfuhr nur nicht durch künstliche Maßregeln eingeschränkt wird. Das sei auch ganz verständlich: das reiche Europa überbietet ohne Mühe die Ware bei dem unvermögenden inneren Nachfrager.“ Dazu kommt, dass zur Zeit der notgedrungenen fieberhaften Ausfuhr im Herbst die lokalen Kornpreise zu fallen und erst im Frühling, wenn der Bauer kaufen muss, wieder zu steigen pflegen.

Es wird demnach mehr Korn ins Ausland verkauft, als das Volk bei genügender Ernährung entbehren kann; der größere Teil des Volkes, und gerade der größte Teil des speziell russischen Volkes, hungert stets zum Wohl der Finanzen des Staates, und zwar deshalb, weil er zu arm ist, um sein Brot für sich zu behalten oder um in Missjahren welches zu kaufen. Wenn die oben angeführte Ziffer von etwa 18 — 19 Pud Korn auf den Kopf, die dem Bauer zur Ernährung für sich und sein Vieh noch bleiben, richtig ist — und diese Ziffer scheint allerseits als richtig anerkannt zu werden — so liegt allerdings ein überraschendes Zeugnis von der Disharmonie zwischen Staatswirtschaft und Volkswirtschaft in der Tatsache, dass der russische Soldat außer der übrigen Kost an Kohl und etwas Fleisch seit dem Jahre 1872 an Brotfrucht 29 Pud erhält. Der Bauer sieht fast nie Fleisch, und wenig von dem so zuträglichen Kohl auf seinem Tisch, und nährt sich hauptsächlich von Brot und Grütze; und doch hat er davon nur zwei Drittel der Ration zur Verfügung, die der Staat zur Erhaltung des Soldaten als notwendig ansieht. Man kann unter diesen Umständen sagen, dass für den russischen Bauer die Zeit des Militärdienstes eine Festzeit sein müsste, und dass in keinem Lande die allgemeine Wehrpflicht so großen Zauber für sich haben dürfte, als in Russland, — sofern jene 29 Pud Grütze und Mehl nicht nur in den Rechnungen der Intendantur verzeichnet stehen, sondern auch in den Magen des Soldaten ohne Abzug gelangen. Eine andere Rechnung mit überraschendem Ergebnis ist diese: Die Regierung nimmt bei ihrem Kampf gegen die Hungersnöte als Notdurft auf den Kopf und aufs Jahr an Brotkorn 330 Kilogramm oder 19 4/5 Pud an. Die Statistik hat herausgerechnet, dass von dem geernteten Brotkorn nach Abzug der Ausfuhr auf den Kopf im Lande zurückbleibt 240 Kilogramm. Demnach muss das Volk aussterben an Hunger. Zum Glück darf man aber diese Rechnungen als Beweise dafür ansehen, dass die statistischen Angaben falsch sind, denn es bleibt ohne Zweifel mehr als jene 240 oder auch 330 Kilogramm im Lande zurück, nur bekommt die Statistik das Mehr nicht zu fassen, weil es verheimlicht wird und aus andern Gründen.

Ähnlich wie mit dem Getreide verhält es sich mit der Fleischproduktion: die Fleischernährung des russischen Volkes sinkt. Während in allen anderen Ländern mit der wachsenden Bevölkerung auch das Rindvieh sich mehrt, vermindert es sich in Russland.

Nach LOCHTIN zeigt Russland in dem Jahrzehnt von 1888—1898 einen jährlichen Verlust an Rindvieh von 0,08 Prozent und besitzt nicht mehr Rindvieh auf den Kopf der Bevölkerung als Belgien und fast um ein Drittel weniger als Deutschland. Russland, das Land der Grasebenen und der Nomaden, das Land der reichen Schwarzerde und der blumenbedeckten Steppe! Ebenso vermindert sich die Schafzucht, die Schweinezucht, die Pferdezucht von Jahr zu Jahr, während das Land auch in Rücksicht dieser Nutztiere weit weniger auf den Kopf der Bevölkerung besitzt als andere Länder. Die neuesten offiziellen Untersuchungen*) haben ergeben, dass in den letzten zehn Jahren der Pferdebestand im Zentrum (neun Gubernien) um 117.000, im Osten (vier Gubemien) um 68.000 Kopf zurückgegangen ist, dass die Zahl der pferdelosen Bauernhöfe dort zunimmt, und dass in allen russischen Gubernien die einpferdigen Höfe auf Kosten der mehrpferdigen zunehmen. Und doch wird die Ausfuhr aller Arten von Vieh, Pferd, Rind, Schwein, lebend und in Gestalt von Fleisch, Häuten, Fett, eifrig gefördert. Noch eben, Oktober 1901, beschloss die Regierung die Ausfuhr von Fleisch und Butter nach England zu fördern, ein Unternehmen, das wieder die unheilbare Selbsttäuschung zeigt, mit der man in Russland stets und am liebsten nach solchen Aufgaben greift, die durchaus nicht mit den vorhandenen Bedingungen zusammenstimmen, aber den Schein hoher Kultur erwecken. Wie immer, wird dann auch eine Kommission ernannt, und die soll eine Untersuchung darüber anstellen, ob das russische Landvieh sich zur Mästung für den englischen Markt eigne. Das russische Landvieh! Es hat nicht genug zum Leben, hat nie seit Generationen von Fettansätzen und erst recht nicht von feiner Fleischbildung sich auch nur träumen lassen, aber jetzt muss es per Kommission daraufhin untersucht werden, ob es sich wohl eigne, auf dem schwierigsten Fleischmarkt der Welt zu glänzen. Man hat dazu und zur Entsendung von 30 landwirtschaftlichen Reisenden nach England ganze 50.000 Rubel ausgeworfen und die Herren haben in London und Windsor mit Essen, Trinken und Reden sehr viel zur Vorbereitung einer russisch-englischen Staatsallianz beigetragen, — und viel mehr wird dabei auch nicht herauskommen. Aber diese unpraktisch-überschwängliche Weise der Behandlung praktischer Fragen ist für Russland typisch. Wir werden noch manchen Fällen solcher Unvernunft begegnen, die an sich unwesentlich, aber kennzeichnend sind für die überall sich kundgebenden Mängel eines richtigen Maßstabes für die eigenen Kräfte.

Da der Bauer von seinem Dorf lande nicht leben kann, sucht er nach Nebenverdienst und überlässt die Bestellung des Ackers gern der Frau und den Kindern. Indessen ist es schwer, Nebenverdienst in einem Lande zu finden, wo außer dem Ackerbau die Handarbeit nur wenig Verwendung hat. Im Zentrum ist die ganze Industrie in Moskau und den anliegenden drei oder vier Gubemien konzentriert Außerhalb dieses industriellen Zentrums gibt es kaum erhebliche Fabrikanlagen auf viele Hunderte, ja Tausende von Kilometern, wenn man nicht die Metallwerke von Tula, von Bränsk, oder die Kohlengruben und Hochöfen des Donez dazu zählen will. Die Industrie beschäftigt heute in ganz Russland 2—3 Millionen Menschen beiderlei Geschlechts; was will das sagen gegenüber einer bäuerlichen Masse von mehr als 100 Millionen? Das Land der Schwarzerde ist ganz auf Ackerbau angewiesen, und soweit der Bauer in ihr keinen Nebenverdienst findet, tut er eben nichts. Denn die Hausindustrie ist meist erstickt und Landarbeit gibt es nur im Laufe von ein paar Sommermonaten. Sieben Monate des Jahres sind fast ganze sieben Monate verlorener Zeit, und die Annahme erscheint daher nicht unbegründet, dass der tägliche Verdienst des russischen Bauers sich durchschnittlich auf 18—19 Kopeken (34—36 Pfennige) beschränkt*) „Die Unmöglichkeit,“ heißt es in einer 1892 erschienenen Schrift**), „während der ganzen von der Landarbeit freien Zeit Beschäftigung zu finden, bildet in unserem Dammerdestrich eine der Hauptursachen des niedrigen ökonomischen Niveaus der Landbevölkerung. In dieser Beziehung hat sich die Lage der Dinge gegen früher verschlechtert.“ Seit der Bauer über die dringendste Notdurft hinaus weder Lein baut noch Schafe hält, weder Flachs spinnt noch Wolle webt, seit alles auf den Kornbau gestellt ist, ist auch alles auf Geld gesetzt, und dieses fehlt. Der Bauer lebt, bis auf jene etwa 2 Prozent, die Industriearbeiter sind, bisher noch immer in Naturalwirtschaft und steht hilflos einer Regierung gegenüber, die die Technik und die Lehren reinster Geldwirtschaft auf ihn anwendet.

*) GOLOWINs Angabe nach MULHALLs Untersuchungen S. 95 a. a. O.
**) S. NIKOLAI-ON, S. 305.


Der Widerspruch zwischen der Gemeinde, die ihre Glieder wirtschaftlich an Hand und FUß fesselt, und dem Staat, der von ihr Steuern fordert, lähmt die materielle Entwicklung und die Tatkraft des Volkes. Wo sich Bauern von der Gemeinde losgerissen und auf gekauftem Lande einen freien Hof gegründet haben, da findet man oft blühenden Wohlstand. Und dasselbe fand ein so eifriger Verteidiger altrussischen Wesens wie der Fürst MESTSCHERSKI in den freien russischen Kolonistenansiedlungen an der unteren Wolga. Er ließ sich von einem Landsmann, der von dort kam, folgendes erzählen: „Welch augenfälliger Kontrast! In den zentralen Gouvernements, wo das russische Volk gewissermaßen in seiner Quintessenz vertreten ist, wo man nur hinsieht — überall Armut, überall andauernder träger Schlaf, der ganze Fortschritt des Volkslebens scheint in der Aufgabe zu gipfeln, ein Hungerdasein zu fristen . . . Von da verschlug es mich in das Astrachansche Gouvernement, wo auf gewaltsam okkupierten Kirgisenländereien sich russische Bauerndörfer gebildet haben . . . Ich traute meinen Augen nicht, als ich diese prächtigen Dörfer sah, mit reinen, geräumigen Häusern, mit Gärtchen vor den Häusern, Gärten hinter den Häusern, in denen zufriedene reiche Besitzer von Pferden und aller Art Vieh wohnen und wo außer Behäbigkeit und Reichtum Reinlichkeit und Ordnung herrschen . . . Als ich diese Dörfer sah, die durch ihren Wohlstand an jene (deutschen) Kolonistendörfer erinnerten, die stets dem russischen Bauern zum Muster hingestellt und zum Vorwurf gemacht werden, da mochte ich nicht glauben, dass hier dasselbe russische Volk lebt und arbeitet, welches, je näher man Moskau kommt, um so fügsamer sein unglückliches Haupt unter dem Druck der unerbittlichen Armut neigt und scheinbar jeden Glauben an seine Volkskraft, an sein geistiges Vermögen, an seine Muskeln, seine Seele verliert . . . Ich glaubte schon, es seien Sektierer, Raskolniki, diese glücklichen, reichen Russen im Astrachanschen Gouvernement, doch nein, es waren Orthodoxe . . . unter dem Eindruck dieser Erzählung wollte meine Seele sich Träumereien ergeben . . . Was bedeutet diese Parallele ganzer kernrussischer Gouvernements, die vernichtet, verarmt, hungrig sind, mit jenen großen Dörfern desselben russischen Volkes, in denen Wohlleben und Reichtum herrscht, und wo in stetigem Strom der Quell der persönlichen und Gemeindearbeit und der individuellen Initiative sprudelt . . . Was das bedeutet, ist schwer zu entscheiden, doch erfassen Wehmut und Trübsinn meine Seele bei dem Gedanken, dass, wenn ich die Frage stelle: welches ist bei der Kraft und Begabung des russischen Volkes das naturgemäße Bild des Lebens, diese Oasen des Wohlstandes im Astrachanschen Gouvernement oder jene ruinierten Gouvernements des zentralen Russland? — Dass es auf diese Frage keine andere Antwort als das Geständnis gibt: naturgemäß ist das Bild der reichen Dörfer des Astrachanschen Gouvernements, unnatürlich und naturwidrig das Bild ganzer Gouvernements im Kern Russlands mit ruinierter, elender Bevölkerung!“ . . .

*) Nach einer Obersetzung aus dem Graschdanin in der St. Petersburger Zeitung 1901 Nr. 184.

Und wiederum umgekehrt: Welcher Kontrast zwischen den deutschen Kolonien des Südens und Südwestens und denen im Wolgagebiet, wo sie die russische Gemeindeverfassung angenommen haben. Hier sind diese deutschen Dörfer womöglich noch elender als die russischen: dort im Süden und Südwesten, wo sie an ihren schwäbischen Sitten festgehalten haben, sind es reiche, gedeihende, schöne Dörfer, deren Zukunft freilich trübe geworden ist, seit die Regierung Ihnen ihr Deutschtum zu nehmen beschlossen hat, die aber bisher mit ihrer Selbstverwaltung ganz andere, glänzende Erfolge errungen haben, als der gleichfalls mit Selbstverwaltung ausgestattete „Mir'', die russische Bauerngemeinde. Dieses Privileg der Selbstverwaltung ist heute bei Russen wie Deutschen in Gefahr, dem Gleichheitsmoloch geopfert zu werden.

Indessen scheint die Staatsregierung seit einigen Jahren doch der Ansicht sich zuzuwenden, dass Kommunalbesitz und Haftpflicht nicht länger aufrecht zu halten sind. In dem Budgetbericht für 1899 stellte der Finanzminister die Abschaffung der Haftpflicht der Bauerngemeinde für die Steuern in Aussicht. Ich habe damals (in den Grenzboten) die Erwartung an jenen Bericht geknüpft, dass Herr Witte vom finanziellen Anstoß aus die Reform der ganzen Dorfverfassung in Angriff nehmen werde. Es hat nicht lange gedauert, bis man von weiteren Schritten auf diesem schwierigen Wege vernommen hat. Durch ein Gesetz vom Jahre 1899 wurde die Haftbarkeit beschränkt und die Aufhebung der Haftpflicht in Aussicht gestellt; ferner wurde die Frist für die Feldumteilungen auf ein Mindestmaß von 12 Jahren normiert; zugleich wurde bestimmt, dass bei Umteilungen dem Bauer, der auf seinem Anteil Verbesserungen vorgenommen habe, für dieselben, falls ihm sein Acker genommen wurde, von der Gemeinde Entschädigung zu leisten sei. Hiermit ist, wenn nicht mehr, die Tendenz vorgezeichnet, mit der die Staatsregierung hier vorgehen will. Und da ein plötzlicher Bruch mit der Feldgemeinschaft den Bauer ebenso fassungslos und hilflos machen würde, wie der Adel durch die Befreiung des Bauern wurde, so scheint es weise, nach dem Ziel langsamen Schrittes hinzustreben. Auch ist das wohl der Sinn einer Kommission, die erst unter dem Ministergehilfen KOWALEWSKI arbeitete und neuerdings unter Leitung des Ministergehilfen KOKOWZEW vornehmlich die wirtschaftliche Lage des Zentrums — wie das verarmende Gebiet jetzt bereits bezeichnend genannt wird — zu beraten hatte. Nachdem diese Vorarbeiten zu einem Abschluss gebracht worden sind,*) ist zu Anfang 1902 eine neue große Kommission niedergesetzt worden, bestehend aus Ministern und hohen Würdenträgern, unter Vorsitz des Finanzministers, der das Recht hat, Experten zur Beratung heranzuziehen. Die Bedürfnisse der Landwirtschaft sollen klar gestellt und die zu ihrem Besten nötigen Maßnahmen erwogen werden. Vom Konferenzsaal des Finanzministeriums aus die Bedürfnisse der Landwirtschaft richtig zu erkennen, ist an sich eine sehr schwere Aufgabe. Sie ist unlösbar in einem Reich mit so mannigfaltigen Bedingungen und Formen der Landwirtschaft, und mit so verschieden für die Landwirtschaft veranlagter und vorgebildeter Bevölkerung. Sie ist hoffnungslos in der Hand einer so zentralisierten und der Landwirtschaft so fern stehenden Versammlung, wie diese Kommission sie umfasst. Alle diese 20 Generäle und Exzellenzen haben schwerlich jemals über Fruchtfolge oder Viehfütterung auch nur einen Gedanken gedacht. Der Landwirtschaft im strengen Sinne könnte nur der Landwirt selbst und die Selbstverwaltung der Provinzen aufhelfen. Aber diese Kommission wird sich große Verdienste erwerben, wenn sie in den russischen Landesteilen die solidarische Haft der Dorfgemeinde und die Feldgemeinschaft endlich abschafft. Die Person des Vorsitzenden gibt eine Gewähr dafür, dass in dieser Richtung etwas erreicht werden wird. Nirgends wird die große Energie Herrn WITTEs mehr am Platze und heilsamer gewesen sein, als hier, wenn er diese Reform durchführt.

*) Das Ergebnis liegt in der mehrfach zitierten Schrift von POLENOW vor.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland, Kulturstudie um 1900
Russland 044. Glockenläuten

Russland 044. Glockenläuten

Russland 044. Kirchenkuppeln (Uspenskij-Kathedrale in Rostow a. S.)

Russland 044. Kirchenkuppeln (Uspenskij-Kathedrale in Rostow a. S.)

Russland 045. Rostow am See, Inneres einer Kirche

Russland 045. Rostow am See, Inneres einer Kirche

Russland 045. Zarenpforte einer russischen Barokkirche

Russland 045. Zarenpforte einer russischen Barokkirche

Russland 046. Kleinrussin

Russland 046. Kleinrussin

Russland 047. Großrusse

Russland 047. Großrusse

Russland 048. Jaroslawl, Johanneskirche, Fenster an der Apsis

Russland 048. Jaroslawl, Johanneskirche, Fenster an der Apsis

Russland 048. Jaroslawl, Kirche Johannes des Täufers, Haupttor

Russland 048. Jaroslawl, Kirche Johannes des Täufers, Haupttor

Russland 049. Jaroslawl, Johanneskirche, Zarenpforte

Russland 049. Jaroslawl, Johanneskirche, Zarenpforte

Russland 049. Tula, Altes Grabmal (17. Jahrhundert)

Russland 049. Tula, Altes Grabmal (17. Jahrhundert)

Russland 050. Eine Altgläubige (Raskolniza)

Russland 050. Eine Altgläubige (Raskolniza)

Russland 050. Rostow am See, Der Kreml

Russland 050. Rostow am See, Der Kreml

Russland 051. Jaroslawl, Ein Glockenturm

Russland 051. Jaroslawl, Ein Glockenturm

Russland 051. Jaroslawl, Ein Hof im Kreml

Russland 051. Jaroslawl, Ein Hof im Kreml

Russland 052. Die Uspenskij-Kathedrale von der Stadtseite

Russland 052. Die Uspenskij-Kathedrale von der Stadtseite

Russland 052. Großrussisches Bauernhaus (Isba) im Gouvernement Orel

Russland 052. Großrussisches Bauernhaus (Isba) im Gouvernement Orel

Russland 053. Bauernhaus und Holzspeicher im Gouvernement Jaroslawl

Russland 053. Bauernhaus und Holzspeicher im Gouvernement Jaroslawl

Russland 053. Kostroma, Blick auf die Uspenskij-Kathedrale von der Wolga

Russland 053. Kostroma, Blick auf die Uspenskij-Kathedrale von der Wolga

Russland 054. Bauernkinder aus dem Gouvernement Orel

Russland 054. Bauernkinder aus dem Gouvernement Orel

Russland 054. Großrussischer Junge mit selbstgefertigtem Hackbrett

Russland 054. Großrussischer Junge mit selbstgefertigtem Hackbrett

Russland 054. Junge auf der Wanderschaft

Russland 054. Junge auf der Wanderschaft

alle Kapitel sehen