Neuntes Kapitel. Kirche und Moral

Die vorhergehenden wie auch die nachfolgenden Schilderungen werden manchem meiner Leser tendenziös gefärbt erscheinen. Und in der Tat würde man sich auf falscher Fährte befinden, wenn man, in der Spur dieser Schilderungen schreitend, glaubte, im ganzen russischen Reiche sich zurechtfinden zu können. Ich habe wiederholt bemerkt, dass es neben dem Elend auch Wohlstand, neben der Verkommenheit in Adel und Bauernschaft auch tüchtige Männer in gesunden und gedeihlichen Umständen gibt, und das Gleiche wird auch von dem Stande gelten können, welchem ich jetzt einige Worte widmen will. Es gibt gebildete Geistliche und aus privaten Mitteln wohl ausgestattete und wohl gepflegte Pfarren. Der russische Geistliche und der russische Bauer haben Grundzüge des Charakters, die unter günstigen Umständen große sittliche Eigenschaften zur Reife bringen. Allein der Zeugnisse, auf die meine Schilderungen sich gründen, sind so viele, und sie sind so ähnlich lautend, dass man annehmen darf, sie seien nicht bloß den trüben persönlichen Erfahrungen einzelner weniger Unglücksraben entnommen. Kein Staat Europas ist vielleicht so wenig kulturlich ausgeglichen wie Russland. Die Gegensätze von reich und arm, von höchstem Luxus und tiefstem Elend sind hier so groß als in den vorgeschrittensten Industrieländern. Aber die vom Besitz Einzelner unabhängige Stufe der allgemeinen Kultur ist in den einzelnen Landesteilen sehr verschieden. Und unsere Zeugnisse stammen fast alle aus Landesteilen, deren kulturlicher Rückschritt während der letzten Jahrzehnte von niemandem bestritten wird. Ich bitte daher meinen Leser, stets im Auge zu behalten, dass es sehr wohl möglich ist, mit einiger Vorsicht Russland von Petersburg bis Odessa zu durchreisen, ohne viel von dem Elend und der Unkultur zu bemerken, über die links und rechts vom Wege von russischen Beobachtern geklagt wird. Ich will in den folgenden Zeilen nur von der Weltgeistlichkeit reden, nicht von der Mönchsgeistlichkeit, die in ihren reichen Klöstern als „unbeerdigte Leichname“ lebt, wie ein alter russischer Schriftsteller gesagt hat, und die zugleich das Kirchenregiment verwaltet.

Mit einer sehr dürftigen Bildung verlässt der künftige Geistliche das Seminar, sucht sich vorschriftsmäßig eine Gefährtin, fast immer aus seinem Stande, die Tochter eines Geistlichen, und wird nach vollzogener Ehe in ein Dorf geschickt. Was er dort erlebt, lesen wir in den „Erinnerungen eines Dorfgeistlichen“. Er kommt an — kein Gasthaus, keine Einfahrt! — „Wo wohnt der Küster?“*) Man zeigte mir eine elende Hütte. „Und der Kirchendiener?“ Es ward auf eine noch erbärmlichere Hütte hingewiesen. „Fahren wir zum Kirchendiener.“ Wir fahren hin und erblicken eine kleine steinerne, schief gewordene Kirche, umgeben von einem zerfallenen Zaun, und eine verwitterte, aus den Fugen gegangene, halb offene Wächterhütte. Wir treten ein: der Fußboden ist aus Lehm, die beiden Fenster, einen halben Arschin (15 Zoll) hoch, sind blind geworden, die Wände feucht, die Winkel mit Schimmel bedeckt“ Das arme Paar wird bei einem Bauer, untergebracht, der zwei Stuben hat und sich nebst Familie in die eine zusammenpresst. Dann geht es ans Handeln mit der Gemeinde, die eine eigene Wohnung für den Popen schaffen soll. „Nach vielen Bitten, Verbeugungen und schmerzlichen Erniedrigungen von der einen, Belehrungen und hochmütigem Wesen von der anderen Seite, ließen sie mich nach Verlauf von zwei Wochen rufen: ich solle in die Gemeindeversammlung kommen und um Überlassung einer Wohnung bitten. Lange, lange musste ich hier reden, fast jeden einzelnen persönlich bitten, dass man mir doch irgend einen besonderen Raum anweisen möchte. Endlich entschloss man sich dazu . . . . und ich erhielt die Weisung, zu einem Bauern zu ziehen“ . . . . Das Zimmer war nur wenig besser als das Wächterhäuschen und in diesem Schmutzloch wohnte das geistliche Paar fortan mit dem alten Bauernpaar zusammen.


*) Aus dem Russischen übersetzt von M. VON ÖTTINGEN. 1894. Cotta.

Zum Tee erscheint der Küster, aber betrunken. Der Pope fragt, warum er so betrunken sei. „Du, Väterchen, hast dich hier noch nicht eingelebt. Wenn du erst ein Jahr hier zugebracht haben wirst, wirst du noch mehr trinken als ich.“ Und wahrlich, das wäre kein Wunder bei dem Leben, das dieser Seelsorger nun hier führen muss. Geld hat er sehr wenig, er muss sich seinen Unterhalt verdienen durch Taufen, Beerdigen u. s. w., er muss umherfahren in kleinere Dörfer der Umgegend, um hier 2 Pfennige, dort ein Huhn, ein wenig Mehl zu verdienen, aber er fährt auch einen ganzen Tag, um mit zwei Groschen heimzukehren, und das ist das Gewöhnliche; und immer heißt es: trinke! Die Gemeinde gibt ihm diese sogenannte Wohnung — er aber muss zum Einzug einen Eimer Branntwein anschaffen, und muss mit ihnen trinken, will er nicht ihre Wohltaten mitsamt ihrer Neigung einbüßen. „Du hast es nur mit uns zu tun, heißt es da, du musst uns Achtung erweisen; dann werden wir dir alles gewähren, und auch dich achten. Willst du das nicht, dann schnüre lieber gleich wieder dein Bündel. Schone deinen Rücken nicht; es wird dein Nachteil nicht sein, wenn du dich vor der Gemeinde beugst" Und in jenem Schmutzloch, dessen verfaulte Diele einmal jährlich, vor Ostern, gewaschen wird, wo weder Licht noch Luft in der Schulzeit des langen Winters eindringt, da sollen auch Kinder unterrichtet werden . . . . Mancher Geistliche, klagt der Verfasser, wohne in einer Höhle oder in der Dorfschenke. Es ist daher wohl erklärlich, dass die Trunksucht in diesem Stande ein nicht seltenes Laster ist und auf Verfügung des Oberprokurators POBEDONOSZEW in den „Dienstlisten" der Popen stets bemerkt werden muss, „in welchem Maße der einzelne berauschenden Getränken zuzusprechen pflege". Eine solche Rubrik, seufzt unser Pope, kommt „bei den übrigen Staatsbeamten nicht vor"; wir sehen, wie naiv sich der Geistliche zu den Staatsbeamten zählt, was er tatsächlich ja auch ist.

Dies sind Schilderungen aus der Zeit vor 30, 40 Jahren. Aber wenn auch inzwischen etwas — wenigstens auf dem Papier — geschehen ist, die Lage des Weltgeistlichen ist doch noch heute eine äußerst elende bei allem Reichtum, der in Kirchen und Klöstern angesammelt ist Schon das Budget der Kirchenobrigkeit, des Synods, zeigt das. Da sind für das Jahr 1901 für „städtische und ländliche Geistlichkeit, Missionen und Missionare“
rund 10 ½ Millionen Rubel veranschlagt. Käme diese Summe ganz der niederen Geistlichkeit des eigentlichen Russland zu gut, so fielen auf den einzelnen vielleicht 100 Rubel im Jahr. Indessen geht viel davon ab für Missionen und Missionare, für Geistliche im Auslande, wo oft russische Kirchen ohne Bedürfnis dazu errichtet werden. Mehr noch geht ab für die vielen russischen Kirchen und geistlichen Anstalten im nichtrussischen Russland. Überall, von Kamtschatka bis an die Weichsel, werden russische Kirchen und Popen erhalten, auch an Orten, wo durchaus kein religiöses, sondern ein bloß politisches Bedürfnis den Synod dazu treibt, Propaganda zu machen. Der Vergleich des russischen Dorfgeistlichen im Gubernium Saratow oder Tambow mit seinem Amtsbruder in Polen, Litauen, Livland ist oft überraschend. Gute, große Wohnhäuser, oft Wagen und Pferde, Acker und Wiesen dabei, Gärten, freundliche, hübsche Kirchen. Der Pope lebt behaglich mit 1.000 — 1.500 Rubel an Gehalt oder Ertrag aus seinem Pfarrlande, hat seine guten Schulräume, braucht den Rücken nicht zu krümmen, noch Branntwein zu trinken, noch zu hungern. Brüderschaften werden gegründet, im ganzen orthodoxen Russland werden Sammlungen veranstaltet, um Litauern und Letten zur Orthodoxie und zum Russentum zu verhelfen, um Politik zu treiben. Kaum hat man sich in der Mandschurei festgesetzt, so beschließt — wie in der Presse mitgeteilt wird — der Synod ein mandschurisches Bistum mit dem Sitz in Peking und ein großes orthodoxes Kloster in der Mandschurei zu gründen, um die russischorthodoxe Mission dort kräftig zu fördern. Für allerlei fernliegende Dinge hat man stets eine offene Hand, „nur für uns, die Popen, gibt es keine verfügbaren Gelder“, so klagt unser Dorfgeistlicher immer wieder. Und seine Beispiele sind allerdings überzeugend. In einer stark bevölkerten Pfarrgemeinde, sagt er, erhält der Geistliche 144 Rubel, in einer mittleren 108 Rubel und in einer kleinen 72 Rubel an Gehalt (S. 191). Dabei werden diese armen Popen noch von den Konsistorien arg gebrandschatzt; alle ihre Angelegenheiten dort werden mit Hilfe von Geld betrieben. Ähnliches berichtete aus den siebziger Jahren der Engländer WALLACE in seinem Buche. *)

*) Russland, Leipzig 1876.

Seitdem hat sich manches und an manchen Orten sogar viel gebessert; der Russe kargt nicht mit seinen Gaben für Kirche und Popen. Die Klagen aber der niederen Geistlichkeit über ihre dürftige Lage, über die Missachtung des Volkes, über den Druck der Kirchenobrigkeit verstummen nicht, und solche Erfahrungen, wie jener Geistliche sie machte, mögen auch heute noch oft gemacht werden. Nehmen wir eine Schilderung aus unseren Tagen zur Hand, die Chronik LESKOWs,*) so begegnen wir zwar nicht jenem materiellen moralischen Elend, aber einer Stellung des Geistlichen, die einen religiös-sittlichen Einfluss auf seine Gemeinde doch fast unmöglich macht Der lauterste Charakter, der beste Wille werden gehemmt durch eine Kirchenzucht, die nur die hergebrachten und vorgeschriebenen äußeren Formen des Ritus gelten lässt, jede selbständige Regung und Anwendung des Gotteswortes verbietet Die Jagd nach Sektierern ist Mode, und der Geistliche muss suchen, Sektierer herauszufinden, um als tüchtig zu gelten. Man spürt eben überall, auch in der Kirche, die Hand der staatlichen Gewalt und die Politik. An welchen Heiligen man sich in diesem und jenem Falle zu wenden habe, das weiß jeder Diakon auswendig; aber Predigt des Evangeliums und Seelsorge, das Wesentliche für den Bauer und erst recht für den russischen Bauer — dieser Weg ist für den Popen von der Kirchenbehörde mit Domen besät. Die natürliche Folge hiervon ist, dass die Stellung des Bauern zur Kirche, dass sein ganzes religiöses Leben ein bloß äußerliches, in Gebräuchen, Formeln, Gebärden, Opfern aufgehendes ist Und die weitere Folge ist, dass, sobald er von dem Geist des evangelischen Wortes berührt wird, er sich von der Staatskirche abwendet, Sektierer wird. Dann greift die Kirche ein. Sowie die politische Propaganda hinzukommt, ist das Geld für Popen, Missionen, Kirchen, Schulen da. Aus Politik hungert der Russe auch im religiös-kirchlichen Sinne.

*) LESKOW, Gesammelte Werke, Petersburg 1892, 3. Auflage, T. 1 und 2.

Wer einen Einblick in das moralische Leben des russischen Volkes gewinnen wollte, würde nach einer Moralstatistik moderner Art vergeblich suchen, und fände er eine, so wäre sie ihm nicht viel nütze, weil sie nicht verlässlich wäre. Es ließen sich nur zerstreute Angaben zusammenstellen über Verbrechen, über Trunkenheit u. s. w., die hier und da gesammelt wurden, aber unzuverlässig werden sie, sobald sie auf das ganze Volk der Russen oder gar das russische Reich ausgedehnt werden. Wenn man jedoch die materiellen und die geistigen Verhältnisse im Auge hat, auf die im vorhergehenden hingewiesen wurde, so wird man zu der Annahme gedrängt werden, dass der sittliche Stand dieses Volkes kein hoher sein kann. Und die neuere russische Literatur, dieser wunderbar scharfe Spiegel des Volkslebens, bestätigt nur all zu sehr jene Annahme. Wer TERPIGOREW, GORKI, TSCHECHOW, wer TOLSTOIs kleinere Schriften, z. B. das bei uns so viel bewunderte Buch „Macht der Finsternis'', kennt, der muss die tiefe Verkommenheit fühlen, zu der der Bauer Großrusslands herabgesunken ist.

Das Familienleben ist nicht nur in den oberen Volksklassen zerrüttet. Auch bei anderen Völkern, z. B. dem deutschen des 17., dem französischen des 18. Jahrhunderts, erreichte die sittliche Erschlaffung einen hohen Grad, ohne jedoch das Leben des niederen Volkes allzu sehr zu vergiften, und eine Gesundung folgte durch herbe Prüfungen, denen die oberen Stände unterworfen wurden. Weit verhängnisvoller ist es, wenn die sittliche Erschlaffung die untere Volksmasse erfasst. In Russland nahm die Frau nie eine solche Stellung ein wie etwa bei den Germanen, sie war im 16. Jahrhundert auch am Zarenhofe selbst ähnlich geachtet wie heute in den Ländern des Orients, sie war in ihre Frauengemächer eingeschlossen, erschien bei festlichen Gelegenheiten nur um dem Gaste den Trunk zu kredenzen, sie war halb noch Sklavin des Mannes. Bis auf die neueste Zeit konnte man Spuren dieser Stellung nicht nur beim Bauern, sondern beim reichen moskowitischen Kaufmann finden. Dem Bauer ist das Weib noch heute die Sklavin, die Arbeiterin, und sie, das Weib und die Tochter, fühlen sich als solche, erdulden Schläge und Sklavenarbeit ohne sittlich sich verletzt zu fühlen. Das Weib ist gering geachtet und die eheliche Pflicht besteht weit mehr im Dienen als in geschlechtlicher Treue. Die Sitte ist in Bezug auf den geschlechtlichen Verkehr äußerst locker. Die Männer wandern im Sommer auf Arbeit aus, die Weiber daheim nehmen sich unterdessen einen Soldaten ins Haus, wenn es deren gibt; der wilden Soldatenkinder gab es daher Legionen, solange die Truppen noch in den Dörfern lagen, weil es keine Kasernen gab. Oder die Weiber und Töchter lassen sich zur Erntezeit für einen Gutsbesitzer, oft in entfernten Gubernien anwerben. Da erscheinen dann hundert Weiber für einige Wochen in der schönen, fröhlichen Sommerzeit, kampieren in Scheunen und Heuböden, und natürlich fliegt alles, was Männlein ist, alsbald von weit und breit herbei zu Tanz und Liebe. „Was kümmert mich“, sagte mir ein solcher Gutsbesitzer vor etwa 12 Jahren, „die Moral dabei? Natürlich geht es arg her; aber im September zieht die Bande wieder ab mit der Eisenbahn, und damit ist es aus und meine Ernte ist gemacht.“ Wie wenig Jahre ist es denn her, dass im Dorf der Hausvater mit Schwiegersohn und Schnur, mit Enkeln und Urenkeln gemeinsam in einem Hause oder auf einem Hofe lebte, drei, vier, fünf Familien zusammen, und dass das Haupt der Familie dann in höchst patriarchalischer Ordnung das geschlechtliche Anrecht nicht nur an seinem Weib, sondern auch an den Weibern von Söhnen und Enkeln übte. Liest man heute von dem zwanglosen Verkehr der Weiber und Mädchen mit Männern, so wird man an japanische Zustände erinnert.

Schlimm ist diese Zwanglosigkeit besonders durch die Verbreitung geschlechtlicher Krankheiten, die die neue Zeit gebracht hat. Weithin ist diese Pest gedrungen und hat im Verein mit dem Branntwein die Kraft und die Gesundheit des Bauers untergraben. Noch schlimmer aber dünkt mich die Erscheinung, dass auch die sittlichen Banden zwischen Eltern und Kindern sich gelöst haben. Das neugeborene Kind wird zumeist vom ersten Tage an nicht mit Liebe, sondern als eine Last behandelt. Es hängt in einem Kasten am Haken von der Lage herab und wird darin so lange mit dem Fuß von der strickenden Mutter oder dem Bruder umhergeworfen, bis es schläft, oder es wird mit Mohnsaft eingeschläfert, der stets zur Hand ist; es wird in verpesteter Luft mit schlechtester Nahrung aufgezogen; es ist kraftlos und geht leicht zu Grunde, wenn die Natur ihm nicht eine eiserne Gesundheit mitgab. Daher stirbt die Hälfte und mehr der Kinder in frühem Alter, daher steht die Bevölkerung still, wie bereits erwähnt wurde. Was aber das sittlich Ungewöhnliche dabei ist, das ist dieser Mangel an Liebe der Mutter für das Kind. Die Mutter kann zärtlich sein, mit süßen Worten das Kind überschütten, im nächsten Augenblick aber misshandelt sie dasselbe, verflucht es, und wenn die Armut groß ist, mag es hungern und verkommen — möchte Gott es doch fortnehmen! wir brauchen es nicht, es kann ja nicht arbeiten, ist ja zu nichts gut! und Gott nimmt es dann, und es wird verscharrt und der Pope macht sein Kreuz darüber und die Mutter — versucht ein paar Schicklichkeitstränen zu weinen. Die Erschlaffung der Mutterliebe, das ist — wenn sie volkstümlich auftritt — eine furchtbare Entsittlichung, weit schlimmer als die sogenannten lockeren Sitten im Verkehr der Geschlechter. Und auch diese Erscheinung wird man hauptsächlich auf Rechnung der allgemeinen Verarmung setzen dürfen.

Wo die sittlichen Giftbeulen an dem Volkskörper stecken, ist nicht schwer zu entdecken. Ich habe in einem früheren Kapitel die Schilderung eines Korrespondenten des ,,Grashdanin" angeführt, der ob dem Wohlstand und der Ordnung in den russischen Dörfern an der unteren Wolga staunt, die dort auf dem Steppenlande der Kirgisen sich angesiedelt haben. Der Korrespondent glaubte beim ersten Anblick Ansiedelungen von Sektierern vor sich zu haben, so vorteilhaft stachen sie von den Dörfern im alten Russenlande ab. So fest also sitzt bei ihm und bei allen die Erfahrung, dass es bei den Sektierern anders aussehe, als beim orthodoxen Russen! Und allerdings, man weiß es längst in ganz Russland, dass der Sektierer ein Mensch ist, der nicht säuft, nicht raucht, der sparsam und ordentlich und auch fleißiger ist als der Rechtgläubige. Wie kommt das? Nicht das Dogma ist hier das Bedeutsame, denn die große Masse der außerhalb der Staatskirche stehenden Russen besteht aus Altgläubigen, aus Anhängern der alten orthodoxen Kirche, wie sie vor der Reform des 17. Jahrhunderts war, einer Kirche, die nicht durch das Dogma sich von der heutigen Staatskirche scheidet, sondern nur durch, geistig genommen, unwesentliche Äußerlichkeiten. Diese Altgläubigen hängen starrer noch als die Staatskirchlichen an leeren Formen, sie werden noch weniger als diese von lebendigem religiösen Geist in ihrer Kirche getragen: und dennoch wirkt eine geringe formale Abweichung große sittliche Verschiedenheit. Unter den Sektierern werden die Altgläubigen meist nicht mit einbegriffen, sondern nur die von der Staatskirche später Abgefallenen. Aber diese Altgläubigen zeichnen sich in gewissem Grade durch dieselben moralischen Eigentümlichkeiten vor den Staatskirchlern aus wie die Sektierer. Es ist klar, dass hier das Bedeutsame nicht darin liegt, was geglaubt wird, sondern wie es geglaubt wird. Dieselben Dogmen werden dort unter strengem Zwang beobachtet und bringen keinen moralischen Segen; hier werden sie in freier Selbstbestimmung als ein Eigenes, ein Privileg des Geistes geschätzt, und gewinnen im Kampf und durch die für sie gebrachten Opfer an gemütlichem Wert und Lebendigkeit. Die bloße Tatsache, dass die Altgläubigen verfolgt wurden und werden, dass sie sich bewusst sind, durch eigene Kraft, ihre religiösen Schätze zu hüten, das Gefühl, dass sie leiden müssen um dieser Schätze willen, heiligt, durchgeistigt sie. Sie werden sozial einander genähert, sie helfen einander, sie schützen einander, und damit tritt das moralische Element in Wirksamkeit, welches das Gemütsleben in der Gemeinde und dann auch in der Familie veredelt. Der Altgläubige steht durchgängig sittlich höher als der Orthodoxe und ist dadurch auch durchgängig zu größerem Wohlstande gelangt.

Kommt nun bei den eigentlichen Sekten wirklich lebendiger religiöser Inhalt des Glaubens hinzu, so wird die Umwandlung des sittlichen Charakters noch deutlicher, entschiedener. Unter Alexander I. drang, von dem Minister GOLIZIN gerufen und gefördert, die englische Bibelgesellschaft ins Land, die Bibel wurde in russischer Volkssprache statt in der dem Volk unverständlichen slawonischen Kirchensprache und in vielen anderen Sprachen den verschiedenen Völkern des russischen Reiches zugängig gemacht. Lange hat sie geringe Wirkung geübt, weil die Masse des Volkes sie nicht lesen konnte. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts folgte der Schriftkunde im russischen Dorf die Bibel unmittelbar auf dem Fuße. Sie wirkte und wirkt mächtiger als alle Nihilisten, und will der heilige Synod die geistige Knechtung konsequent durchführen, so muss er damit beginnen, der Verbreitung der Bibel Einhalt zu tun. Das Entstehen der „Stunde" aus den Betstunden der deutschen Menoniten und anderen evangelisch-deutschen Kolonistenversammlungen ist bekannt. Der religiöse Sinn des Russen, seit Jahrhunderten unter leeren Formen brütend, vereint mit dem ebenso niedergehaltenen Bedürfnis nach geistiger Regung — sie haben schnell die befreiende Kraft einer einfachen und praktisch lebendigen Religionslehre erfasst, und die stundistische Bewegung durchflog den ganzen Süden des Reiches. Wo eine Bibel in russischer Volkssprache im Dorf ist, da findet sich bald ein Kreis um den schriftkundigen Besitzer, der ihm zuhört, und das Wort übt seine Wirkung.

Neben der Stunde hat es seit lange andere auf evangelischem Boden erwachsene Sekten gegeben, wie Molokanen und Duchoborzen, und neuerdings die Paschkower. Von dem zu Anfang 1902 in Paris verstorbenen Gardeobersten PASCHKOW ging in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts in Petersburg eine Bewegung aus, die evangelisch mit methodistischer Färbung war, und bald alle Schichten der Residenz ergriff. Im Wesen war es dieselbe religiöse Neubelebung gegenüber der verdorrten griechisch-katholischen Kirche, die sich im 16. Jahrhundert gegen die römische Kirche in Deutschland und der Schweiz wandte. Das Evangelium war PASCHKOW selbst eine neue frohe Botschaft, und als solche trug er sie hinaus in die vornehmen Kreise, die er in seinem Palast an der Newa versammelte, und ebenso in die dichtgedrängte Menge der Kutscher, Arbeiter, Wäscherinnen u. s. w., die er von den Straßen herbeirief, das Neue zu hören. PASCHKOWs Namen kannte der letzte Straßenkehrer, und viele Tausende segneten ihn, die einen, weil sie von dem Geist lebendiger Religion waren erfasst worden, die in PASCHKOW glühte, die anderen, weil sie die vielen Stätten der Wohltätigkeit kannten, die PASCHKOW aus seinen reichen Mitteln und mit Hilfe reicher Genossen und Genossinnen geschaffen hatte. Mir selbst werden die wenigen Stunden unvergesslich bleiben, die ich mit diesem an Geist schlichten, an Bildung ebenso einfachen, aber an religiösem Empfinden und wahrem Menschentum reichen Manne im Gespräch verbrachte. Mir konnte er nichts Neues bieten, denn was Ihm neu war, kannte ich von frühester Jugend als Sohn lutherischer Eltern längst. Neu war mir aber die Erscheinung eines Mannes, der in christlicher Kirche seit fünfzig Jahren lebend, erst jetzt als etwas Neues gefunden hatte, was jedem Gliede einer evangelischen Kirche als die Summe christlicher Lehre vertraut war und ist Ihm war eben das Evangelium selbst etwas Neues, eine Offenbarung.

So ist es auch den vielen Tausenden in dem russischen Lande ergangen, als sie zum ersten mal in die Bibel blickten. Von Dorf zu Dorf flog der Funke und zündete, weil das Volk nach der religiös-geistigen Betätigung lechzte, weil es in ihr Trost fand für materielles Elend und für das Verkommen des Gemütes. In wenigen Jahren staunte man über die sittliche und materielle Verwandlung, die sich unter der Einwirkung der Stunde vollzog. Nüchtern, arbeitsam, ehrlich, sparsam, auch äußerlich auf Ordnung und Anstand haltend — so zeichnet sich der evangelische Sektierer vor dem Staatskirchler aus, sei er nun Stundist oder Molokane oder Tolstoier oder Paschkower. Lebendiges Christentum hat der heilige Wladimir mit seinen byzantinischen Priestern nicht ins Land gebracht und hat der gemeine Russe in diesen 900 Jahren daher nicht kennen gelernt. Wo es heute mit der Bibel eindringt, da ist die Wirkung handgreiflich. Sie ist eine solche, wie die beste Regierung sie mit bloß weltlichen Mitteln nicht erzielen könnte. Aber sie läuft stracks der Staatskirche entgegen, sie führt zum Abfall von der Orthodoxie. Und der Staat hat den Kampf aufgenommen.

Mit welcher Härte seit Jahren gegen Molokanen und Duchoborzen vorgegangen wird, wie sie aufgepackt, in wüste Landstriche jenseits des Kaspi versetzt werden, wo sie mittellos und arbeitslos interniert, durch englische Spenden, durch Sammlungen, die vom Grafen TOLSTOI und anderen Menschenfreunden veranstaltet werden, notdürftig am Leben erhalten werden — das ist zur Genüge bekannt. Nach ihnen kamen die Stundisten an die Reihe, die jetzt überall verfolgt werden, deren Betstunden polizeilich verboten werden, gegen die die Kirche ihre Geistlichen und nun auch die ganze Jugend der Kirchenvolksschulen aufbietet Man nennt es Mission, aber es ist Unterdrückung des evangelischen Christentums. Auch PASCHKOWs Arbeit wurde zerstört, seine Anstalten der Wohltätigkeit gingen ein, er selbst wurde verbannt.

Es kann nichts für die Gesundung des Volkes Verderblicheres ersonnen werden, als diese gewaltsame Knebelung der Volksseele, die nach Luft schreit. Der Rohheit dies Volkes wäre auch durch eine gute Volksschule, wenn man sie schaffen könnte, nicht so unmittelbar beizukommen, als dies durch die Entfesselung des Gewissens, die Befreiung des religiösen Triebes möglich wäre. Im äußeren Leben gefesselt durch den Mir mit seiner Feldgemeinschaft, im inneren Leben durch Entziehung aller gemütlichen und geistigen Nahrung — wie sollte dies Volk nicht zu Grunde gehen müssen? Vor Zeiten, in der Leibeigenschaft, lebte es wild dahin, ohne aufzuschauen, ein einfaches und geistloses, aber in sich doch harmonisches Leben. Heute zeigt ihm jeder Blick die ungeheure Tiefe, aus der es hinaufblickt zu den Schöpfungen europäischen Kulturlebens, und der grelle Widerspruch reizt auch den einfachen Mann zum Nachdenken über sich und seine Umgebung. Die alte Harmonie ist dahin und die Last des Daseins wird schwer empfunden, weil sie erkannt wurde. Man schaffe die Gewalt der Kirche und den Zwang der Agrarverfassung ab, und die guten Folgen werden sich gar bald zeigen. Alle Staatsalmosen, alle landwirtschaftlichen Schulen, alle die zahllosen Quacksalbereien, die man in den Kanzleien ersinnt, um der Erfüllung des Notwendigen zu entgehen, werden dem steigenden Elend nicht Einhalt tun, wenn man sich zu jenen beiden Maßregeln nicht vor allem anderen entschließt.

Aus faulem Sumpf steigen erstickende Dünste auf, so dass wir schaudern. Eine molluskenhafte Haltlosigkeit ist in diesen Gestalten, die sie zur Trunksucht, zum Verbrechen taumeln lässt wider ihren Willen, fast ohne Leidenschaft, ohne Furcht vor Strafe, die Opfer eines Verhängnisses, nicht die Träger eines bösen, starken Willens; nicht schlecht von Natur, aber ihr haltlos unterworfen; nicht verderbt durch das Leben, aber ohne jede sittliche Erziehung, Gestaltung durch die Erfahrung; nicht zerrissen oder getrieben von Bedürfnissen und Begierden wirrer sozialer Umgebungen, aber willenlos dem einfachen Empfinden, Begehren folgend; Kinder scheinen es, die verwahrlost, in dumpfer Höhle sich selbst überlassen wurden. Und trotz alledem gute, begabte Kinder, die von gutem Gefühl zu edler Tat können gehoben werden, die sich bis zur Erde beugen vor dem Vornehmen, dem Mächtigen, und doch mit ruhigem Selbstvertrauen sich wieder aufrichten und wie Gleichstehende in Haltung und Worten nichts kleinlich Knechtisches zeigen. Ein merkwürdiges Gemisch steckt im russischen Bauer: er lässt sich misshandeln bis zum Tode, er duldet alles; körperlich, geistig, sittlich zeigt er eine bewundernswerte Kraft des Ertragens, und doch ist man oft erstaunt über die selbstbewusste Würde dieser einfachen Wilden, doch findet man oft bei ihnen eine außerordentliche sittliche Größe. Aber es ist, als wären ihm die Sehnen aktiver Kraft durchschnitten: der individuelle Charakter fehlt, die gefestigte Persönlichkeit, die Willenskraft. Der Spruch der Gemeinde, der Befehl der Obrigkeit, der Wille des Zaren: außer diesen drei Gewalten lebt in seiner Brust kein klares Bewusstsein eigener Selbständigkeit Sieht man ihn vor sich, so meint man oft, das sei der Abkömmling eines großen, freien Volkes; sieht man sein Tun, sein Leben, sein Wollen, so meint man das Opfer einer langen Knechtschaft vor sich zu haben — oder den Sohn eines Volkes ohne Zukunft.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland, Kulturstudie um 1900
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Russland 080. Hauptkirche des Michaelklosters

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