Fünfzehntes Kapitel. Bürokratie

Man kann zweifelhaft sein, ob man den wahren Finanzminister WITTE in dem glänzenden Anwalt der verklagten Landschaften, als welcher er im ersten Teil seiner Denkschrift auftritt, oder in dem starren Bürokraten des Absolutismus, wie er im zweiten Teil erscheint, zu erkennen habe. Herr WITTE hat die Geschichte der von den Landschaften erduldeten Misshandlungen sicher nicht zu ihrem Schaden in der Meinung des lesenden Publikums geschrieben, und hat auch nicht geleugnet, dass sie viel Segensreiches geleistet haben. Sind die Landschaften denn nun wirklich so gänzlich unfähig gewesen, die ihnen zunächst gestellte Aufgabe zu erfüllen? Denn dazu wurden sie doch vor allem geschaffen, in der Provinz, im Kreise, in der Gemeinde das Volksleben zu fördern, wozu bei dem staatlichen Beamtentum die Fähigkeit erfahrungsmäßig selten und in Russland gar nicht vorhanden ist. Zur Selbsttätigkeit — so hieß es in einer amtlichen oder halbamtlichen Auslassung vom Jahre 1863 — wurde die Bevölkerung berufen, wurden „selbständige Organe“ geschaffen, denen die „Wahrung der lokalen Interessen“ übertragen ward. Neben ihnen her sollte die ebenfalls auf ständischer Wahl ruhende neue Städteordnung von 1878 in ihrem Gebiet dasselbe leisten, wie die Landschaft in dem Landbezirk. Auch die städtische Verwaltung hat von der Eifersucht und Herrschsucht des Beamtentums viel zu leiden gehabt Aber man fürchtete sie nicht, weil es nur wenig Städte in Russland gibt, und von ihnen wenige groß genug sind, um politische Bedeutung zu gewinnen. Weit mehr Grund zu Beschwerden haben die Landschaften gegeben, wie ich schon anführte. Aber überall in den Gubernien sieht man auch gute Früchte ihrer Tätigkeit. Wie sah es auf dem platten Lande aus vor Einführung der Landschaft, und wie jetzt?

Wir haben gesehen, dass die Landschaften über zwei Drittel aller Ausgaben für die Volksschule aufbringen. „Die Schriftkunde", lesen wir bei NOWIKOW, „war gleich Null, da man doch die früheren Gemeindeschulen der Staatsdomänenverwaltung unmöglich für „etwas“ rechnen kann. Auf den Kreis gab es einen Arzt. Nichts geschah weder für die Seele, noch den Leib, noch den Wohlstand des Bauern. Jetzt, so oder so, erscheint die Schule doch schon als ein Volksbedürfnis, das Medizinalwesen hat sich gegen früher verzehnfacht, der Kurpfuscherinnen gibt es weniger, man kämpft mit den Epizootien. Das sind alles Resultate der landschaftlichen Tätigkeit Augenscheinlich zieht die Selbstverwaltung eine Menge von Tätigen heran, die sonst dem Dorfleben fern blieben: die Selbsttätigkeit der Gesellschaft hat nicht geringe Früchte getragen. Wenn man weiter in Betracht zieht alle Hindernisse, die sich auf dem Wege dieser Selbsttätigkeit finden, alle Knüppel, die in das landschaftliche Räderwerk gesteckt werden, so wird man die Resultate dieser Selbsttätigkeit noch höher schätzen können. Das ist das Aktivum der Landschaft; blicken wir nun auf das Passivum. Nehmen wir zwei benachbarte Kreise mit gleichen Lebensbedingungen, und vergleichen wir die Tätigkeit ihrer Landschaften. Wir sehen, dass in dem einen das Schulwesen glänzend bestellt ist. Die Schulen sind das verwöhnte Kind der Landschaft; im Nachbarkreise gibt es fast keine landschaftlichen Schulen. In dem einen Kreis zieht das Medizinalwesen alle Beschäftigung der Landschaftsversammlungen an sich, der Spittel gibt es viele, die Kranken finden leicht eine Erleichterung ihrer Leiden; in dem anderen hält man das Medizinalwesen im Dorfe fast für einen überflüssigen Luxus. In dem einen wird auf die Wege viermal so viel verwandt als im anderen. So ist es auch in den Guberniallandschaften." . . . Vor zwei Jahren stellte ein russisches Blatt („Now. Wremä") neun Gubernien mit landschaftlicher Verfassung den neun ehemals litauisch-polnischen sogenannten westlichen Gubernien gegenüber, die dieser Verfassung entbehren. Danach kam in den westlichen Gubernien ein angestellter Arzt auf 83.000 Einwohner, in den russischen landschaftlichen Gubernien auf 35.000 Einwohner; in jenen kam eine weltliche Schule auf 7.346 Einwohner, in diesen auf 1.919 Einwohner. — Diese Zahlen sprachen damals ohne Zweifel für den Wunsch des Ministers GOREMYKIN, die Landschaften in dem Westgebiete einzuführen, und es lassen sich noch viele Zeugnisse für andere Früchte der landschaftlichen Tätigkeit aufweisen. Aber es wäre auch verständlich, wenn der verarmte Adel Neigung hätte, den doppelten Kampf mit den eigenen, den Nöten des Volkes und mit dem Übelwollen einer übermächtigen Beamtenschaft aufzugeben. Diese Verschiedenheit der Widerstandskraft drückt sich eben in jener ungleichen Tätigkeit aus, deren wir erwähnten.


Schon dieser Mangel an Gleichheit, an bequem zu übersehender Uniformität ist dem Beamtentum ein Gräuel; dazu kommt jene Angst in den oberen Regionen vor den konstitutionellen Tendenzen der Landschaften. Und doch weisen die Erfahrungen immer wieder darauf hin, dass von diesen Körpern der Selbstverwaltung noch am ehesten Abhilfe in den vielen Nöten des Volkslebens erwartet wird. So namentlich in den Hungersnöten. Eine Konferenz russischer Ärzte hat im Jahre 1899 in Kasan die Landschaften für die zur Hebung des Medizinalwesens kompetenteste Instanz erklärt. Die Sorge für die Volksverpflegung lag bisher den Landschaften ob und wurde im ganzen jedenfalls nicht schlechter wahrgenommen als von den Staatsbeamten. Aber sobald irgendwo eine Missernte konstatiert wurde, begann sofort der Konflikt zwischen Landschaft und Bürokratie: man behauptete auf der einen Seite das Vorhandensein eines Notstandes, man leugnete ihn auf der anderen Seite, man stritt über die Höhe der Unterstützung, die nötig wäre, über den Ankauf des Korns, über seine Verteilung u. s. w. und das Ergebnis war natürlich schlimm für die Hungernden: die Hilfe kam meist zu spät oder gar nicht, oder in einer nutzlosen Weise.*) Zuletzt hat dann die Regierung die Sache in ihre Hand genommen: die Landschaft soll seit dem Sommer 1901 mit der Volksverpflegung nichts mehr zu tun haben. Und was sehen wir jetzt in den notleidenden Ostgubernien? Die alte Klage: die Regierung habe zu wenig geleistet und das Getreide, das sie ankaufte, komme nicht rechtzeitig, liege Irgend wo fest — und der Skorbut bricht aus (März 1902).

*) Siehe: ,,Das hungernde Russland", von LEHMANN und PARVUS, Stuttgart 1900.

Schon kündigt auch die Presse an, es werde den Landschaften das Wahlrecht ihrer obersten Beamten genommen werden, die von der Regierung fortan würden eingesetzt werden. Damit wären die Landschaften verstaatlicht, und mit den Anfängen von Selbstverwaltung hätte es ein Ende. Dann aber dürfte auch der letzte Versuch gemacht sein, den alten Landadel als führenden Stand zu retten. Denn ein Adel ohne öffentliche Rechte und Pflichten geht als Stand immer und überall zu Grunde, er wird Salonadel. Wir wissen in Deutschland aus eigener Erfahrung, wie in einem Staat mit noch so pflichttreuen absoluten Alleinherrschern der Bürokratismus leicht um sich frisst. Vom Aachener Kongress des Jahres 1818 bis zum März des Jahres 1848 hat die bürokratische Wucherung, und nicht bloß in Preußen, das Blut im Volkskörper so ins Stocken gebracht, dass ein schwächeres Volk schwerlich gegen Ende des Jahrhunderts zu solchem Aufschwünge wäre fähig gewesen, wie wir ihn erlebt haben. Die alte deutsche Kleinstaaterei mit all ihrem Elend hat vielleicht das Verdienst gehabt, das Beamtentum nicht zu dem Maße von Verderbtheit herabsinken zu lassen, dem es in einem großen Reich leicht ausgesetzt ist. In dem Kleinstaat reicht der Blick des Ministers bis ins letzte Dorf, jede Meinung wird leicht eine öffentliche Meinung und gewinnt damit an einschränkendem Einfluss auch auf den Staatsbeamten. Der russische Minister kennt niemals die Beamten der Provinz persönlich, und eine öffentliche russische Meinung gibt es nicht und wird es nicht geben, außer in sehr wenigen und ganz allgemeinen Fragen. In der Provinz mag man sehr einig sein in der Verurteilung einer amtlichen Person oder Handlung: diese Meinung einer Provinz wird es sehr schwer finden, auf das Beamtentum einen Einfluss zu gewinnen, und noch schwerer, sich bei der Zentralregierung Gehör zu verschaffen. Nicht eine provinzielle, sondern eine persönliche Meinung wird einige Aussicht haben durchzudringen. So bleibt der Beamte unter sehr schwacher Aufsicht sowohl von oben her als durch die Gesellschaft, und so ist das Bestechungswesen heute in Russland verbreiteter, als es in den Jahren nach den Reformen Alexanders II war, und nicht viel geringer als unter Nikolaus I. Die Unterschleife bei der Intendantur während der letzten chinesischen Wirren scheinen denen von 1877 wenig nachgestanden zu haben. Die einzigen Beamten, die man dieses Fehlers nicht zeihen kann, die ihre sachliche, unabhängige Meinung sich bewahrt haben und sie vertreten, sind die der höheren und höchsten Justiz, und sie sind auch die einzigen, die bisher gesetzlich in ihrer amtlichen Tätigkeit unabhängig sind von der Willkür des Vorgesetzten oder der höheren Administration. Beides, Freiheit und Redlichkeit, geht hier also zusammen. Im übrigen heißt es in einer schon oben zitierten Schrift: „Die Bürokratie verzweigt sich überall hin und ist bestrebt, das ganze russische Leben in die Ketten von Willkür und Formalismus zu verwickeln.“ Unter diesen Umständen hat die fortschreitende Zentralisation der Verwaltung zwar die Macht, aber nur wenig die sittliche Tüchtigkeit des Beamtentums gehoben. Wohl aber hat sie in hohem Grade die Verantwortlichkeit und das Interesse an den öffentlichen Dingen in weiten Kreisen der Bevölkerung erschlafft.

Wir haben gesehen, über wie ungeheure materielle Mittel das Finanzamt verfügt. Mit einem Ausgabebudget von weit über 300 Millionen Rubel wird ein Beamtenheer von hunderttausenden unterhalten. Das Verkehrsministerium gebot schon im Jahre 1899 allein auf den Staatsbahnen über 339.000 Bedienstete.*) Nimmt man die Domänen und Forsten, die Post und Telegraphie und andere Regalien hinzu, so mag die Summe der im Zivildienst des Staates stehenden Personen weit über eine Million hinausgehen.

Wir haben gesehen, dass 57 Prozent des Einnahmebudgets durch staatliche Verwaltung aufgebracht werden. Der Staat ist Eigentümer von zwei Fünftel des russischen Erdbodens, und zwar allein in dem europäischen Russland, die endlosen asiatischen Domänen und Apanagengüter gar nicht gerechnet.**) Ist das meiste davon auch Waldland, so bleibt immer noch genug Kulturboden übrig, um den Minister der russischen Domänen zu dem Verwalter des größten forst- und auch landwirtschaftlichen Betriebes der Welt zu machen. Der Staat ist ferner Unternehmer in Eisenbahnen, Branntweinhandel u. s. w. Der Gewinn, den er aus seinen Unternehmungen zieht, füllt den Staatssäckel, aber vermindert den Erwerb der Untertanen. Ein Erwerbsfeld, aus dem der Staat solche Summen zieht, und aus dem, wenn es von Privaten gut ausgebeutet würde, vielleicht noch größerer Gewinn erzielt werden könnte, ist dem privaten Erwerbe entzogen. Auf großen Gebieten wird so zu Gunsten des Fiskus das Erwerbsleben des Volkes eingeschränkt.

*) Russische Zeitung für Handel und Industrie, 1901.
**) Vgl. TRUBNIKOW, Die Reichtümer Russlands, T. I, S. 156.


Es ist ein Schritt nach dem sozialdemokratischen Idealstaate hin, der hier gemacht ist. Wollte man die Verstaatlichung weiter ausdehnen, den Tabakshandel, die Zuckersiederei monopolisieren, so könnten die Summen des Budgets noch weiter anschwellen, und man käme der sozialistisch-staatlichen Produktion, der Verstaatlichung der Produktionsmittel, um ein gutes Stuck näher. Allein man darf sich darüber nicht täuschen, dass der Staat, das Volk dadurch nicht reicher wird, dass die Arbeit und das Verdienst aus privaten Händen in staatlich-beamtliche Hände übergeführt, dass die Volkswirtschaft von der Staatswirtschaft aufgesogen und ersetzt wird. Herr WITTE scheint nicht immer und ganz gegen diese Täuschung gesichert zu sein. Die Einführung z. B. des monopolistischen Branntweinhandels mag dem Fiskus vorteilhaft sein, aber sie geht auf Kosten der Bevölkerung und ist also eine Art von neuer Steuer. Wo das Monopol Platz griff, verloren die Kommunen in Stadt und Dorf ihre Einnahme aus der Schanksteuer, die sie von einer im ganzen Reich nach Tausenden zählenden Menge von Trinkanstalten erhoben. Den Ausfall berechnete z. B. die Stadt Moskau auf 100.000 Rubel jährlich und bat um eine Entschädigung, aber vergeblich. Jedes Dorf hatte wenigstens einen, oft viele Krüge, die heute durch die sogenannte Monopolbude verdrängt, ihres Erwerbes beraubt sind. Der Steuerverlust bildet einen großen Ausfall in dem Budget des Dorfes, denn diese Krüge waren oft die Hauptquelle der Einnahmen. Diese Einnahmen der Kommunen also wurden einfach in die Staatskasse übergeführt. Daran schließen sich andere Schädigungen der Steuerzahler zu Gunsten des Staates. Der Fiskus ist bestrebt, die Konkurrenz nicht bloß des privaten Branntweins, sondern auch anderer alkoholhaltiger Getränke einzuschränken. Im Süden des Reiches mehrt sich der Weinbau. Nach einer Zeitungsmeldung („Rossija") hat der Finanzminister neuerdings ein Gesetz beantragt, welches den Absatz von Wein erschweren soll. Die Weinbauern sollen das Recht verlieren, Lokale für Weinverkauf im Groß- und Kleinhandel zu eröffnen, wodurch der Weinbau natürlich leiden, aber der Fiskus auf dessen Kosten sich bereichern würde. Die Verwirklichung dieses Projektes erscheint nicht unwahrscheinlich angesichts der Erfahrungen, die man im Norden mit dem Bier gemacht hat. Dort wurde eine Menge von Krügen in Stadt und Land durch die Entziehung der Schankberechtigung für Bier zur Schließung gezwungen; in Livland allein mussten 600 Krüge, die bedeutende Einnahmen abwarfen, geschlossen werden, wodurch der Verkehr, besonders des Frachtfuhrwerks, im Winter sehr erschwert wird, das unterwegs keine Unterkunft mehr findet. In den drei baltischen Provinzen war der Bierkonsum sehr bedeutend, und der Verlust, den die Besitzer der Krüge und der Brauereien durch jene Maßregel erleiden, ist entsprechend groß, da keine Entschädigung gewährt wird. Der Vorteil ist wieder auf Seiten des Branntwein verkaufenden Fiskus. Im inneren Reiche, wo weder Bier noch Wein gebräuchlich sind, herrscht der fiskalische Branntwein ohne Konkurrenz. Noch eine Gefahr aber drohte dem staatlichen Ausschank, nämlich die Mäßigkeitsbestrebungen. Sie wurden offiziell gefördert, ja das Ministerium der Finanzen selbst rief eine Zentralleitung, ein Mäßigkeitskuratorium, ins Leben. Die Trunksucht sollte offiziell bekämpft werden, es sollten Teebuden errichtet, Vereine gegründet werden und dergleichen. In jedem Kreise wurde ein Komitee mit einem Vorsitzenden aus dem Adel ernannt, das gegen die Trunksucht arbeiten soll und unter dem Gubernialkomitee steht. Im Lande aber werden diese Bestrebungen durch die Beamten desselben Ministeriums eifrig bekämpft, den Komitees werden Hindernisse bereitet. Oft und an vielen Orten hat die Bevölkerung selbst versucht, der Trunksucht zu steuern, indem sie um Abschaffung oder Verlegung der Monopolbuden petitionierte. Hier ein Beispiel von vielen: Das Landschaftsamt des Wolkower Kreises im Gubernium Charkow petitionierte, wie in dem offiziellen Blatt des Guberniums zu lesen war, darum, dass hinfort keine fiskalische Branntweinschenke in den Dörfern auf den Kirchenplätzen und in den Straßen, wo sich Kirchen, Schulen, Gemeindeverwaltungen befinden, errichtet werden möge. Die wüsten Szenen trunkener Volkshaufen sollten möglichst fern von diesen Anstalten gehalten und der Neigung, den Weg zu Kirche, Schule, Gemeindeverwaltung zu verfehlen, vorgebeugt werden. Die Petition gelangte durch das Gouvernements-Landschaftsamt an das Minister-Komitee und wurde dort abgelehnt. Das Interesse des Fiskus dominiert, aber das Interesse des Volkes leidet, die Mäßigkeit macht Rückschritte. Der Nationalökonom BUCH gibt an, dass im europäischen Russland in der Periode der Monopolisierung des Branntweinhandels von 1895— 1900 durchschnittlich jährlich 24 1/3 Millionen Eimer Branntwein verbraucht wurden gegen rund 23 Millionen im vorhergehenden Jahrfünft,*) wobei man die zunehmende Verarmung im größten Teil der Bevölkerung nicht außer acht lassen darf. Der offizielle Bericht des Reichs-Kontrollhofes über das realisierte Budget für 1900 macht folgende Angaben: Der Branntwein hat dem Fiskus in diesem Jahre 316.807.550 Rubel eingebracht, d. h. um etwa 6 1/2 Millionen mehr als im Vorjahre und um 24 Millionen mehr als veranschlagt war. Davon kamen 14 Millionen aus den Provinzen, wo der Verkauf monopolisiert war. Das Monopol scheint auch hiernach, trotz aller Missernten und Armut, den Konsum des Alkohols zu heben, dem Fiskus zu nützen. Der Finanzminister gibt zur Bekämpfung der Trunksucht etwa ein Prozent vom Reingewinn aus dem Branntweinhandel her, um sich ein moralisches Mäntelchen umzulegen, wodurch der Eifer etwas verdeckt werden könnte, mit dem man die Ausbreitung des Branntweintrinkens fördert. Die Moral wird geschlagen und der Monopolschnaps siegt.

*) „Europ. Bote", Oktober 1901.

Diese rein fiskalische oder rein finanzielle Behandlung der Einnahmequellen zeigt sich auch auf anderen volkswirtschaftlichen Gebieten. So wird bis heute noch in einem Ackerbaustaate wie Russland ein so hoher Zoll auf Eisen und auf landwirtschaftliche Maschinen gelegt, dass der Bauer ohne Radreifen fährt und der Landwirt die Maschinen doppelt so teuer bezahlen muss, als sein Konkurrent im Westen.

Die Einfuhr von Kunstdünger ist mit einem Zoll belastet und die Ausfuhr eigener Düngemittel wird begünstigt; Knochenmehl, Ölkuchen werden in erheblicher Menge produziert, aber fast ganz ins Ausland verkauft, zu größerem Wohl der Handelsbilanz. In einem Lande, wo die Bestechlichkeit traditionell ist, wird dem Beamtentum alles wirtschaftliche und alles geistige Leben in die Hand gegeben. Handel und Industrie sollen gehoben werden, und kein Kaufmann kann einen Bahnwagen für seine Waren erhalten ohne Bestechung, kein Kaufmann weiß, ob seine Lieferung morgen oder nach 4 Wochen an ihre Bestimmung gelangen wird. Die Waren verderben unterwegs in Massen, die Unordnung in der Verwaltung der Staatsbahnen ist beständig und für den Handel sehr störend. In Russland wird alles und jedes in den Strudel bürokratischer Aufsicht, staatlicher Einmischung und Verwaltung hineingezogen. Die einzigen größeren Reedereien für den Außenhandel, die sogen. Freiwillige Flotte und die Donau-Schifffahrts-Gesellschaft, kosten dem Fiskus große jährliche Zuschüsse und stehen tatsächlich in halbstaatlicher Verwaltung. Die letztgenannte Gesellschaft soll den russischen Handel auf der Donau fördern ; aber der Handel ist so gering, dass, obwohl sie nur Fahrzeuge mit einem Gehalt von im ganzen 281000 Tonnen besitzt, es ihr an Fracht fehlt Der Staat aber zahlt dieser Flotte jährlich 312.000 Rubel Zuschuss. Die Hafenabgaben, die bisher den Kassen der Hafenplätze zuflössen, sollen verstaatlicht werden, wogegen der Staat die daraus bestrittene Erhaltung der Häfen übernimmt „Aus der Gesellschaft des Roten Kreuzes," seufzt NOWIKOW, „ist ein Departement der Wohltätigkeit mit Abteilungen und Revisoren gemacht worden. Die Wohltätigkeit ist in Petersburg zentralisiert worden." Jedes öffentliche Wirken gleitet unversehens in die Hände der Beamten, hier, weil es schlecht geleitet wird, dort, obgleich es gut geleitet wird. Dazu treibt ebenso sehr von oben das herrschende System selbstherrlicher Bürokratie, als umgekehrt das Bedürfnis und die Gewohnheit der oberen Volksschichten, beim Staat Versorgung zu suchen, die Regierung zu fortlaufender Vermehrung des Tschinowniktums drängt. Die Tausende verarmter Edelleute, die Tausende hungernder Popensöhne und Beamtensöhne betteln um Stellen, und die Regierung schafft welche durch Verstaatlichung privater und kommunaler Arbeit Ausgleich, Assimilierung, Vereinfachung, kurz Uniformierung geben dazu leicht den Grund, oder doch die Begründung, selbst den Vorwand her. Aber die Volkskraft erschlafft dadurch immer weiter, die Unredlichkeit in der Verwaltung wächst und die Regierung vermag trotz Bahnen und Telegraphen immer weniger ihr Beamtenheer in Zucht zu halten. Die übertriebene Bürokratisierung führt notwendig zu einem Zustande von Anarchie, der von oben bis unten heute spürbar ist Zentralisation und Uniformierung gehen überall Hand in Hand ; es sind Mahlsteine, zwischen denen die Selbsttätigkeit und die Selbständigkeit des Volkes zerrieben werden.

Wie viel freier, selbständiger, die Arbeitskraft, die Unternehmungslust, die Selbsttätigkeit des Volkes mehrender Erwerb ist denn noch übrig? Man denkt sofort: frei ist die Landwirtschaft Allerdings, die ist frei, nur dass sie vom Staat als Maschine zur Erhaltung der Handelsbilanz verwertet, im übrigen aber vernachlässigt wird.

Ebenso gewaltsame Fortschritte hat die Verstaatlichung auf geistigem Gebiete gemacht.*) Alexander II hatte im Jahre 1863 ein Universitätsstatut erlassen, das nach dem Vorbilde der Universität Dorpat die Verwaltung und Besetzung der Universitäten in die Hand der Lehrkörper legte. Aus einem persönlichen Zusammenstoß zwischen den damals mächtigen Leitern der ,,Moskauer Nachr." KATKOW und LEONTJEW und dem Rat der Moskauer Universität ergab sich am Schluss der 70 er Jahre ein Feldzug dieser Männer und der hohen Häupter der Reaktion gegen die Freiheiten der Universitäten, der mit der völligen Knebelung der Lehrkörper durch das neue Statut von 1884 endete. Seitdem werden alle Lehrstühle vom Minister besetzt, die Studenten stehen unter der Aufsicht der Polizei, die Lehrpläne werden ministeriell vorgeschrieben, die korporativen Bande unter den Dozenten sind aufgelöst und der Professor wurde ein ebenso abhängiger Mandarin wie andere Staatsdiener. Die Folge war, dass die selbständigen, die oft tüchtigsten Kräfte sich vom Eintritt in das Lehrfach zurückhielten, und dass der ohnehin schreiende Mangel an wissenschaftlichen Lehrern noch künstlich genährt wurde. Und was die weiteren Folgen der staatlichen Eingriffe sind, sehen wir daran, wie die Unruhen an allen Hochschulen damit ein Ende keineswegs genommen haben, dass man die Universitäten ihrer Freiheiten beraubte. Seit dem Sommer 1901 scheint ein völliger Umschlag sich vorzubereiten. Aber was der neue Minister der Volksaufklärung in Aussicht stellt, das ist doch nur wieder Uniformität, wenn auch flach liberale, und steht in hartem Gegensatz zu dem System, welches die Herren WITTE und SIPÄGIN vertreten.

*) Vgl. die vortreffliche Schrift: Russland am Vorabend des 20. Jahrhunderts, Berlin 1900, STEINITZ. (Russisch.)

In die Justiz hat das bürokratisch-zentralistische Prinzip gleichfalls einen Einbruch vollführt. Ich bemerkte schon, dass die Unabhängigkeit, die den Gerichten durch die Verfassung von 1863 gewährt wurde, die besten Elemente des Landes diesem Beruf zuführte und ihn moralisch so weit läuterte, wie es in Russland wohl noch nie in einem staatlichen Beruf geschehen ist. Die untere Instanz der Friedensrichter und ein ständiges Glied der zweiten Instanz waren Wahlämter und erfüllten ihre Pflichten im ganzen zu allgemeiner Zufriedenheit. Da „erfuhr, wie es in der obigen Schrift heißt, Russland eines schönen Morgens zu seiner Überraschung, dass die Friedensrichter, man wusste nicht warum, abgeschafft und durch Landhauptleute ersetzt werden. Das war einer der unerklärlichsten Akte der Gesetzgebung, denen man in der Geschichte begegnet." Diese anerkannt gute Institution wurde, es war im Jahre 1889, „ohne allen Anlass zum Fenster hinausgeworfen und durch die vollste Willkür ersetzt.“ Denn die Landhauptleute sind nicht Wahlbeamte, sondern werden von der Regierung ernannt, und zwar sollen sie vorzüglich aus dem Adel ernannt werden. Das neue Gesetz erklärte sogar diesen letzten Umstand für den Beweis dafür, dass diese Reform der besonderen Gnade des Zaren für den Adel zu danken sei. „Es ist klar“, sagt unsere Schrift, „dass der Zar auch in diesem Falle glatt betrogen wurde", wie es ihm schon bei dem Erlass des Universitäts-Statuts von 1884 ergangen war, als einige Minister unter Führung des Oberprokureurs POBEDONOSZEW mit verteilten Rollen einen Schwank vor ihm aufführten, in dem dieser kirchliche Würdenträger, scheinbar das Reformprojekt verteidigend, unterlag, den Monarchen aber dadurch zu der tröstenden Erklärung brachte: „Sie sehen, die Majorität ist gegen Sie, ich muss das Statut bestätigen." Der schlaue Jesuit der Orthodoxie lachte sich ins Fäustchen, denn das Statut war wesentlich sein Werk.

Für das Amt eines Landhauptmannes ist keinerlei Qualifikation der Vorbildung erforderlich. Die Landhauptleute üben die untere Justiz und die untere Verwaltung aus, sie sind allmächtig gegenüber den Bauern, sehr mächtig bei allen Wahlen der Landschaften. Man zählte ihrer im Jahre 1900 in 36 Gubernien 2012, von denen 880 ihre Bildung in Militärschulen empfangen, 473 Universitäten besucht hatten.*) Wenn auch die Landhauptleute sich vielfach bewährt haben, so gehören sie doch zu dem großen Heere abhängiger Tschinträger und verstärken die Zentralisation. Das Wahlrecht ist für diesen wichtigen untersten Verwaltungsposten den Ständen genommen. „In den russischen Regierungssphären“, sagt obige Schrift, „herrscht das Streben, alles umzustülpen und bis auf den Grund niederzubrechen." „Die unlängst erst angepflanzte Rechtspflege droht von dem Antlitz der russischen Erde wieder zu verschwinden." Indessen darf zur Ehre der Justiz hinzugefügt werden, dass in den oberen Instanzen, namentlich im Senat, heute noch das Recht seinen Schutz, den letzten freilich, gegen die Willkür der Ämter findet. Dorthin hat sich der Rest von Selbständigkeit, Gewissen und Mut geflüchtet, wie ehemals in Frankreich in die Parlamente.

*) „Russkoje Bogatstwo" (Russ. Reichtum) April 1901.

Über die religiösen Verfolgungen ist man in Deutschland einigermaßen durch die Presse, durch die Schriften des Grafen Leo Tolstoi und anderer unterrichtet. So wenig Hang das russische Volk zur religiösen Unduldsamkeit zeigt, so ist doch die Leitung der Staatskirche bemüht, die Unduldsamkeit zu schüren. In den Berichten des Oberprokureurs POBEDONOSZEW an den Monarchen werden die fremden Konfessionen stets beschuldigt, die Orthodoxie auf alle Weise zu schädigen, zu verfolgen, was eine einfache Verdrehung der wirklichen Lage ist. Der Synod, die kirchliche Zentralbehörde, hält sein Heer von Kirchenbeamten, die Weltgeistlichen, in finsterer Unwissenheit, aber in äußerem Gehorsam. Die Weltgeistlichkeit hat als Stand aus der früheren Abgeschlossenheit noch eine starke ständische Tradition überkommen. Aber die Popensöhne üben, wie man annehmen muss, einen zersetzenden Einfluss auf die Geistlichkeit selbst aus, von der sie stammen, und kommt es einmal zu einer ernsten Volksbewegung, so wird man diese misshandelten Dorfgeistlichen wahrscheinlich auf der Seite ihrer Söhne und nicht des Synods finden. Denn der Synod ist eine staatliche Behörde wie irgend ein Ministerium, nur dem Monarchen gegenüber mächtiger als jeder Minister. Von einem in den Mitteln so wenig bedenklichen Manne wie POBEDONOSZEW geleitet, so despotisch zentralisiert, setzt sich diese Behörde nicht nur dem heute in den höheren Klassen so weit verbreiteten Verlangen nach Gewissensfreiheit entgegen, sondern treibt seit dem Tode des der Duldsamkeit geneigten Zaren Alexander II die Regierung zu den harten, oft grausamen Maßnahmen, von denen wir hören, und die dem russischen Volksgeiste widersprechen.

Die Leichtigkeit, mit der heute, dank der Eisenbahnen und Telegraphen, alle Dinge aus den entferntesten Provinzen zur Beurteilung und Entscheidung nach Petersburg gebracht werden können, macht, dass alle Dinge einfach dorthin strömen, und dass umgekehrt an der Zentralstelle wie als selbstverständlich bestimmt wird, was in jedem Dorf zu geschehen hat. Die Bestimmung ist oft völlig der Wirklichkeit widersprechend, völlig sinnlos, oft auch undurchführbar, noch öfter aber bleibt sie ohne Erfolg aus Trägheit der unteren vollziehenden Instanzen. Aber im ganzen ist die Folge davon eine gänzliche Erlahmung der provinziellen Selbsttätigkeit und ein stumpfes Erwarten aller Bewegung von dem zentralen Anstoß. Und im Zentrum wird die Unfähigkeit, die provinziellen Dinge richtig zu sehen und zu leiten, immer größer, je mehr die Masse des Arbeitsstoffes sich anhäuft.

Hier ein Beispiel aus einer russischen Zeitungsnummer der letzten Zeit („Russk. Wedom.“), dem man ähnliche täglich anreihen könnte: „Wie aus den Daten über die Konzessionierung von industriellen Etablissements in den beiden Hauptstädten während der Jahre 1896—1900 hervorgeht, sind die Angelegenheiten wegen Errichtung von Wurstmachereien, Schlosserwerkstätten, Schmieden, Etablissements zur Reinigung von Kleidern, Kartonnagenwerkstätten und Spitzenklöppeleien, in denen nicht mehr als ein Arbeiter beschäftigt war, vor das Finanzministerium gelangt, also „Angelegenheiten“, welche ihrem Wesen nach nicht einmal der Konzession der niederen Behörden bedurften. Wie komische Dinge sich tatsächlich ereignen, ersieht man aus der Angelegenheit der Konzessionierung einer Färberei mit einem Lohnarbeiter, deren Abwasser auf fünf Wredo (Eimer) monatlich taxiert war. Die Entscheidung dieser Angelegenheit zog sich ungefähr ein Jahr hin: nach und nach wurde sie der Polizei, dem Landschaftsamt, der Medizinalverwaltung, dem Gouverneur und endlich dem Finanzminister unterbreitet. Ebenso ernste Schwierigkeiten werden den landwirtschaftlich-technischen und hausindustriellen Etablissements bereitet, bei deren Konzessionierung man von denselben Prinzipien ausgeht wie bei Fabrikunternehmungen mit Tausenden von Arbeitern.“

Ein Beispiel dafür, wie die Zentralregierung außer stände ist, die Menge des Arbeitsstoffes trotz des ungeheuren Beamtenheeres zu bewältigen, liegt in dem Schicksal vor, dem die Volkszählung von 1897 verfallen ist. In fünf Jahren hat die zur Verarbeitung des gesammelten Materials niedergesetzte Kommission nichts von sich hören lassen, außer, dass sie des Stoffes nicht Herr werden könne. Sie hat in diesen fünf Jahren 4 Millionen gekostet und nichts veröffentlicht. Aber der zentralistische Eifer ist groß genug, um jede Mitarbeit provinzieller Kräfte abzulehnen. Die livländischen Stände unterhalten in ihren Kanzleien tüchtige und praktisch bewährte statistische Abteilungen, weshalb sie die Regierung um Überlassung des auf Livland bezüglichen Materials der Zählung zur Verarbeitung baten. Die Regierung hätte damit wenigstens für Livland ein Werk erlangt, das zum Muster hätte dienen können, und hätte es kostenlos erlangt. Die Bitte wurde aber abgeschlagen: solcher Separatismus wird nicht geduldet Durchblättert man einige Nummern des offiziellen Reichsorganes, des „Regierungs-Boten", so muss man über die Tätigkeit des Zaren staunen. Da stand im Frühjahr 1899 in dem „Zirkular für den Rigaschen Lehrbezirk" folgender „Allerhöchster Befehl“ zu lesen: „Se. Maj. der Kaiser hat auf den alleruntertänigsten Bericht des Verwesers des Ministeriums der Volksaufklärung unterm 15. Oktober 1898 Allerhöchst genehmigt, die Schülerin der siebenten Klasse des Revaler Mädchengymnasiums Sinaida Koshewnikow wegen äußerst schwacher Gesundheit von dem Unterricht in der deutschen Sprache zu befreien." Hiernach müssen die zwölf Arbeiten des Herkules als ein Kinderspiel erscheinen gegenüber der Arbeitslast, die auf dem Zaren von Russland liegt.

Endlich noch ein Beispiel von der „papierenen Verwaltung“ des Riesenreiches. Jemand hat einmal ausgerechnet, dass, wenn einer der Minister eine Reise ins Ausland antritt und beendet, die Behörden des Reiches von diesem Ereignis durch amtliche Schreiben in Kenntnis gesetzt werden, deren Summe sich auf 17.000 beläuft.

Bei der maßlosen Anhäufung der Macht in den zentralen Ämtern und der ebenso maßlosen Konzentration der Geschäfte ist es unvermeidlich, dass innerhalb des Ringes dieser zentralen Ämter ein ziemlich anarchischer Zustand herrscht Ministerium steht gegen Ministerium, man sieht Bündnisse zwischen zwei oder drei Ministerien gegen andere sich schließen, in dem einen wird despotisch, im anderen fast revolutionär regiert. Das Ministerium der Volksaufklärung oder des Unterrichtes hielt an einer soldatischen Disziplin im Schulwesen fest, womit natürlich chronische Unruhen in allen höheren Lehranstalten verbunden waren, bis endlich der Minister, Herr BOGOLEGOW, ermordet ward. Zu derselben Zeit wurden die vielen dem Finanzministerium unterstellten Schulen in liberaler Weise geleitet. Und dieser selbe Finanzminister ist im übrigen ein diktatorisch denkender Herr, schlägt die Landschaften zu Boden, erlässt Dekrete auf Dekrete, durch welche über Ausgaben und Einnahmen ganzer Klassen von Staatsbürgern verfügt wird, gerade wie seine Kollegen vom Innern und vom Kriege auch. Die Justiz hat sich nach allen Seiten gegen die Willkür der übrigen Ressorts zu verteidigen, die Landwirtschaft kämpft mit den Finanzen, das Innere mit der Volksaufklärung. Und alles versichert, die zarische Selbstherrlichkeit schützen zu müssen.

Vor etwa drei Jahren ereignete sich folgendes:*) Der jetzige Minister des Innern SIPÄGIN war Chef der Bittschriftenkanzlei des Kaisers. Er reichte bei seinem Herrn ein Projekt ein, in dem auseinandergesetzt wurde, das Wesen der Selbstherrschaft bestehe darin, dass der Herrscher die Möglichkeit habe, alle Sachen zu entscheiden und eine Stätte der Zuflucht für das Volk zu sein. Daher solle der Chef der Bittschriftenkanzlei das Recht erhalten, alle Bittschriften in Sachen privater Natur oder in Bezug auf Sachen, die bei Verwaltungsämtern oder Gerichten anhängig sind, anzunehmen und vermittelst einfachen Vortrages beim Monarchen zur Entscheidung zu bringen. Herr SIPÄGIN wäre, wenn sein Plan die Billigung des Reichsrates und des Kaisers erlangt hätte, Diktator geworden. Man sieht aber aus diesem Vorgange, welche Stellung der gegenwärtige Minister des Innern zu den anderen Ressorts, ja zu Senat und Reichsrat im Grunde einnimmt. Das sind eben Zustände, die aus der Hypertrophie des Gehirns, wie man die Verteilung der Kräfte im heutigen Russland bezeichnen kann, notwendig sich ergeben. Und vielleicht hat auch der Verfasser der genannten Schrift recht, wenn er die Regierungszeit Alexanders III beschuldigt, demoralisierend auf die obersten Kreise der Regierung gewirkt zu haben. „In Russland“, meint er, „war der moralische Stand der höchsten Sphären der Regierung niemals hoch; aber unter Alexander III sank er so, dass es alle Wahrscheinlichkeit übersteigt''

*) Russland am Vorabend des 20. Jahrhunderts.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland, Kulturstudie um 1900