Elftes Kapitel. Mittelklassen. Stadtwesen, Schulen, Revolutionäre, Kunst, Literatur

Es hat im moskowitischen Russland niemals ein Bürgertum im europäischen Sinne gegeben, keine Städte mit staatlicher oder auch kommunaler Selbständigkeit und mit Gewerbe und Handel treibender, aber auch kriegstüchtiger Einwohnerschaft. Daran sind nicht etwa die Mongolen, denen man in Russland alles historische Übel gern in die Schuhe schiebt, schuld gewesen, sondern wieder, wie an so vielen anderen Dingen, ihre Erben und Nachfolger in der Macht, die Großfürsten von Moskau. Vor ihrer Zeit, als 72 Fürsten und ein paar Stadtrepubliken, die einzigen Bürgerschaften in unserem Sinne, die es in Russland gegeben hat, sich in den Besitz Russlands teilten, wuchsen Städte empor, gerade wie in Deutschland oder Italien auch, gefördert von diesen Fürsten, oft in regem Verkehr mit dem Westen. Das Großfürstentum Moskau brach das alles nieder, die Fürsten mit ihren Städten, die Republiken mit ihrem freien, nach europäischer Art geordneten Bürgertum. Gleichheit und — Knechtschaft für alle kam an die Stelle.*) Wo heute alte Mauerruinen sich um eine russische Stadt herziehen, da lebten vor 500 oder mehr Jahren die jungen Schösslinge eines Städtewesens; wo es keine solchen mittelalterlichen Ringmauern gibt oder gab, da konnte sich der Handwerker oder der Händler nicht gegen Adel und Fürsten halten. Bürgertum des Mittelalters ist unzertrennlich von Turm und Mauer, und als nach den Fürsten auch die Mauern und mit ihnen die Freiheiten, die Privilegien von Naugard und Pleskau fielen, da waren die Kulturkeime des Landes zerstört, aber die Fundamente zu dem Prunkbau gelegt, den wir heute sehen.

*) Ich habe das des Näheren ausgeführt in dem Buche „Wie Russland europäisch wurde." Leipzig, Veit & Comp.


Hinderlich der Bildung eines Bürgerstandes ist in Russland nächst der moskowitischen Despotie mit ihren Handelsmonopolen die Natur des Landes gewesen. Landmangel treibt den Bauer heute in die Stadt und trieb ihn schon vor Jahrhunderten dahin. In Russland war und ist Landmangel nicht vorhanden; wird es dem Bauer heute zu enge, und stirbt er nicht lieber an Hunger, so macht er sich nach Sibirien oder in die Kirgisensteppe auf; vor 600 Jahren brauchte er so weit nicht zu wandern, um sich auf neuem Boden anzusiedeln; als dann Moskau die Schollenpflichtigkeit und endlich die Leibeigenschaft durchführte, konnte der Bauer die Scholle nicht mehr gegen die Stadt vertauschen. Nur die Flüchtlinge, die der zunehmende Druck und endlich das barbarische Wüten Peters des Großen zu Zehntausenden über die Grenze trieben, hätten vielleicht im Süden städtegründend die äußeren Bedingungen für bürgerliche Organisation gehabt, wenn sie nicht, mit tatarischen und türkischen, polnischen und russischen Nachbarn in fortwährender Fehde lebend, sich dem Kriegshandwerk ganz hätten hingeben müssen. Die Ansiedelungen der Kosaken zeigen aber von Hause aus Züge, die nur äußerlich andere sind, als wir sie beim russischen Bauer sonst finden. Der demokratische Geist ist beiden gemeinsam, und was die Kosaken auszeichnet, der Freiheitssinn, ist die Frucht der Freiheit selbst. Die Ssetsche der Dneprkosaken, dieses befestigte Lager unbeweibter Krieger, dessen Glocke gleich der von Naugard durch lange Zeit hin die Kosaken zur Beratung rief, deren Obrigkeit vom Volk gekürt wurde, hätte bei einem andern Volke vielleicht zu städtischen Lebensformen geführt Glocke und Ssetsche sind noch heute die Wahrzeichen der Privilegien der Freiheit, deren sich die Kosaken am Dnepr, Don und Ural erinnern. Sie sind stolz auf die Vorrechte, die ihnen geblieben sind. Oft genug in der Geschichte haben die Aufstände der Kosaken von ihrem Selbstbewusstsein und ihrer Freiheitsliebe Zeugnis abgelegt. Aber es ist die Freiheitsliebe mehr des Nomaden als des Stadtbürgers. Und dieser leichtlebig nomadenhafte Charakter, der dem Russen überhaupt eigen ist, tritt beim Kosaken noch stärker hervor als beim russischen Bauer. Im Kosaken ist der Volks-Charakter sehr rein ausgeprägt, und so hat er bei aller Freiheitsliebe es nie zu Städtegründungen und zu bürgerlichem Leben gebracht. Alle Ansätze zu einem Bürgertum haben sich im alten Russland unter dem Einfluss fremder Elemente gebildet, sei es germanischer im Norden und Westen, sei es türkisch-tatarischer im Osten. Aber sie haben unter dem Drucke Moskaus sich nicht auswachsen können, und erst unsere Zeit scheint mit dem Aufblühen der Großindustrie auch der Entwicklung des Städtewesens eine Zukunft zu öffnen. Seit zehn Jahren haben die industriellen Zentren viel Volks an sich gezogen. Die städtische Arbeiterschaft soll über 2 Millionen zählen, die Menge der technisch geschulten Arbeiter steigt, der Handel beschäftigt eine immer größere Zahl von Menschen, die gelehrten Berufe gewinnen an Bedeutung. Unzweifelhaft hat gegen früher eine heilsame Belebung der mittleren Volksschichten stattgefunden, was schon aus dem starken Andrang zu den Lehranstalten hervorgeht Das alles hat natürlich eine Verstärkung der städtischen Bevölkerung zur Folge. Aber diese findet nicht gleichmäßig im ganzen Reiche statt, sondern nur in den Zentren von Industrie und Handel. An der Spitze steht der industrielle Bezirk von Moskau und Wladimir; außer diesem Bezirk aber wächst das Stadtleben nur an wenigen Punkten, und diese sind fast alle an der Peripherie des Reiches gelegen. Die Ursache hiervon ist vor allem darin zu finden, dass der Binnenhandel seit Vollendung des Eisenbahnnetzes gesunken ist zu Gunsten des Außenhandels. Die großen Handelsumsätze vollziehen sich im Außenhandel mit seiner Massenausfuhr von Rohstoffen und diese konzentriert sich in den Exportplätzen an den Küsten und der Landgrenze, während im Inlande der Ankauf durch Agenten besorgt wird. An denselben Plätzen konzentriert sich natürlich auch der Einfuhrhandel. Eben dorthin nun drängt sich, mit Ausnahme des Moskauer Bezirks, die junge Industrie, einmal weil sie dort mehr freies Kapital findet, als in den Provinzen des Inlandes, dann aber auch weil sie dort dem Auslande als der Bezugsquelle geschulter Werkführer, guter Halbfabrikate, vieler Rohstoffe und Maschinen, auch billiger und stets erlangbarer Kohlen näher ist. Hier liegt wieder ein Beispiel dafür vor, dass große Naturschätze noch nicht genügen, um ein Land reich zu machen, sondern erst die Menschen und deren Arbeit dies bewirken. Die reichen Kohlenlager des Donezbeckens könnten ganz Russland versorgen. Die Regierung wäre wohl bereit, die Verfrachtung in die Ostseehäfen und nach Polen auf ihren Bahnen selbst mit Verlust zu übernehmen; dennoch wurde damit die englische und preußische Kohle nicht aus dem Felde geschlagen werden, weil die Fabrikanten sich nicht darauf verlassen können, von den Bahnen pünktlich bedient zu werden und daher die fremde Kohle vorziehen, auch wenn sie teurer ist als die einheimische.

So haben sich Handel und Industrie rund um das Reich gelagert, in Petersburg, Reval, Riga, Libau, Warschau, Lodz, Odessa, Kiew, Rostow, Baku u. s. w., und in Moskau-Wladimir. Die beiden Residenzen mit 1.200.000 Einwohnern, Warschau mit über 700.000, im ganzen 74 Städte von aber 30.000, 16 Städte von über 100.000 Einwohnern. Das ist an sich sehr wenig für ein Land, das ungefähr zehn mal so groß ist als Deutschland. Von diesen 16 größeren Städten liegen 10 in den westlichen Grenzlanden und an den Küsten der Ostsee und des Schwarzmeeres; im eigentlichen Innern, in Großrussland, nur 2. TRUBNIKOW zählte im Jahre 1895 in Russland, ohne Polen, Kaukasus und Turkestan, 709 Städte, deren Einnahmebudgets zusammen rund 67 Millionen Rubel aufwiesen. Das würde durchschnittlich für die Stadt eine Jahreseinnahme von 94.500 Rubel geben, und wenn man die Millionenbudgets der großen Städte in Anrechnung brächte, bliebe für die große Masse der Städte an Jahreseinkünften sehr wenig übrig. Berlin hatte im Jahre 1897/1898 ein Budget von 88 Millionen Mark, und wenn man die städtischen Betriebe, wie Gas- und Wasserwerke, Schlachthaus, Markthallen u. s. w., hinzunimmt, so beliefen sich seine Ausgaben auf 157,7 Millionen Mark, also weit mehr als jene 709 Städte zusammen auszugeben hatten. Für 1902 beläuft sich das Berliner Ausgabenbudget mit Einschluss der Betriebe gar auf rund 200 Millionen Mark. — Man berechnet die heutige städtische Bevölkerung Russlands im ganzen auf 16.289.000 Köpfe, was 13 Prozent der gesamten Bevölkerung darstellt. Wenn man Berlin mit rund zwei Millionen Einwohnern annimmt, so wäre das der achte Teil von der Einwohnerschaft aller russischen Städte, und nach Berliner finanziellen Bedürfnissen müssten diese russischen Städte also etwa 800 Millionen Rubel statt 67 Millionen jährlich verbrauchen. Aber von diesen 709 Städten haben nur sehr wenige wirklich städtisch-bürgerlichen Charakter. Das will sagen, dass die Städte des Binnenlandes und also auch das bürgerliche Element derselben von sehr geringer Bedeutung sind, während die großen Zentren seit 1895 stark gewachsen sind; Petersburg hat heute ein Budget von 17 Millionen Rubel. Aber das geschieht auf Kosten der Masse der andern Städte. Viele der provinziellen Städte gehen zurück, nicht vorwärts. Andererseits sprießen längs der Eisenbahnen eine Menge neuer Ansätze zu Stadtbildungen auf. In Presse und Literatur wird dieser Neubildung vielleicht bei Abschätzung der Bevölkerung mit städtischem Gewerbe zu wenig Rechnung getragen. Im Februar 1901 schrieb die „Now. Wrema“ folgendes:

„Es ist eine Tatsache, dass augenblicklich nicht nur unsere Dörfer, sondern auch unsere Kreisstädte in Verfall geraten. Zunächst bleibt in den meisten unter ihnen die Bevölkerungszahl schon seit Jahrzehnten unverändert. Nach den Daten der Volkszählung vom Jahre 1897 ist besonders in Zentral- und Nordrussland die Bevölkerungszahl vieler Kreisstädte beinahe ganz dieselbe geblieben und in einigen ist sie sogar erheblich gesunken. Eine so alte Stadt wie Uglitsch ist z. B. von 13.000 Einwohnern auf 9.000 gekommen. In Bezug auf die Bildung steht es in den Kreisstädten vielleicht noch schlechter als auf dem Lande. Eine Kreisschule und im besten Falle noch eine Stadtschule dienen als einzige Bildungsquelle, und zwar nach einem Programm, welches den Anforderungen des Lebens wohl wenig entspricht. Die Postverbindungen sind über die ersten Anfänge nicht hinausgekommen."

Zwei- bis dreimal wöchentlich kommt die Post, und niemand denkt daran, hierin Wandel zu schaffen, obwohl die Einrichtung einer täglichen Verbindung ganz geringe Mittel beanspruchen würde. „Keine Bibliotheken, keine Lesehallen, kein Theater! Und wenn auf Initiative eines Lehrers in dem geräumigsten Gebäude der Kreisstadt, dem Gefängnis, Vorlesungen mit Nebelbildern veranstaltet werden, so kommt das schon in die Zeitungen. Gesellschaftliches Leben ist nicht vorhanden. In sehr vielen Städten gibt es nicht einmal Klubs, und dort, wo sie existieren, dienen sie der örtlichen Intelligenz, die manchmal durchweg aus verzweifelten Trinkern besteht, als noble Schenken. Die Städteordnung vom Jahre 1879, welche diesen Städten zur Hebung ihrer Selbsttätigkeit verliehen ward, ging ihnen über die Kräfte und musste der vereinfachten Städteordnung von 1894 Platz machen. Der Verfall macht sich auf Schritt und Tritt bemerkbar: die Straßen sind mit Gras bewachsen, die Zäune schief, halb in Trümmern stehen die Häuschen der Kleinbürger da, hier und da sind ihre Fensterscheiben zerbrochen, überall sieht man unbebaute Plätze ... der Handel und die städtischen Einnahmen sinken merklich und hoffnungslos. Alles, was für die städtische Wohlfahrt geschehen ist — irgend welche Brücken und städtische Institutionen — , gehört längst entschwundenen Tagen an, vergrast oder bedarf ernstlicher Remonte. Was den Handel betrifft, so sind „städtische Kaufhallen“ die einst voller Leben waren und nun ganz verlassen daliegen, durchaus keine Seltenheit."

Als eine der Ursachen dieser traurigen Erscheinungen bezeichnet die „Now. Wr." die Eisenbahnen, welche die Kreisstädte umgangen und neue Handelszentren geschaffen haben. Hauptsächlich aber klagt der Autor des Artikels über die unmäßige Entwicklung der Residenzstädte und der übrigen Großstädte.

Die Städte sind mit Gewerbesteuern, Immobiliensteuern, Militärquartierlast und anderen Abgaben an den Staat schwer belastet. Eine Einnahmequelle nach der anderen wird ihnen entzogen zu Gunsten des Fiskus; die Ausgaben aber für Polizei, Militär, Kasernenbauten werden vermehrt, so dass auch die Residenzen und großen Provinzialstädte trotz ihres Anwachsens in bedrängter Lage sind und ihre dringendsten Bedürfnisse nicht oder nur durch starke Verschuldung befriedigen können. Die kleineren, kreditlosen Städte können nichts für innere Wohlfahrt tun, weil sie kaum so viel übrig haben, um einige Laternen und Schutzleute zu bezahlen. Mehr als durch das Anwachsen der Residenzen wird die Entwicklung des Städtewesens in den Provinzen gehemmt durch den Niedergang der Landwirtschaft, die Verarmung der Landbevölkerung. Wo diese an Wohlstand zunimmt, wie in den baltischen Provinzen, in Finnland, in Polen, da gedeihen und wachsen auch die Provinzial- und Kreisstädte. Wie soll in Gubernien, wo Adel und Bauer bankrott sind, wo alle paar Jahre Hunger herrscht, städtisches Gewerbe blühen? Wer soll vom Städter kaufen? Und eine mitwirkende Ursache dürfte der allgemeine russische Mangel an Selbsttätigkeit, an fester Ordnung in der Arbeit wie in den Bedürfnissen sein. Der Russe ist kein guter Handwerker, von ländlichen Gewerben abgesehen, wohl aber ein guter Kaufmann.

Aber er findet als Kaufmann in der Provinzialstadt mit schlechtem Handwerk und armer Einwohnerschaft wenig Gelegenheit zum Verdienst, da der Außenhandel in den Händen von Agenten der Hafenplätze liegt. Diese Städte produzieren nichts und handeln nicht; es sind passive Körper, Niederlagen von Beamten, Versammlungsplätze des Adels, in denen die elementarsten Bedürfnisse der Landbevölkerung im Kleinhandel befriedigt werden.

Die große Wasserstraße der Wolga wird von 600 Dampfern und Tausenden von Barken befahren, die den Verkehr vermitteln. Aber wie armselig sind die wenigen Städte an dem Ufer! Kasan, Simbirsk, Saratow — Städte ohne Leben, öde Straßen, Gasthäuser ohne Gäste, Museen ohne Kunst, Klubs ohne Geselligkeit — überall Einrichtungen, Versuche ohne Vernunft, Schein ohne Inhalt.

Anders in den großen Städten. Hier konzentriert sich das materielle und geistige Leben in Industrie und Handel, in Universitäten, Mittelschulen, Literatur, Presse. Eine geschlossene Bürgerschaft, korporelle Gliederung gibt es auch hier nicht; die Regierung widerstrebt solchen selbständigen sozialen Gebilden, was sich auch in der Städteordnung von 1879 ausdrückt. Aber die städtische Luft hat doch auch hier einen belebenden Einfluss, die Schulen bringen Gedanken, Kritik, die sich mehrende Menge der für Unterricht, Technik, für den Staatsdienst wissenschaftlich Vorgebildeten schafft eine geistige, eine öffentliche Atmosphäre. Es wäre schwer, den Begriff der „Intelligenz“ zu definieren, wie er heute in Russland umläuft. Die Anhänger des alten Wesens verstehen darunter alle die Leute, die ihnen unangenehm sind als ein unruhiges, neuerungssüchtiges, doktrinäres, auf Bildung und besseres Wissen pochendes Element, bei dem man mehr oder weniger gefährliche Gesinnung oder politische Umtriebe vermuten kann. Jeder Student und jeder, der studiert hat, gehört zur „Intelligenz“ und wird von dem Anhänger alter Sitten und Gegner des aufdringlichen Europa misstrauisch angesehen. Die törichten Unternehmungen der Nihilisten haben den Studenten etwas in Verruf gebracht und eine Missachtung gegen die Intelligenz sich verbreiten lassen, die erst ganz in letzter Zeit durch die steigende Willkür der Beamtenschaft verwischt wird. Man beginnt zu fühlen, dass in den intelligenten Elementen doch allein die Kraft und Selbständigkeit zu finden sind, die der Willkür zum Gegengewicht dienen könnten. Die Reform des Schulwesens ist heute die wichtigste Tagesfrage.

Nach dem Voranschlag des Budgets sollen für 1902 im ganzen an staatlichen Mitteln für das Unterrichtswesen aller Ressorts 74,8 Millionen Rubel verwandt werden. Davon wird etwa die Hälfte von militärischen und anderen Fachschulen beansprucht; den bürgerlichen Mittelschulen kommen nur 10 ½ Millionen, den niederen Schulen rund 9 Millionen zu gute. Das sind geringe Summen für 126 Millionen Menschen. Man berechnete bisher die Staatsausgaben für Volksbildung auf etwa 40 Kopeken pro Kopf.*) Für 1902 würden sie nach der Angabe des Ministers auf 59 Kopeken steigen. Aber diese Ausgaben kommen nur zu geringem Teil den mittleren und niederen Volksschichten zu gute. TRUBNIKOW gibt die Zahl aller Schulen im Reich auf 78.699 an, die „Moskauer Nachrichten“ auf 79.934. Die Staatsmittel kommen jedenfalls einer sehr geringen Zahl der oberen Lehranstalten aller Art zu gute und werden immer spärlicher, je tiefer sie hinuntersteigen. Aber der größere Mangel besteht in der Qualität dieser Schulen. Der russische Lehrer erfüllt weitaus nicht die Ansprüche, die man etwa bei uns in Deutschland an Professoren, Gymnasiallehrer, Kreisschullehrer, Elementarlehrer stellt. Er ist wissenschaftlich oberflächlich vorbereitet, er ist pädagogisch gar nicht vorbereitet. Mit Ausnahme eines Teiles der Lehrer an den Hochschulen fehlt es den Lehrern an allgemeiner Bildung und an dem sittlichen Ernst, der noch wichtiger für dieses Amt ist, als die allgemeine wissenschaftliche Reife. Auch der Lehrer fühlt sich vor allem als Staatsbeamter und sein Blick ist auf den Vorgesetzten, auf die Regierung, auf politische Strömungen mehr gerichtet als auf die geistige und sittliche Erziehung seiner Schüler. Die Zahl russischer, fachlich vorgebildeter Lehrer ist sehr gering, und von der geringen Menge wird ein erheblicher Teil nicht für die russische Bevölkerung, sondern als Sprachlehrer für fremdsprachliche Polen, Balten, Kaukasier u. s. w. verwandt. Dort ist jeder russische Lehrer vor allem Sprachlehrer und nationaler Propagandist, und sein Fach, ob Geschichte, Mathematik oder ein anderes, kommt erst nachher zur Würdigung. Die besten Schulen sind heute noch ein paar deutsche Schulen in Petersburg und die finnischen Schulen, ehemals waren es die baltischen Schulen; sie bedeuten aber sehr wenig für die Schulbildung der russischen mittleren und höheren Volksklassen. Von den 79.934 Schulen des Reiches, die der Staatsleitung und der Kirche unterstellt sind, kommen 12.132 auf das Ressort des Krieges, welches bestrebt ist, bei den Rekruten der elenden Volksschule etwas nachzuhelfen. Am schlechtesten bestellt ist es mit der für das heutige Russland wichtigsten Klasse der Schulen, mit den Mittelschulen. KOWALEWSKI zählt deren für 1899 folgende: 191 Gymnasien, 53 Progymnasien, 115 Realschulen. Es fragt sich nur, was sie leisten. Wir haben in einem früheren Kapitel gesehen, dass die sogenannten niederen Schulen, von der Kreisschule abwärts sich mit 7 Kopeken auf den Kopf begnügen müssen. Die Mittelschulen, Gymnasien, Progymnasien, Real- und Gewerbeschulen (ohne die Fachschulen der besonderen Ressorts) werden mit rund 10 ½ Millionen Rubel bedacht, das macht 8,3 Kopeken auf den Kopf. Für den gesamten Volksunterricht mit Ausnahme der Hochschulen und Fachschulen gibt der Staat demnach etwa 15 Kopeken auf den Kopf oder ein Hundertstel seines Einkommens aus. Ein sehr geringer Betrag in einem Budget, dessen Ausgaben auf den Kopf der Bevölkerung 15 ½ Rubel betragen.

Die Bildung ist in Russland auch in den oberen Schichten weder tief noch weit verbreitet Das Streben nach Bildung ist in der heranwachsenden Jugend um so stärker und allgemeiner. Das junge Russland, hauptsächlich der Mittelklassen, hat Enthusiasmus, Ausdauer, Hochachtung vor dem Wissen. Die russischen Studenten und Studentinnen in Deutschland und der Schweiz zeigen großen Fleiß, rasche Fassungsgabe und eiserne Geduld im Ertragen des äußeren Mangels. Sie neigen zu Überschätzung der eigenen Person und der erlangten Kenntnisse; sie gehen, wie alle Russen, leicht ins Allgemeine und lassen sich, selbst von regem Geist, gern durch Geist blenden. Sie sind von glühendem Patriotismus erfüllt und, wie der Nihilismus gezeigt hat, fähig, für ihre patriotisch-politischen Ideen Energie, Mut, Entsagung aufzuwenden. Ihr stürmischer Eifer hat, besonders seit der Ermordung Alexanders II, ungeheures Übel, auch in ihrem eigensten Interesse, über Russland gebracht. Die nihilistischen Attentate und die wiederholten revolutionären Nadelstiche haben der regierenden Beamtenschaft die besten Werkzeuge geliefert, um auf der einen Seite die Regierungsgewalt durch Erregung der Furcht an sich zu reißen und auf der anderen ihre Gewalt zu vermehren. Allein es wäre ungerecht zu leugnen, dass der Zustand des Landes notwendig zu einer Auflehnung patriotischer, schwärmerischer und opferbereiter Köpfe gegen die bestehende Ordnung herausfordert. Solche Köpfe finden sich am ehesten in der von einiger Schulbildung gehobenen Jugend, und es gesellt sich dazu die Rücksichtslosigkeit, die weder von Amt, noch Familie, noch Besitz gehemmt wird. Die drakonischen Maßregeln Alexanders III haben den kopflosen, die realen Verhältnisse nicht berücksichtigenden Ausbrüchen der revolutionären Jugend Fesseln angelegt. Es ist indessen nicht wahrscheinlich, dass die revolutionäre Gärung dadurch dauernd geschwächt wäre. Viel eher ist anzunehmen, dass die früheren Nihilisten einige ihrer Fehler erkannt haben und Geduld lernten. Ein Hauptfehler in ihrer Rechnung war, dass sie wähnten, das niedere Volk, den Bauer mit sich fortreißen zu können, weil sie sich bewusst waren, für dieses Volk ihr Leben zu wagen. Sie kannten das Volk nicht und mussten erfahren, dass es seine Wohltäter kurzer Hand niederschlug. Unterdessen hat sich in den industriellen Städten eine starke Arbeitermasse angesammelt, unterdessen ist Hungersnot auf Hungersnot über das Land gezogen, und jene Arbeitermassen scheinen den Unruhestiftern nicht mehr so feindlich gegenüber zu stehen, als die Arbeiter der achtziger Jahre. Zudem bemerkten die jungen Umstürzler ohne Zweifel, dass das heutige System bürokratischer Willkür für ihre Ideen besser wirkt, als sie selbst es jemals vermochten. Sie bemerkten, dass, wo im Reiche noch irgend ein Rest von Zufriedenheit aufzutreiben war, alsbald eine amtliche Hand dreinfuhr und dreinfährt, die diesen Rest zerstreut. Sie bemerkten, dass Hunger, Willkür, Unterdrückung aller Selbsttätigkeit, ununterbrochene Beunruhigung durch Verordnungen, durch Aufbauen und Niederreißen, dass maßloser Formalismus und schreiendste Unvernunft in der Verwaltung im Innern des Landes selbst die eingewurzelte duldende Trägheit des Bauern erregt hat, und dass zugleich von Tiflis bis Helsingfors die letzten Winkel nach zufriedenen Leuten durchsucht wurden, um sie unzufrieden zu machen durch Bedrückung in Nationalität, Glaube, Sitte, Recht, Ordnung. Sie mochten endlich die Zerfahrenheit bemerken, die in den regierenden Klassen selbst sich mehrte, neben der wachsenden Bedeutung der industriellen Arbeitermasse. Und so begannen sie denn wieder zu den verzweifelten Mitteln zu greifen, die wenig mit der Intelligenz zu tun haben, aber eine weit verbreitete Stimmung kennzeichnen.

Trotz aller Armut des Adels, der Geistlichen, der Beamten drängt sich die Jugend dieser Stände in anschwellender Menge zu den Schulen und Universitäten. Tausende mussten wegen Überfällung der Anstalten jährlich abgewiesen werden. Die höheren Schulen sind voll von Schülern und Studenten, die auch bei dem leben von Bettlern nicht im Stande sind, ihre Kollegiengelder zu bezahlen und nur durch reiche Spenden privater Wohltäter vor der Ausschließung gerettet werden. Ein starkes Kontingent solcher mittelloser Schüler liefert die Weltgeistlichkeit in den sogenannten Popensöhnen. Seit die Geistlichkeit als geschlossener Stand aufgehoben wurde, seit die Söhne der Popen und Diakone nicht wieder Kleriker zu werden brauchen, wenden sie sich weltlichen Berufen zu und dringen in die Staatsämter. Sie füllen die Mittelschulen und die geistlichen Seminare, sie drängen in Scharen m die Hochschulen. Sie kommen aus den geistlichen Seminaren mit sehr dürftiger Vorbildung, sittlich verwahrlost und bettelarm, aber sehr strebsam und von zäher Ausdauer, hungern sich an den vier ihnen offen stehenden Universitäten durch und ringen sich von da weiter in bürgerliche und staatliche Stellungen hinein. Sie bilden eine feste Masse bürgerlichen Elementes, die bisher die meiste Arbeitskraft gezeigt hat. Sie begannen schon unter Alexander II in dem Beamtentum sich sehr bemerklich zu machen und wurden unter Alexander III, wahrscheinlich durch den Einfluss POBEDONOSZEWs, geradezu bevorzugt. Aus ihnen gehen heute Minister und hohe Würdenträger hervor. An der Spitze dieser Popensöhne mit den phantastischen Namen*) steht der Oberprokureur des heiligen Synods, POBEDONOSZEW, zu ihnen gehörten, wie man sagt, der ermordete Minister der Volksaufklärung BOGOLEPOW, der Finanzminister WYSCHNEGRADSKl. In den oberen Ämtern der Zivil- und der Militärverwaltung wimmelt es von Popensöhnen. Diese Leute haben keine Traditionen, keine ständischen Schranken, sie stehen der Kamarilla der großen Geschlechter fern; sie sind ein belebendes, können aber auch ein gefährliches Element für den alten Beamtenstaat werden. Auch der große und von zelotischem Geist getragene Einfluss, den POBEDONOSZEW seit Jahrzehnten ausübt, lässt die zersetzende Wirksamkeit dieses merkwürdigen Jesuiten der Orthodoxie schon heute deutlich erkennen.

*) Wie sie zu diesen Namen kommen, erzählt sehr ergötzlich der Dorfgeistliche In seinen schon oben zitierten „Erinnerungen" S. 3.

Wenn dieses Element oft ein ebenso unsympathisches Äußere darbietet, wie etwa die Faust im Dorf, so muss man doch zugeben, dass in ihm Kraft steckt, und dass es voraussichtlich eine große Bedeutung für die Zukunft des Landes haben wird. CUSTlNE hat es vor 63 Jahren in seiner revolutionären Bedeutung erkannt, er sagt von ihnen: „Ce sont ces hommes incommodes à l’état . . . . qui commenceront la prochaine révolution de la Russie.“ Wir müssen heute den Scharfsinn dieses geistvollen Franzosen bewundern, indem wir diese Söhne der orthodoxen Kirche an der Arbeit beobachten. Aus ihnen und den Söhnen kleiner Beamten, kleiner Gutsbesitzer, Kaufleute, Handwerker geht die Menge der Revolutionäre, der Nihilisten, aus ihnen aber auch ein großer Teil der fleißigen, vorwärts ringenden, nüchternen, selbständigen Arbeiter hervor, wie man sie heute besonders in der Justiz finden kann. Sie werden vielleicht einmal die Rolle spielen, die den schwachen Händen des alten grundgesessenen Adels jetzt entgleitet. Denn diesem alten Grundadel haben alle die Geldspenden, die er erhielt und noch erhält, nicht geholfen, und ihm ist im ganzen nicht zu helfen, weil er nicht zu arbeiten versteht, und weil er zu schwach ist in dem Wettstreit mit Popensöhnen, Kaufmannssöhnen und ganz besonders mit dem staatlichen Beamtentum.

*) CUSTINE, La Russie en 1839.

Diese von unten emporsteigenden Elemente sind der Gärstoff, der vorwärts treibt und bisher, immer wieder besiegt, die Reaktion hervorrief. In ihnen tritt besonders deutlich der Widerspruch zwischen innerer Unkultur und äußeren kulturlichen Ansprüchen hervor, der stärker oder schwächer sich in allen Volksschichten bemerkbar macht. Da lebt in der Kreisstadt ein Schüler des geistlichen Seminars, der vielleicht ein Jahr lang es in einer höheren Realschule oder gar auf einer Hochschule mit naturwissenschaftlichen Studien versucht hat, dann bei Unruhen sich beteiligt, Tische zerschlagen, Fenster eingeworfen hat, und verwiesen wurde. Er kehrt in die Kreisstadt zurück, wo man lebt, denkt, fühlt wie zur Zeit des heiligen Wladimir, wie vor tausend Jahren, und wird da Kreislehrer. Seine Verwandten, Bekannten, der Kaufmann, der Pope, die noch fest davon überzeugt sind, dass der Hausgeist überall umgeht und dass der heilige Nikolaus neulich den Regen sandte, staunen den jungen Gelehrten an, der über den Hausgeist lacht und von der Elektrizität der Wolken zu reden weiß. Dann aber merken sie, dass er auf bösen Wegen wandelt; er hat sich einen Leichnam verschafft, ihn gekocht, die Knochen gesammelt, zusammengestellt, und da hängt nun das Gerippe in seiner Kammer, ein gotteslästerlicher Gräuel.*) Alles verschwört sich gegen den Jüngling und sein Skelett: es wird gestohlen, geraubt, immer wieder begraben, dann entdeckt, gereinigt, zusammengesetzt, in die Kammer gehängt — des jungen Mannes Mutter ist der Verzweiflung nahe — und alles wegen einer renommistischen Spielerei, die man für sündigen Frevel hält. Es stellt sich heraus, dass er weder an Gott noch an den Teufel glaubt, sogar vor den Heiligen sich nicht bekreuzt, noch dem Popen die Hand küsst; ja, Weihwasser hat er seinem Hunde zu trinken gegeben. Aber der Kreisarzt tritt auf seine Seite, ein Schuster, selbst ein Diakon bewundern ihn, und die Propaganda geht los, nicht nur gegen Aberglaube, Heilige, Dummheit, sondern bald auch gegen Kirche und Staat Das ist die „Intelligenz“, die da in das friedlich wilde Dorf, in die stille Kreisstadt, weiß Gott woher, mit diesem Jüngling herbeigeflogen ist, die den Weibern und den Alten das Treiben des Antichristes verrät, manchem der Jungen aber wie eine göttliche Offenbarung erscheint. Der Jüngling kleidet sich wie seine Eltern und Geschwister in Leinwand und schläft auf Stroh; aber er liest BÜCHNERS „Kraft und Stoff", schwärmt für Stuart Mill und bemüht sich, hinter die Erhaltung der Kraft zu kommen. Weder die Eltern noch die Bekannten verstehen auch nur die Richtung, in der sein Geist sich bewegt, aber man bewundert und ehrt ihn trotz seines brutalen Hochmuts, seiner offenen Verachtung der Eltern, von Sitten, der Kirche und von allem, was den anderen heilig ist Gerade der Realismus im Unterrichtswesen, dem man heute sich wieder, und zwar radikaler als je, zuwendet, bringt ungeheure Gegensätze in das Volksleben. Zu dem aus Glauben und Fühlen bestehenden Leben des Bauern und des Städters passen die harten, kalten Lehren, die Denkweise der physikalischen und chemischen Wissenschaften so wenig, dass sie notwendig wie schwarze Kunst wirken und auch so aufgefasst werden. Nach dem Stande des Volksgeistes müsste man annehmen, dass Zauberwesen und Hexenprozesse sich ausbreiten, wie bei uns im Mittelalter. Aber die äußeren Umstände wandeln diese sozial -intellektuellen Widersprüche in politische Gegensätze um. Auf Schritt und Tritt begegnet man dieser Erscheinung: hier ist volle Wildnis wie zu RURIKs Zeit; ohne jede Brücke fliegen da von Europa her über einen ungeheuren Abgrund die Funken des höchst entwickelten geistigen Schaffens hinein, unverstanden, aber ahnend erfasst von verlangenden, schnell fertigen Köpfen, phantastisch verklärt durch ihre Neuheit, zündend bald hier, bald da, und in der unvorbereiteten Masse Unheil anrichtend. Und dennoch . . . da ist geistige Bewegung, mag sie auch verkehrt und töricht auftreten. . . .

*) Eine gute Schilderung solcher Verhältnisse gibt LESKOW in seiner „Chronik der Kirchendiener".

Alle Jahre wiederholen sich die Unruhen an den Hochschulen, die mit Relegation, Haft, mit administrativem Verschwinden bestraft werden. Die bürokratische Verwaltung nach dem Statut von 1884 hat die Qualität der Lehrkräfte, die niemals ausreichend war, noch herabgesetzt. Das Reich leidet an einem sehr großen Mangel an tüchtigen wissenschaftlichen Kräften, und die Unfreiheit der Hochschulen stößt eine Menge der vorhandenen von dem Lehramt zurück. In einem Lande, das an zu wenig und zu schlechter Arbeit zu Grunde geht, werden nicht bloß die Tagelöhner, sondern auch die Schuljugend durch Vermehrung der Feiertage an der Arbeit gehindert. In dieser Richtung wirkt an erster Stelle wieder der Synod, die Kirche. Im Oktober 1901 erschien in dem Organ des Synods ein Artikel, in dem die Kirchenobrigkeit sich darüber heftig beschwerte, dass Kirchenfeste, wie z. B. im Jahre 1896 dasjenige zur Feier der Enthüllung der Reliquien des heiligen Feodossi, Erzbischofs von Tschernigow, trotz zeitiger Ankündigung in den Kirchen der meisten weltlichen Lehranstalten nicht gefeiert worden seien und die Schüler bei ihren Aufgaben säßen. Dazu kommen die vielen staatlich-dynastischen Feste, dazu endlich die Unterbrechungen, die durch die studentischen Unruhen veranlasst werden, um einen Zustand zu schaffen, der allerdings für westeuropäische Verhältnisse unbegreiflich ist Der Rechenschaftsbericht der Reformierten Kirchenschule in Petersburg verzeichnet für das Schuljahr September bis Juli 1900 auf 1901: 174 Schultage; es wurde also vorschriftsmäßig, nicht etwa freiwillig, in allen mittleren und höheren Lehranstalten an 181 Tagen gefeiert. Nimmt man den für unsere Begriffe völligen Mangel an pädagogischer Leitung, nämlich an mehr als äußerem Formalismus, hinzu, so brauchen wir im Westen nicht zu fürchten, dass die Konkurrenz der Russen in allgemeiner wie in fachmännischer Wissenschaft uns in naher Zeit gefährlich werden könnte.

Sturm und Drang, wo man in diesem Reiche heute hinblickt, natürlich aber am heftigsten in der unreifen Jugend. In jedem Jahre werden die meisten Hochschulen wegen der Unruhen der Schüler für längere Zeit geschlossen. Methode sowohl als Inhalt des Unterrichtes in den Mittelschulen werden immer wieder geändert Polizeiliche Bändigung der Jugend, nicht Ausbreitung noch weniger Vertiefung des Wissens, ist die Hauptsorge der Lehrobrigkeit. Die Ansprüche an die Leistungen der Studenten und Schüler werden herabgesetzt in Rücksicht auf die Gründlichkeit der Kenntnisse, und der Lernende wird doch zugleich überhäuft durch die Menge des Stoffes; die Oberflächlichkeit wird aufs äußerste getrieben. In der Schule treten an die Stelle von Latein und Griechisch, Gesetzeskunde, Rechtslehre, Staatslehre — und man nennt das Realismus, praktische Methode. Es ist in Wirklichkeit nur Verflachung des Unterrichts. Was man anstrebt, ist nicht Mehrung der Volksbildung, sondern Dressur: polizeiliche Dressur und geistige Dressur, aus der der diplomierte Stellenjäger hervorgehen soll. Denn je weiter die staatliche Tätigkeit alles an sich reifst, umso mehr Beamte sind nötig. Nun wird die ohnehin schwache Ausbildung von Kandidaten zu den Stellen durch die steten Unruhen an den Hochschulen sehr erschwert. Zu einer Zeit, wo Staat, Industrie, Unterrichtswesen, Gerichte, Handel — kurz alle Teile des Volkslebens entwickelt werden sollen, wo man das Reich zu kulturlicher Unabhängigkeit emporheben will — da stockt das Herz, da versagt das Organ, welches die dazu nötigen Menschen heranbilden soll. Sollen nicht alle Anstrengungen, eine blühende Industrie, gute Arzte, Lehrer, Beamte zu bekommen, vergeblich sein, so muss das Schulwesen vor allem anderen blühen, ruhig und sicher arbeiten. Würde die Regierung im Sinne Nikolais I oder Alexanders III den Stürmen der Jugend mit noch gründlicherer Repression begegnen wollen, als sie jetzt anwendet — sie könnte es nicht, weil sie sich damit zu einem Feldherrn ohne Offiziere machen würde, weil man für die Entwickelung des Landes heute nicht nur mehr, sondern auch anders vorgebildete Kräfte braucht als früher. Die Lage der Regierung ist durch diesen verzauberten Kreis eine höchst schwierige.

Wenn fast alle öffentlichen Verhältnisse im heutigen Russland ins Schwanken geraten sind, so ist die Krisis, in der das Schulwesen sich befindet, die drohendste. Nicht weil aus dem Fenstereinwerfen eine Revolution notwendig entstehen müsste, sondern weil diese Krisis den ganzen von der Regierung so stark geheizten Staats-Dampfwagen hemmt. Und das jetzt, in einer Zeit, wo von unten her die nach Bildung, nach geschulter Arbeit, nach öffentlicher Betätigung verlangenden Massen wie mit vulkanischer Kraft empordrängen. In dem Maße, wie der Staat immer neue Stellen schafft, fordert diese Masse, sie zu besetzen. Die alte Gesellschaft und die alte Beamtenschaft wird durchsetzt von neuen Elementen. Alles hängt davon ab, wie gut geschult und wie gut erzogen diese Elemente ins Leben treten. Und da kommen sie aus Hochschulen, wo sie wenig Wissen geschöpft, aber viel Unfug gesehen haben. Nicht bloß in den Westprovinzen, besonders den Ostseeprovinzen, ist bereits die Bildung in allen Klassen herabgedrückt worden: im ganzen Reich macht die Bildung der oberen Klassen Rückschritte und weicht einer flachen Halbbildung. Auch wenn man von der freien Bildung der obersten Aristokratie der älteren Zeit absieht, die heute ziemlich verschwunden ist — wo findet der strebsame Russe seit der Reform der Hochschulen unter Alexander III noch die ernste Wissenschaft, die besonders für den Beruf des Lehrers nötig ist? Er muss sie mehr noch als ehedem im Auslande suchen. Was etwa noch an Lehrkräften im Lande ist, verzettelt sich in Beamtenstellen, in technischen Anstellungen u. s. w.; die Hochschulen, die Mittelschulen mit ihrer polizeilich leblosen Organisation sind gar nicht im Stande, das Menschenmaterial zu erziehen, dessen auch nur Herr WITTE für seine Kulturzwecke bedarf. Man geht in der Geistesbildung und im Wissen systematisch, wenn auch streng national, rückwärts, und man will doch zugleich die Leiter der Kultur zu drei und drei Stufen hinanspringen. Unlösbare Widersprüche!

Die Wissenschaft hat in Russland noch kein Heim, wenigstens auf national russischem Boden, und es kann unter ernsten Leuten wohl kaum von einer russischen Wissenschaft, wie sie die nationalen Schwärmer manchmal sich vorzaubern, die Rede sein. Wissenschaft und Kunst sind vom Westen und Südwesten nach Russland eingewandert, wie sie auch nach Deutschland aus West und Süd einwanderten, nur um so viel später. Noch heute lebt alle Wissenschaft in Russland von deutscher, französischer, englischer Arbeit, und die russische wissenschaftliche Literatur besteht aus Obersetzungen oder Kompilationen aus fremden Werken. Selbständige wissenschaftliche Werke von allgemeinem Wert gibt es kaum, und wenn aus nationaler Eitelkeit in den Lehranstalten Lehrbücher russischer Autoren eingeführt werden, so wird damit nur wieder die Jugend in der wissenschaftlichen Bildung niedergehalten. Geschichtslehrbücher wie die von ILOWAISKI und ähnliches können nur zu inferioren Kenntnissen gegenüber den Westländern führen. Der Nationalismus ist eben überall, in Staat, Kirche, Schule, Gewerbe, eines der stärksten Hemmnisse des kulturellen Fortschrittes.

Die Russen sind bis heute Schüler, wollen aber vorzeitig die Lehrer spielen. Sie haben auf dem Gebiet der Wissenschaft nur wenig geleistet, was von allgemeiner Bedeutung wäre. Es gibt nur sehr wenig Gelehrte russischer Herkunft, die in spekulativer oder angewandter Wissenschaft eine in der europäischen Welt bekannte und anerkannte Stellung sich erworben hätten. Der Chemiker MENDELEJEW hat durch seine Ergänzung der fehlenden Elemente in dem System der FRAUENHOFERschen Spektrallinien der Wissenschaft der ganzen Welt einen Dienst geleistet; ob er russischer Herkunft ist, weiß ich nicht.*) Wenn man noch TSCHEBYTSCHEW, LOBATSCHEFSKY, PIROGOW, BOTKIN, SOLOWJEW, BILBASSOW nennt, so ist die Reihe der in Europa einigermaßen bekannten wissenschaftlichen Größen russischer Herkunft zu Ende; und auch von diesen Namen wird vielen hochgebildeten Europäern kaum einer bekannt sein. Seit einiger Zeit ist indessen große Regsamkeit auf verschiedenen wissenschaftlichen Gebieten zu bemerken: die Zahl der jungen Fachgelehrten ist ziemlich ansehnlich und ihre Schriften sind zahlreich genug, um die Zeit absehbarer erscheinen zu lassen, wo Russland nicht mehr völlig von fremdem Wissen wird abhängig sein.

*) Der frühere Professor MENDELEJEW ist jetzt Direktor der staatlichen Aichkammer!

Auch in der bildenden Kunst sind die Russen nur schwach vertreten. Durchwandert man eine russische Kunstausstellung, so entdeckt man unter den Namen der Künstler leicht die starke fremde Beimischung. Die Hälfte der Namen, die man noch vor wenig Jahren in den russischen Abteilungen unserer Ausstellungen fand, gehört Künstlern nichtrussischer Abstammung. Wie in der Wissenschaft von dem Tataren Karamsin an eine Menge Fremder sich unter russischen Namen verbergen, so noch mehr in der bildenden Kunst Der Armenier AIWASOWSKl, der Preuße BRÜLOW, der Jude ANTOKOLSK sind Namen von gutem Klang und gelten in Europa meist für Russen, sind es aber nicht Einem russischen WERESCHTSCHAGlN könnte man Dutzende von Künstlern nichtrussischer Herkunft gegenüberstellen.

Ganz anders steht es mit der russischen Dichtung und erzählenden Literatur. Es gibt wenig gute russische Dramen; GOGOLs „Revisor", GRIBOJEOWs „Verstand bringt Leiden", die Dramen OSTROWSKIs, die Trilogie TOLSTOIs sind gute, aber doch nur Stücke mittleren Ranges. Es gibt aber vortreffliche lyrische und epische Poesie. Mit LERMONTOW und PUSCHKIN steht diese Dichtung in Russland auf gleicher Höhe mit derjenigen westlicher Völker. Aus Charakter und Geist des Russen ergibt sich das Volkslied wie von selbst. Die künstlerische Höhe erreicht der Russe als Erzähler, in Roman, Novelle, Kulturbild, Charakterzeichnung. Er ist von feinem Formensinn, ein scharfer Beobachter und Kritiker; dazu gesellt sich der wunderbare Reichtum der Sprache, die als Volkssprache biegsamer, anpasslicher an den Gedanken ist, als irgend eine mir bekannte lebende Sprache. Man könnte ein wissenschaftliches Werk, man könnte die Pandekten JUSTINIANS oder KANT oder HELMHOLTZ nicht ohne Schaden am Inhalt ins Russische übersetzen: aber bei der Übertragung eines GOGOL, TURGENJEW, TERPIGOREW ins Deutsche bekommt man nur einen Teil, oft nicht die Hälfte von dem in die Hand, was in diesen Werken steckt. Das Russische ist nicht die Sprache des höheren Geisteslebens in der Wissenschaft, es ist Volkssprache und als solche unvergleichlich. Die Schriftsteller wissen die Eigentümlichkeiten, die Beweglichkeit, den Reichtum der Sprache an Formen, Worten, Wandlungen, feiner Tönung meisterhaft zu verwenden. Wer von Natur ein scharfes Gefühl für Sprache und Sprachform hat, wird die überraschende Gestaltungskraft sowohl der Sprache als der Dichter mit Entzücken genießen. Freilich muss er Sprache und Menschen besser kennen, als es durch das Studium einiger Monate oder eine flüchtige Forschungsreise erreicht werden kann.

Die geniale Größe scheint bisher den Russen versagt zu sein, aber sie sind reich an Talent. Der russische Schauspieler ist auf der Bühne so natürlich einfach, so zu Hause, wie der deutsche gezwungen, angelernt, fremd ist Der Russe erzählt einen Roman so einfach, so frei von unserer deutschen Effekthascherei, dabei so wahr und scharf, dass die Wahrscheinlichkeit des Erzählten unwiderstehlich ist Er erzählt umgekehrt die einfachsten Begebenheiten mit einer solchen psychologischen Feinheit, dass man wie von einem Roman gepackt wird. Ich kenne auf dem Gebiet des psychologischen Romans nichts, was DOSTOJEWSKI „Verbrechen und Strafe“ bei uns sonderbarer Weise in „RASKOLNIKOW“ umgetauft, an die Seite zu stellen wäre. Dieser Raskolnikow, der Übermensch, wie Zeit und Sitten ihn geschaffen und wie dann das kranke Gehirn eines NIETSCHE ihn theoretisch verzerrte, ist ein Meisterwerk psychologischer Beobachtung und Schilderung. Gibt es wohl etwas Ergreifenderes, als die Unterhaltung zwischen dem Verbrecher und dem ihn aushorchenden Beamten? Das sind Zeichnungen, die an Feinheit nur selten, etwa im Hamlet, erreicht oder übertroffen worden sind, und diesen Roman rechne ich zu dem Vollendetsten, was in diesem Fache in aller Welt geleistet worden ist. Oder nehmen wir die AKSAKOWsche Familienchronik, die Erzählungen TURGENJEWs: welche wohltuende Einfachheit, Wahrheit, und dabei welche Wärme in der Schilderung von Natur und Menschen! Nehmen wir TERPIGOREWs „Verkümmerung": ich kenne keine Schilderungen aus dem zeitgenössischen Leben, die so reines Material, so zweifelloses Gold dem Kulturhistoriker darbieten können. Und diese einfachsten Vorgänge, diese einfachste Natur russischer Steppe, wie fesselnd werden jene erzählt, wird diese gemalt! Dieser Erzähler aus dem Volksleben finden sich fast mit jedem Jahre mehr ein: so TSCHECHOW, LESKOW, GORKI. Es ist nicht die Sprache des Salons, für die das Russische sich ebenso wenig eignet als das Deutsche. Die französische Causerie kann weder der deutsche noch der russische Plauderer wiedergeben. Aber es ist eine Volkssprache von wunderbarer Kraft, die den Volkscharakter mit großer Klarheit wieder zu spiegeln im Stande ist. Und so hervorragend die Fähigkeit des Gestaltens ist, so groß ist die der Satire, des Verspottens, der Ironie. SOLTIKOW-SCHTSCHEDRIN, GOGOL sind Meister ersten Ranges in diesem Fach. Besonders der erste verspottet die staatlichen Zustände mit einer Schärfe, einem Humor, die man bewundern muss und immer wieder belachen kann. Das Beamtenwesen ist nie ärger gegeißelt worden, als von dieser Exzellenz und Wirklichem Staatsrat, der immer wieder darunter leiden musste, dass er seine Vorgesetzten zum Gegenstande des Gelächters in Stadt und Land machte. Leider ist der russische Tschinownik mit seiner Tätigkeit und Umgebung so eigentümlich russisch, dass die Werke SCHTSCHEDRINs Überhaupt nicht übersetzt werden können, weil man sie außerhalb Russlands nicht verstehen würde.

Der Russe der Mittelklassen ist im allgemeinen nicht der Typus, an dem man dieses Volk messen möchte. Der Bauer im Dorf, der Diener, der Kutscher, der Kaufmann alter Art — sie werden jedermanns Herz leicht gewinnen. In den Kreisen der hohen Aristokratie, besonders wo noch der frühere internationale Geist der Bildung und Vornehmheit nachweht, wird der Fremde sich schneller wohl fühlen, als vielleicht in irgend welchen gleichstehenden Kreisen anderer Länder. Offenheit, Einfachheit, Würde finden sich unter verschiedener Form im Dorf wie im Palast. Der Unterschied der Macht bildet nicht die steifen, einschnürenden Umgangsformen heraus, wie in Deutschland und anderwärts. Kleinlichkeit, die man uns Deutschen so im privaten Leben wie im politischen mit einigem Recht vorwirft, behindert weniger die Bewegungen des Russen. Der Russe bedarf weniger als wir Deutsche der Disziplinierung, der Schulung, um freie und auch gute Manieren zu erlangen; er ist sicher im Auftreten und nicht von der Sorge gelähmt, sich etwas zu vergeben, die man bei uns immer dichter gelagert im Salon findet, je höher man in dem Bau der Gesellschaft emporsteigt. Der Bauer redet jeden, bis zum Zaren hinauf, mit du an, der Diener sagt zum Herrn oft statt Graf bloß Iwan Iwanowitsch, die Stubenmagd redet die Herrin mit Mütterchen Awdotja Pawlowna an. Die obere Gesellschaft Petersburgs und Moskaus ist oder war wenigstens vor 30 oder 50 Jahren eine wirklich vornehme Gesellschaft großen Stils. Im Salon war Fürst TRUBEZKOI nur Peter Wassiljewitsch und reichte dem einfachsten Popow die Hand mit der Anrede „Wassili Petrowitsch". Das gab und gibt noch heute einen äußeren Ausgleich der Klassen, der in die Geselligkeit eine uns nicht geläufige Ungezwungenheit bringt. Aber freilich sind diese einfachen und vornehmen Formen auf die oberste Schicht des Adels beschränkt, bei dem kleinen Landedelmann ist es anders damit bestellt, er ist bequem, leichtlebig, aber nicht kleinlich gegen andere, oft auch gegen das eigene Gewissen. Was die große Masse des Adels, den papierenen Dienst- oder Diplomadel, betrifft, so hat er eben nur eine Dekoration, das Dienstzeugnis erlangt, er ist kein rechter Adel und trägt durch seine Masse nur zur Demokratisierung der Stände bei.*)

*) Edelmann wird er erst, wenn er nach Deutschland kommt und da von Gastwirten und Journalisten ehrfurchtbeflissen mit einem „von" geschmückt wird, worüber er, von der Reise heimgekehrt, mit Recht sich lustig macht.

Sobald man in die Schicht tritt, die zwischen Bauer und hoher Aristokratie liegt, sobald man in das Treiben der geschäftlichen und besonders der Beamtenwelt sich mischt, gewinnt man einen anderen Eindruck. Die Offenheit wird von List, die Einfachheit von Augendienerei zurückgedrängt. Sowie der Russe die Uniform anzieht — und wie wenige sind ohne irgend eine Uniform! — scheint sich seine Natur zu ändern. Er wird innerlich und äußerlich unreinlich; er vertiert seine Selbständigkeit nach oben, seine Unbefangenheit nach unten; sein Gewissen erweitert sich, seine Schlauheit schärft sich, aber an Weisheit gewinnt er nicht. Der auffallende Mangel an praktischer Vernunft, dessen ich beim Adel erwähnte, geht im Beamtentum bis in die höchsten Sprossen der Leiter hinauf. Die Redlichkeit ist sehr wenig widerstandsfähig. Sehr brauchbar, solange er geführt, beherrscht wird, taugt der Russe wenig zum Leiten, zum Regieren. Ihm fehlt außer der praktischen Vernunft die Fähigkeit Maß zu halten. Ihm fehlt vor allem der ererbte Sinn für das Recht. Er kennt kein in den Personen oder Dingen fest gewurzeltes, eigenes Recht, sondern nur Gesetze, und da diese vom Zaren ausgehen, geht ihm alles Recht vom Zaren aus, wie es ja auch der Despotie eigen ist. Der Russe versteht, fühlt gar nicht die Heiligkeit des Rechtes an sich, sondern nur die Heiligkeit des zarischen Willens. Er sieht keinen Rechtsbruch darin, dass der Herrscher heute ein Wort bricht, welches er oder ein Vorgänger gegeben, er versteht es nicht, wenn ein Recht an sich, auch ohne Rücksicht auf den materiellen Nutzen verteidigt wird. Und ebenso unverständlich ist ihm die Heiligkeit des geschichtlichen Werdens: ihm fehlt jeder historische Sinn. Was gestern wurde, wird heute zerbrochen, für die Vergangenheit fehlt ihm das Verständnis und also auch das Interesse. Die Pietät, mit der wir an alten Einrichtungen oder Werken hängen, mit der wir lieber eine unbequeme Burg des 14. Jahrhunderts bewohnen, als ein neues Haus an ihre Stelle setzen; mit der wir uns lieber von einem zopfigen Magistrat regieren lassen, als von einer neuen und vorurteilslosen Behörde, begreift er nicht. Und diese Geschichtslosigkeit lässt ihn bis heute auch schwer begreifen, ganz innerlich empfinden, wie ein Mensch, ein Stand, eine Provinz anders als durch den Willen der Regierung und nach dem geschriebenen Gesetz leben und geleitet werden kann. Ungeschriebenes Recht, Gewohnheitsrecht liegen außerhalb des russischen Rechtsbewusstseins. Es gibt in dem russischen Russland keine Geschichte außer der der Staatsregierung und des Staates, es gibt keine Ortsgeschichte der Stadt Orel oder des Guberniums Charkow, Naugard der Großen, Kiew, Wladimir, Pleskau, selbst Moskau — was weiß denn der Russe, auch der Gebildete, wenn er nicht gerade Gelehrter ist, von der Geschichte dieser für Russland doch so bedeutsamen Orte? Russische Ortsgeschichte findet man allenfalls in Kleinrussland, das seinen Separatismus sich bis heute bewahrt und seine eigenen Dichter und Historiker hervorgebracht hat. Großrusslands Geschichte spielt im Kreml zu Moskau und in den Schlössern Petersburgs, und was die russischen Historiker außerdem erzählen, ist wenig und interessiert wenige. Die Staatsregierung hat sich stets bemüht, etwaige Spuren der Lokal- oder Provinzialgeschichte zu verwischen. So interessiert sich der Russe nicht für seine Stadt oder Provinz, daher hat er keinen Lokalpatriotismus und kein rechtes Gefühl für provinzielle Selbständigkeit. Die wird er auch nicht anders erlangen als im Kampf mit der Zentralregierung, im Gegensatz zum Staat Ohne den Lokalpatriotismus aber, ohne provinzielles Selbstbewusstsein, also ohne Separatismus, wird er nie Freiheit erringen, sondern in Despotismus oder Anarchie stecken bleiben.

Das sind Eigenschaften und Mängel, ob nun ursprünglich nationale oder ob anerzogene, die der kulturellen und besonders der politischen Entwicklung hinderlich sind. Fast alles erscheint in diesem Volke so hilfsbedürftig, so passiv, so ohne eigenes inneres Gewicht, und dabei so phantastisch und unvernünftig, dass man den Zweifel nicht unterdrücken kann, ob es aus eigener Kraft sich von den Fesseln der eigenen Natur und der historischen Erschlaffung werde befreien können. Der Gang, den die Dinge heute nehmen, führt keinesfalls zur Stärkung der Volkskraft. Der einzige Lichtschein, den das Bild gewährt, geht von der Literatur aus, deren Umrisse ich angab. Und von einem Volk, das auf dem einen Gebiet so schöpferisch und so selbständig sich erwiesen hat, darf man annehmen, dass dieses nicht die einzige Blüte sei, die zu treiben es berufen ist.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland, Kulturstudie um 1900
Russland 090. Mitau. Der Marktplatz

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Russland 090. Pleskau (Kurland)

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Russland 091. Riga. Blick vom Hafen auf die Stadt

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Russland 091. Talsen (Kurländische Schweiz)

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Russland 092. Dorpat. Universität

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Russland 092. Reval

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Russland 093. Ein Fliegerunfall (Manöveraufnahme)

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Russland 093. Ein Gardekosak in Paradeuniform

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Russland 093. Russische Feldartillerie (Manöveraufnahme)

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Russland 094. Maschinengewehrabteilung (Manöveraufnahme)

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Russland 094. Sturmangriff (Manöveraufnahme)

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Russland 095. Das erste Riesenflugzeug System Sikorski (Aufnahme 1913)

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Russland 095. Der Zar begrüßt die Kommandeure der Petersburger Garnison

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Russland 096. Ein Sibirjak

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