Dreizehntes Kapitel. Kolonien und Weltmacht

In Russland hört man oft die Meinung aussprechen, Russland sei groß genug, um der Kolonien entbehren zu können. Aber wenn es keine überseeischen Kolonien besitzt, so ist es doch das größte Kolonialreich der Welt durch seine asiatischen Besitzungen, die, an Einwohnerzahl gering, für das Mutterland mehr den kolonialen Charakter tragen, als etwa Indien für England. In Sibirien ist für die Kultur noch alles zu schaffen, in Zentralasien das meiste; unendliche Flächen harren der Bebauung, große mineralische Schätze der Ausbeutung, und seit der Schienenstrang diese Länder dem Mutterlande genähert hat, verstärkt sich der Reiz, den sie auf den Unternehmungsgeist der Privaten sowohl, als der Staatsregierung ausüben. Seit etwa 50 Jahren hat der Staat in den neu erworbenen zentralasiatischen Ländern mit viel Erfolg sich bemüht, Ordnung zu schaffen. Wo ehedem nomadisierende Räuberhorden oder gewalttätige Khane herrschten, reist heute der Handelsmann mit russischer Pferdepost oder mit der Eisenbahn oder auf dem Dampfer in voller Sicherheit Ruhe und polizeiliche Ordnung sind dort in einem Grade eingekehrt, wie sie schwerlich zur Zeit des großen TAMERLAN geherrscht haben. Der Handel mehrt sich, die russische Einwanderung mehrt sich und eine wirkliche Kolonisation hat Wurzel geschlagen, wenn auch der Beamte und der Soldat noch überall vorherrschen. Wo der Russe eine eingeborene Bevölkerung niederer Kultur vorfindet, da versteht er mit ihr sich zu setzen, ohne sie zu vertreiben oder zu drücken; er wird von den Eingeborenen als der Bringer der Ordnung, als Kulturkraft empfunden und erweckt nicht die Erbitterung des Unterlegenen, solange er, solange die Regierung nicht nationalen oder religiösen Kampf heraufbeschwört. Hier vollzieht sich eine gesunde und nützliche Kolonisation.

Mit der Ausbeutung des Erdöls in Transkaukasien waren im Jahre 1900 28 Gesellschaften beschäftigt, die Dividenden bis zu 60 Prozent zahlten. In der reichen Provinz Fergana hat man neuerdings ungeheure Ölmengen unter dem fruchtbaren Erdreich entdeckt. Die Baumwollkultur hat solche Fortschritte gemacht, dass sie im Jahre 1900 schon 7.638.200 Pud Baumwolle lieferte; die schlechte Ernte von 1901 brachte rund 5 ½ Millionen Pud. Schon jetzt kann Russland darauf rechnen, die Hälfte seines Bedarfs an Baumwolle aus Fergana und den anderen Kolonien Zentralasiens zu beziehen. Die Goldwäschereien Sibiriens liefern etwa 40 Millionen Rubel Gold. Wenn man jedoch von dem Golde absieht, so liegt die Ausbeutung der meisten Erwerbsquellen Russisch-Asiens in den Händen fremdländischer Unternehmer. Selbst die Butter, die heute in ganzen Wagenzügen von Sibirien wöchentlich zu den Ostseehäfen herabkommt, um über See zu gehen, wird von dänischen Landwirten produziert. Immerhin bleibt ein Teil des Gewinnes im Lande, und sicheren Vorteil zieht der Fiskus aus der Produktion jener Länder, soweit er sich nicht mit Ausgaben für Bahnen und anderes so belastet, dass der Gewinn durch die Verzinsung verschlungen wird. Die 40 Millionen Gold fließen gegen Entschädigung der Produzenten dem Staatsschatze zu; vom Erdöl wurde für 1901 im Budget eine Steuer von 26 Millionen veranschlagt, für 1902 eine solche von 27 Millionen. Die Ausfuhr von Weizen und Butter aus Sibirien kommt der Handelsbilanz zu gute. Und die Staatsregierung ist eifrig bemüht, die Produktion der kolonialen Länder zu heben. Es werden schon Stimmen laut, die ihr dieses Bemühen als ein Begünstigen der Grenzländer auf Kosten des alten Russland im Vorwurf machen. „Man kann“, rief der uns schon bekannte GOLOWIN neulich aus,*) „überzeugt sein, dass für die künstliche Weckung des wirtschaftlichen Lebens eines Gebietes umso mehr geschieht, je entfernter es ist, je schwächer bevölkert, je mehr von der Natur vernachlässigt. Es ist Zeit, endlich auch an das Zentrum von Russland zu denken.“ Und freilich hat die wohltätige Arbeit in Asien auch ihre Kehrseite.


*) In der Zeitung „Rossija".

Noch vor dreißig oder vierzig Jahren setzte man in Russland seinen Stolz darein, europäischer Kulturstaat zu sein. Heute ist man oft geneigt, mit Befriedigung sich als asiatische oder halbasiatische Macht zu fühlen. Oder ist auch diese Welle schon wieder vorübergerauscht? Wenn man die kulturellen Erfolge abwägt, die Russland nach der europäischen und nach der asiatischen Seite hin aufzuweisen hat, so muss man jenem Empfinden Recht geben. So vergeblich die Anstrengungen gewesen sind, gegen Westen national und kulturell vorzudringen, so zweifellos sind die auf diesem Gebiet im Osten und Süden errungenen Vorteile. Die Eroberung des Kaukasus hat eine neue Welt dem russischen Trieb nach Ausdehnung erschlossen. Hinter dem russischen Soldaten drang der russische Beamte, hinter ihm der Kaufmann in Vorder- und Mittelasien ein, und große Gebiete, die seit Jahrhunderten räuberischen Horden angehörten, wurden für Ordnung, Arbeit und Handel gewonnen.

Die Kräfte, die zu einer extensiven Politik treiben, sind verschieden. Sie fließen aus der Herrschsucht, dem Ehrgeiz großer Eroberer, und erlahmen meist bald, sobald dieser Ehrgeiz schwindet oder der Eroberer stirbt Oder sie fließen aus der im Volk angesammelten expansiven Kulturkraft, und sind dann dauernd wirksam. Die Politik eines TAMERLAN steht in vollem Gegensatz zu der der großen und erfolgreichen Kolonialstaaten. Reiche, die bloß durch die kriegerische Überlegenheit gegründet wurden, zerfielen gar bald; Rom aber hat die Welt lange beherrscht, nicht nur durch seine Feldherren, sondern durch seine Kulturkraft Englands extensive Politik begann mit dem Schutz seiner nach außen drängenden Volkskräfte und folgt seitdem immer seinen Handelsschiffen und Auswanderern als den volkstümlichen Kulturträgem. BISMARCK hat diese Methode für die normale in der kolonialen Politik erklärt, deren Sinn ist, dass alle offensive Politik eine überschüssige Volkskraft zur Voraussetzung haben muss, ohne welche ein Staat wohl Eroberungen machen, nicht aber den Wirkungskreis seiner Tätigkeit zum Wohle des Volkes dauernd ausdehnen kann. Wie wenig England durch Waffenmacht erfolgreich kolonisiert, sehen wir heute in Transvaal; es kolonisiert aber mit unvergleichlichem Erfolg dort, wo es, wie in Australien, ohne Anstrengung der Staatsfinanzen und ohne einen Schwertstreich, durch die freie Betätigung der kulturellen Kräfte seines Volkes vorgeht Die ungeheuren materiellen, intellektuellen und sittlichen Kräfte, die es in Großbritannien in einer Arbeit von Jahrhunderten angesammelt hat, diese sind es, die Australien, Amerika, Indien englisch gemacht haben. Und zwar zum Nutzen, nicht auf Kosten Englands. Denn ohne dieses ungeheure Kulturkapital wäre England an der Hälfte seines Kolonialbesitzes längst zu Grunde gegangen — wenn überhaupt dieser Besitz durch bloße staatliche Macht hätte erworben werden können. Die aufgewandten Mittel bestehen zu einem Teil aus Geld, zum anderen aus Menschen. Wenn wir bedenken, dass Russland seine Bahnen mit fremdem Gelde gebaut, seine Eroberungen, seinen Einfluss in der Türkei, in Persien, in China mit Anleihen und Geldern, die dem inneren Gedeihen sehr viel besser gedient hätten, bezahlt hat und bezahlt, so tritt der Unterschied mit englischem Vorgehen grell zu Tage. England hat seine Kolonien immer aus den Zinsen seines Kulturkapitals an Geld sowohl wie an Menschen erworben und entwickelt Das Gedeihen der administrativen, sozialen, gewerblichen Zustände im Vereinigten Königreich ging stets seinen sicheren Weg neben aller kolonialen Ausdehnung. Für jede neue Landerwerbung fanden sich stets die privaten Gelder und Menschen, ohne dass der Staat an das Volk Ansprüche zu stellen brauchte, die es entkräften mussten. In England nimmt jeder Kaufmann, jeder Bauer in die Kolonie die Selbständigkeit mit, deren er bedarf, um ohne staatliche Beihilfe oder doch unter bloßem staatlichen Schutz auf fremdem Boden zu organisieren und zu kultivieren. Das kann durch keine bürokratische Gewalt ersetzt, noch durch beamtliche Schulung erlernt werden. Deshalb ist die uralte englische Selbstverwaltung die beste Schule des englischen Kolonisten. Der Staat kann nur die äußeren Mauern eines neuen Baues aufführen, die innere Einrichtung, das lebendige Wachstum muss aus dem Volk selbst hervorgehen, um dem Volk nützlich zu werden. Sonst treibt der Staat extensive Politik auf Kosten und zum Schaden des Volkes.

Dies ist der Fall gewesen bei vielen Eroberungen, die Russland seit Peter I gemacht hat Russland hat am besten kolonisiert durch die Kosaken, d. h. durch ein Volk von entlaufenen, von staatlicher Macht befreiten Bauern. Der Süden Russlands ist hauptsächlich durch solche ohne Staatshilfe, ja gegen die Staatsmacht arbeitende Flüchtlinge russisch geworden, und seitdem ist keine russische Erwerbung gemacht worden, die von gleichem Nutzen für das russische Volk gewesen wäre. Hinter den Kosaken und der Freiheit kamen dann seit Peter I die staatlichen Beamten und die Knechtschaft Mit Kosaken und Beamten hat Russland zumeist kolonisiert, da es an einem gewerblichen Mittelstande dazu gebrach. Aber so kostenlos der Kosak den Süden besiedelte und ganz Sibirien für Russland erwarb, so teuer sind neuerdings viele staatliche Kolonisationen gewesen.

Indessen schreitet Russland auf diesem gefährlichen Wege der extensiven Weltpolitik weiter. Mit Aufwand von einer Milliarde ward die sibirische Bahn, mit einer weiteren halben Milliarde werden die Mandschurische Bahn, die Baikalbahn und die Häfen erbaut. Solange Sibirien sich selbst überlassen blieb, kostete es dem russischen Volke nichts. Noch ist die Bahn nicht fertig, und schon sind am Stillen Ozean für Häfen, Befestigungen, Kasernen, Ansiedlungen, Vorratshäuser u. s. w. neue Millionen verausgabt, schon ist die Mobilisierung eines Heeres von 200.000 Mann dort nötig gewesen. Die Erschließung Ostsibiriens, der Bau der Häfen, der Bahnen zieht die Notwendigkeit nach sich, die Flotte zu vergrößern. Die Politik am Stillen Ozean verschlingt alljährlich an Zinsen und Ausgaben so viele Millionen, dass auch der blühendste Handel sie nicht wieder einbringen könnte. Mit 60 Millionen jährlich käme man noch nicht auf die Kosten. Und was bringen Wladiwostok, Port Arthur und die Bahnen ein? Vorläufig fordern sie nur Zuschüsse. Wer bezahlt das? Der russische Steuerzahler. Denn niemand wohl hofft für absehbare Zeit auf eine Verrentung dieser Ausgaben. Diese Ausgaben bringen dem Staat einen Zuwachs an Macht, und sie öffnen große Landstrecken der menschlichen Einwanderung und Arbeit. Aber hat etwa das russische Volk ein Bedürfnis nach Machtzuwachs des Staates oder nach Zuwachs an Ackerland, an Nährboden? Die Staatsmacht ist größer, als dem Volk vielleicht heilsam ist, und zwischen Wolga und Dnjepr verödet der heimatliche Boden aus Mangel an sorgsamer Bearbeitung. Sicheren und schnellen Nutzen werden jene Ausgaben allerdings einer Klasse von Leuten bringen: den Beamten, die dort neuen Boden zu weiterer Vermehrung finden.

Wenn man diese russische Kolonialwirtschaft — denn das ist sie, obgleich kein Ozean die Kolonien vom Mutterlande trennt — mit unserer deutschen Art, unsere Kolonien zu behandeln, vergleicht, so wollen unsere Budgetwächter im Reichstage uns manchmal ein wenig spießbürgerlich vorkommen. Das geldarme Russland gibt drei Milliarden Mark, die es zuvor borgte, für den Bau von Bahnen in seinen Kolonien aus. Unser Reichstag kann es nicht über sich gewinnen, drei Millionen Mark für eine ostafrikanische Bahn zu bewilligen. Aber beide, Herr WITTE und unser Reichstag, könnten voneinander hierin etwas lernen, nämlich Maß zu halten; der eine im Ausgeben, der andere im Kargen.

Als Russland über den Kaukasus nach Mittelasien vordrang, hieß es stets, es sei dazu genötigt durch die räuberischen Stämme, welche die Grenzen beunruhigten und unterworfen werden müssten. Aber Asien ist nicht nur von Räuberstämmen bevölkert; und doch nahm man 1860 das Amurland und ist heute dabei, die Mandschurei in irgend einer Form sich anzugliedern, ein Land von mehr als 900.000 Quadratkilometern, größer als Deutschland und Österreich zusammen und bewohnt von 7 bis 8 Millionen Menschen mongolischer Rasse. Wer wird dort von russischer Herrschaft einen Vorteil haben? Schon hört man von den Kirchen, den Schulen, ja von Lehrerseminaren, die in Ostasien errichtet werden; man spricht von der Notwendigkeit einer ostasiatischen Universität, man errichtet ein mandschurisches orthodoxes Bistum und baut ein Kloster für — Mandschu und Chinesen. Eine Macht wie Russland hat Pflichten gegenüber ihren sibirischen Gebieten, Kulturpflichten, die sie erfüllen muss. Gewiss; nur dass sie noch größere Pflichten gegenüber dem Mutterlande hat, dass das Geld der russischen Steuerzahler daheim bessere Verwendung fände als in Ostasien, und dass diese ein geringes Interesse daran haben, in Ostasien oder Westrussland Tausende von Beamten, Priestern, Lehrern, Professoren zu halten und zu bezahlen. Denn alle diese Leute dienen vielleicht dem Staat und der Vermehrung seiner Macht, nicht aber dem russischen, nach Brot und Bildung schreienden Volk.

In Ostsibirien, vom Baikal an, arbeitet Russland schon jetzt für andere, nicht für sich. Der Chinese ist Arbeiter, Kaufmann, Bankier, alle Geschäfte werden durch ihn oder den ebenso geschmeidigen Koreaner gemacht, und das wird so bleiben, weil niemand es besser als diese Leute machen wird. Der Chinese mit seiner wirtschaftlichen Überlegenheit wird sehr bald der angreifende Teil sein, und Russland wird es schwer werden, sich seiner zu erwehren. Nachdem man die Grenze auf chinesisches Gebiet verlegt hat, wird man bald sich eine russische große Mauer gegen China wünschen. Der Japaner rückt als Kolonist in Menge ein und hat den überseeischen Verkehr in die Hand genommen, der Amerikaner und der Deutsche haben zum großen Teil den Import übernommen, nicht nur von Industriewaren, sondern auch von Lebensmitteln. Die ostchinesische (russische) Handelsflotte arbeitet mit großem jährlichen Verlust. An der Bahn arbeiten polnische Ingenieure. Was bleibt für den Russen übrig, soweit er nicht Soldat oder Beamter ist? Das Land zur Besiedelung freilich. Aber auch damit ist es bisher schlecht bestellt Deutsche, baltische, estnische Landwirte gedeihen in Sibirien. Der Russe bringt nicht die Energie, noch den Fleiß mit, die zu solchen Kolonisationen gehören, und verpachtet die großen ihm verliehenen Ländereien. Russland hat diese Bahnen für Deutsche, Engländer, Franzosen hier, für Amerikaner, Chinesen, Japaner dort gebaut, die sie für ihre Ausfuhr und zum Transitverkehr benutzen werden. Russland selbst wird für den Durchgangshandel die Fracht zahlen, die Verwaltung des Landes bezahlen und die Schutztruppen und Schutzflotte stellen. Im übrigen werden Rohprodukte von dort nach Westen strömen und dem russischen Korn die Preise weiter verderben. Dass Russland aber in Japan, China, Korea sich nicht mit industrieller Ausfuhr festsetzt, dafür wird halb Europa und Amerika sorgen, denen der billigere Seeweg offen steht.

Und zu alledem ist nun der englisch-japanische Allianzvertrag vom 30. Januar 1902 hinzugekommen. Seit 1895 war es wahrscheinlich, dass dies die Folge der Einmischung Russlands in den japanisch-chinesischen Krieg sein werde. Es lag sogar nahe anzunehmen, dass dieser Bund früher würde zum Abschluss kommen, und dass die beiden Seemächte den Ansprüchen Russlands in Ostasien entgegentreten würden, ehe noch die sibirische Bahn den russischen Streitkräften dort zu nutz kommen könnte. Indessen ist die Stellung Russlands auch nach Vollendung der Bahn eine sehr schwierige gegenüber der ansehnlichen japanischen Kriegsmacht, die von England gestützt werden würde. Die Deklaration der russischen Regierung vom 3./16. März 1902 kann die Tatsache nicht verdecken, dass ihre Stellung in Ostasien bedrohlich geworden ist, und es steht zu vermuten, dass sie sich durch einen geheimen Vertrag die Hilfe Frankreichs für den Fall eines kriegerischen Angriffs von selten Japans gesichert hat. Es fragt sich, welchen Preis sie dafür gezahlt hat. Sollte eine gegenseitige Garantie des Besitzstandes in Ostasien der Preis sein, so kann Russland bei den unruhigen Verhältnissen in Südchina sich genötigt sehen, immer weiter seine Machtmittel in diesen wirren Angelegenheiten zu verzetteln, während doch die Einsätze der beiden verbundenen Staaten in Ostasien nicht gleichwertig sind. Geht aber der russische Einfluss in China und Korea durch einen Konflikt mit den Seemächten verloren, so dürfte die Mandschurei unhaltbar werden. Welche Aussichten öffnen sich dann dem ostsibirischen Unternehmen, welche Sicherheit bleibt dann nicht bloß für die Verrentung, sondern für das Kapital selbst, das dort festgelegt ist? Eine Milliarde Rubel schwebt dort in der Luft und ein Sturm kann sie verwehen. Das ist eine koloniale Politik, die sehr weit über die Kräfte des russischen Volkes hinausgeht, eine Politik, die verhängnisvoller für Russland werden kann, als es der südafrikanische Krieg für England war. Durch die Tore, die in die Welt der gelben Rasse führen, drängen sich heute die leitenden Kulturstaaten ungestüm hinein, hastend, mit den Ellenbogen arbeitend, einander scheel anblickend, stoßend, wie in eine eben erbrochene Schatzkammer. Die Gier nach Geld treibt sie alle, und niemand denkt daran, was ihm da drinnen sonst begegnen könnte. Kein Volk steht unserer europäischen Kultur so gegensätzlich gegenüber als das chinesische. Wo der Europäer mit dem Chinesen bisher sozial in engere Beziehung kam, trat der Gegensatz alsbald hervor: der harte Materialismus des Chinesen stieß stets den Europäer ab. Ohne Religion, ohne Moral, ohne Sinn für Wahrheit, für Redlichkeit, für Reinlichkeit — dieses Volk konnte der Engländer in Australien, konnte selbst der freisinnige Amerikaner in Kalifornien nicht ertragen, weil es verderblich auf die sozialen Zustände Kaliforniens einwirkte, und der Chinese wurde als einziger von allen dort verkehrenden Fremdländern in Ausnahmegesetzen gefesselt Wenn der Engländer, der Armenier, der Jude das goldene Kalb verehren — der Chinese tut es noch inbrünstiger, es ist ihm daneben fast nichts heilig, und so ist er sittlich verkommener als irgend wer. Und dieses Volk, dieses Reich soll nun durchaus dem Europäer erschlossen werden, und zwar wieder zu Ehren des goldenen Kalbes, des gemeinsamen Götzen. Der Chinese ist an Arbeitsfähigkeit dem Europäer überlegen, als Händler, als Geschäftsmann auch. Wer wird auf die Dauer der wirtschaftliche Gewinner sein? Wenn wirklich eine Reform in China vor sich gehen, wenn europäische Industrie und Technik und Verkehr dort sich einbürgern sollten, wenn der Zopf und die Heimkehr der Toten und die Verachtung der Fremden und die Misswirtschaft der Mandarinen aufhören, wer wird davon den Nutzen haben? Werden wir uns von der Unmoral der Chinesen verpesten, von seinen billigen Fabrikaten überrennen, von seinen vortrefflichen und zahllosen Arbeitern, die mit 20 Pfennigen täglich zufrieden sind, das Brot vorweg nehmen lassen? . . .

Ich kann diese Aussichten hier nicht weiter entwickeln, sondern will nur sagen, dass Europa besser täte, die Chinesen sich selbst zu überlassen und sich nicht von der Küste ins Innere zu begeben, um China auf zuschließen, um diese Millionen zur Konkurrenz auf wirtschaftlichem Gebiet und zum Hineinströmen in die Länder europäischen Wesens herauszufordern. Geschähe das Letztere, so wäre eine große Gefahr für unsere Kultur heraufbeschworen. Das Unheil wird einmal kommen, aber wir sollten es nicht selbst herbeiwünschen und seinen Gang beschleunigen.

Von allen in China konkurrierenden Staaten hat allein Russland Landgrenze mit diesem Staat Die Nachbarschaft gibt ihm einen großen Vorsprung in dem staatlichen Einfluss auf China. Wenn Russland die Mandschurei in irgend einer Form behält, und wenn sich die Beziehungen zu China beleben, so ist eine starke chinesische Einwanderung nach Russland nur mit Waffengewalt zu verhindern. Wirtschaftlich ist der Chinese dem Russen so sehr überlegen, dass er von diesem Verkehr allein den Vorteil haben wird. Moralisch aber wird er auf den Russen den verderblichsten Einfluss üben. Die Moral der russischen Verwaltung in Ostasien wird schon jetzt nicht hoch anzuschlagen sein. Ein starker chinesischer Einfluss, wie ein lebhafter Verkehr ihn notwendig herbeiführen muss, wird Ostasien zur Hochschule aller Laster für Russland machen. Statt die Mandschurei zu nehmen, täte Russland besser, die mandschurische Bahn an China zu verkaufen. Sonst wird es dahin kommen, dass man in Russland eine Mauer gegen China herbeiwünschen wird, stärker als die, welche einst die Chinesen gegen die Tataren errichteten.

Das Interesse des russischen Volkes berührt die sogenannte öffentliche Meinung wenig. Ihr ist es noch an Ausdehnung der Grenzen des Reiches nicht genug. Sie verlangt nach der Mongolei, vorläufig wenigstens einem Teil derselben, dem westlichen; sie begnügt sich nicht mehr mit einem Protektorat über Persien, sie fordert dringend einen Ausweg zum persischen Meerbusen und einen Hafen daran; sie erklärt endlich Kleinasien und die Euphratländer für russische Interessensphäre und den Bau einer Bahn nach Bagdad und an den indischen Ozean durch Deutsche und Franzosen für eine Verletzung russischer Interessen. Asien ist nicht zu groß für diesen Landhunger. Man gedenkt vielleicht nicht gerade Asien in russische Gubernien zu teilen, aber man will in Asien die Hegemonie haben, und man will den Handel Asiens in die Hand bekommen. Und welches sind denn diese russischen Interessen? Wie groß ist wohl die Zahl der Russen in ganz Asien, wie viel beträgt denn die Summe der russischen Waren, die nach Asien gehen? Russland führte im Jahre 1898 an Fabrikaten im ganzen für 21,2 Millionen Rubel aus, und, wie ich schon früher angab, in der Frist von 1887 — 1899 durchschnittlich jährlich für 25,6 Millionen Rubel. Nach Asien können davon also an Kattunen, Eisenwaren u. s. w. nur für wenige Millionen jährlich gegangen sein. Und nun gar die russischen Handelsinteressen in Südpersien und am persischen Golf. Hat Russland gegenwärtig auch nur das geringste Interesse an dem türkischen Hafen von Koweit? Dort lebt nicht ein einziger Russe und mit jener Küste besteht kein Handel irgend welcher Art. Aber es wurden im Herbst 1901 zwei Kriegsschiffe hingeschickt, um angebliche russische Interessen gegen Engländer und Deutsche dort zu wahren, und man will dort ein Konsulat errichten. Oder welche realen Interessen hat Russland in Abessinien? Und doch wurden diese Interessen unlängst zu einer nationalen Angelegenheit ersten Ranges aufgebauscht. Das ist wirkliche und wahre uferlose Weltpolitik. Sie wurde zwar schon von Peter I getrieben, hat seitdem aber nicht an Nützlichkeit gewonnen, sondern dient nur dazu, Beamte und Streber zu züchten und zu nähren, und wird von Beamten und der Presse deswegen ihrerseits genährt und getragen.

Was ist denn die Macht eines Staates wert? Doch nur so viel, als sie dem Volke Nutzen, bringt Äußere Macht gibt vor allem den Schutz gegen äußere Feinde; darüber hinaus gibt sie Einfluss auf fremde Mächte, und dieser Einfluss wieder schafft Nutzen dem einzelnen Untertan im Verfolgen seiner Interessen in der Fremde, und damit Nutzen dem ganzen Volke. Ist niemand da, dem die Macht in der Fremde nützen könnte, bringt die äußere Macht, der aus ihr fließende Einfluss auf Menschen und Zustände an einem Orte in der Fremde keinem Angehörigen des Staates, der die Macht ausübt, einen Vorteil, so ist diese Macht eben nutzlos, und wenn ihre Erwerbung oder Erhaltung von dem betreffenden Staat Opfer an Geld und Menschenkraft fordert, so ist solche Macht dem heimatlichen Volke schädlich, Verlust bringend. Wer einen Konsul unterhält an einem Platze im Auslande, wo kein Angehöriger des eigenen Staates lebt oder kein Handel mit dem heimatlichen Staat besteht, noch in Aussicht steht, der treibt Verschwendung mit Staatsmitteln. Der Konsul muss sich bezahlen durch den Vorteil, den er Angehörigen seines Staates an seinem Amtssitz sichert; sonst ist er eine Last für das Volk seiner Heimat. Man ist heute nur zu leicht geneigt, das Vorhandensein staatlichen Ansehens und Einflusses an irgend einem fernen Ort oder Land an sich für etwas Wertvolles zu halten, und bedenkt dabei oft nicht, dass solches Ansehen meist von erheblichen darauf verwendeten Kosten abhängt. Man ist stolz, in irgend einem Koweit die Flagge zu zeigen, ein Konsulat in Buschiri den Engländern zum Trotz zu errichten, ohne ein anderes Bedürfnis dazu, als das, der nationalen Eitelkeit zu schmeicheln. Russland hat schon unter dem großen Peter eine Menge Vertretungen im Auslande bezahlt, die nichts einbrachten, sondern nur Aushängeschilder waren mit der Aufschrift: „Es gibt einen Staat, der Russland heißt.“ Jetzt will Russland durchaus an den persischen Golf, und viele Politiker halten diesen Wunsch für durchaus begründet. Aber welche Vorteile stellt denn ein russischer Hafen dort in Aussicht? Solange nicht eine Bahn von dem Kaspischen See oder von Merw zum Golf besteht, offenbar gar keine, denn dort verkehren weder russische Menschen noch Waren. Wird Russland diese Bahn bauen? Wird es wieder hunderte erborgter Millionen für eine blaue Zukunft ausgeben, während das Volk hungert? Und wäre die Bahn gebaut, meint man dann mit russischem Fabrikat die Engländer dort zu schlagen? Man hat wenig Ausfuhrwaren außer Rohstoffen und tut, als habe man das größte Bedürfnis nach Absatzgebieten für Fabrikate; man phantasiert von Interessensphären, wo gar keine Interessen sind. Aber diese große Schwindelpolitik interessiert daheim viele Gernegroße weit mehr, als die langweiligen Hungerer im Lande, die Provinzen ohne Wege, ohne Schule, ohne Arbeit, ohne Leben. Gegen England großtun ist weit befriedigender, als sich mit dem Jammer zu Hause zu beschäftigen, und da man in Persien, in Afghanistan die englische Handelskonkurrenz fürchtet, möchte man die Engländer hindern, sich am persischen Golf festzusetzen. Asien ist indessen nicht dazu da, zu warten, bis in der Zukunft einmal Russland so weit sein wird, es kommerziell zu erschließen und zu versorgen, und der russische Steuerzahler ist nicht dazu da, zu hungern, damit künftige Generationen vielleicht in Vorderasien einmal keine englische oder deutsche Handelskonkurrenz vorfinden. Will man nüchtern die wirkliche Interessensphäre Russlands in Asien umgrenzen, so umfasst sie die zentralasiatischen Länder, deren größter Teil bereits in russischen Händen ist, und außerdem das nördliche Afghanistan und das nördliche Persien mit Teheran und Ispahan. Aus diesen Gebieten zieht Russland einigen Nutzen und kann in Zukunft noch mehr Nutzen ziehen. Daher mag die eben begonnene Bahn Orenburg-Taschkent ein staatswirtschaftlich richtiges Unternehmen sein. Russland holt sich von dort Rohstoffe, vor allem die ihm so wichtige Baumwolle, und es hat sich einen günstigen Markt für industrielle Waren, für Textilwaren, Zucker, Eisen, geschaffen. Dieses Gebiet ist sehr groß und sehr entwicklungsfähig. Niemand tritt ihm dort in den Weg; auch wenn es seine Hand fester auf Teheran, Ispahan, Kandahar, Herat legen wollte, wird England schwerlich zu einem Kriege schreiten, solange es Garantien dafür hat, dass Russland sich auf diese Gebiete beschränken will, und solange Deutschland in dieser Frage auf russischer Seite steht Russland hat schon jetzt einen so starken finanziell-politischen Einfluss in Persien, dass es die Engländer verdrängt hat. Mit russischem Gelde ist die Heerstraße von Rescht am Kaspi bis Teheran gebaut, eine persische Anleihe bei Russland hat russische Zollkontrolle, Kosaken und Beamte ins Land gebracht Das Land ist sehr schlecht verwaltet und bietet sich wie von selbst der russischen Schutzmacht dar. Der Handelsumsatz Russlands in Persien beträgt bereits jetzt etwa 6 Millionen Rubel jährlich. Wie Chiwa und Buchara, so wird auch Persien, wenigstens zum großen Teil, einmal russisch werden müssen. Dann hat Russland von der türkischen bis zur chinesischen Grenze ein Kolonialgebiet, wie es schöner und zugleich bequemer gelegen kein anderer Staat Europas hat, die Türkei etwa ausgenommen. Dieses Gebiet teils zu verwalten, teils wirtschaftlich zu bearbeiten, wird Russlands Kräfte für eine lange Zeit ganz in Anspruch nehmen. Russland ist viel zu schwach, um ohne Schaden seine Kräfte so zersplittern zu können, wie es heute geschieht Die Fabel vom Hunde mit dem Knochen, den er aus Neid verlor, sollte warnen. Ist der direkte Schienenweg von Taschkent über Orenburg nach Moskau erst fertig, so wird man der wirtschaftlichen Unabhängigkeit Russlands, nach der Herr WITTE strebt, um ein Bedeutendes näher kommen. Aber jene reichen Länder erfordern zu ihrem vollen Blühen noch großer Arbeit und großer Summen, die hier besser angelegt wären als in Ostasien. Hier in Turkestan und in Persien liegt eine große Zukunft für Russland. Was aber darüber hinausgeht, das Drohen gegen den persischen Golf, die maritime Stellung im stillen und im indischen Ozean, die Ansprüche in Kleinasien und Mesopotamien — das ist leeres Gepolter, und wenn es mehr würde, ein gefährliches und teures politisches Spiel. Das einzige Interesse, das Russland in Anatolien hat, ist ein rein militärisches, nämlich die Beherrschung der Straße am Südufer des Pontus. Seit sich ihm an der Donau Rumänien in den Weg nach Konstantinopel gelegt hat, wünscht es ungehindert auf dem südlichen Landwege an den Bosporus kommen zu können. Auf diesem Wege aber tritt ihm Deutschland mit der Bagdadbahn nicht entgegen, hat auch, so viel wir wissen, in Konstantinopel dagegen keinen Einspruch erhoben, dass sich Russland das Recht sicherte, jene Straße einmal durch einen Schienenstrang zu verbessern und damit der Residenz des Sultans um ein Bedenkliches schneller zu Hilfe rücken zu können. Russland wird sich an den Gedanken gewöhnen müssen, dass die Türkei nicht mehr ausschließlich russische Interessensphäre ist.

Die übermäßige Weltpolitik birgt außer der Schwächung der Volkskraft noch einen anderen Nachteil in sich. Sie tragt zur übermäßigen Ausdehnung der bürokratischen Gewalt bei Um dieser Weltpolitik willen muss die Omnipotenz des Beamtentums erhalten werden, ohne die sie nicht möglich wäre, eine Omnipotenz, die den im Volk geheiligten Titel zarischer Selbstherrschaft führt, in Wahrheit aber die Herrschaft des weltlichen und kirchlichen Tschinowniktums bedeutet. Um dieser Politik des äußeren Glanzes und der Eroberungen willen raus die staatliche Zentralisation immer schärfer durchgeführt werden, die alle Kräfte des Volkes aus den Provinzen herauszieht und in der Hand der ministeriellen Regierung sammelt Und umgekehrt wird die Zentralregierung zu einer Politik äußeren Glanzes und Scheines getrieben durch das Bedürfnis, die Volkskräfte in der Hand zu behalten, die ihr bei Misserfolgen nach außen hin nicht mehr sicher wären. Denn dieser Beamtenstaat ist so groß an Personenzahl geworden, dass ihm die innere Einheitlichkeit fehlt und immer weiter schwindet, je größer er wird. Ein beträchtlicher Teil des Beamtentums selbst ist stets bereit, sich innerlich kritisch der Zentralgewalt gegenüber als zum Volk gehörig zu fühlen und zu stellen, und er wird das auch äußerlich betätigen, sobald er durch äußere Niederlagen verletzt oder in seinem Bedürfnis nach neuen Ämtern und Erwerb eingeschränkt wird. Jeder neue Landzuwachs in Asien schafft dem Beamtentum neue Weideplätze, wie andererseits jede Ausdehnung der Selbstverwaltung im Innern das Nährgebiet des staatlichen Beamtentums schmälert. Aber hier sind eben auch die Grenzen. Reichen die Volkskräfte nicht mehr aus, die staatliche Weltpolitik zu tragen, bleibt der Erfolg aus, verbreitet sich die Erkenntnis, dass die vom Volk gebrachten Opfer zu groß für den damit erkauften Gewinn sind, so kommt die bürokratische Omnipotenz ins Schwanken. Die russische Bürokratie wird heute von Männern geleitet, die Kraft und den Willen haben, an dem zentralistischen System festzuhalten trotz der bedenklichen Lage, in die alle Klassen des Volkes allmählich geraten sind, und trotz der Missstimmung, die weite Kreise gegenüber der staatlichen Alleinherrschaft ergriffen hat. Man hält in diesen Kreisen die Opfer des russischen Volkes an Steuern und Männern, an Freiheit und Selbständigkeit für zu groß im Verhältnis zu den dafür eingetauschten Leistungen der Bürokratie. Man klagt, Russland, das eigentliche, das russische Russland, verarme von Jahr zu Jahr mehr, während zugleich die Allmacht des staatlichen Beamtentums zunehme. Immer lauter und häufiger hört man Äußerungen in der Öffentlichkeit, die auf einen herannahenden Kampf lokaler Volkskräfte gegen die zentrale Macht des Beamtentums hindeuten. Auf diesen Kampf scheint die Zentralregierung selbst sich vorzubereiten, soweit er nicht schon in vollem Gange ist, indem sie die Machtquellen in Finanzen und Administration aufs äußerste zentralisiert.

So werden die spärlichen Kulturkräfte nach beiden Seiten hin fort und fort vergeudet: in Asien durch zu maßlose territoriale Ausdehnung und ebenso maßlose Ausdehnung phantastischer Interessen; im Westen durch Absperrung gegen den Eindrang fremder Kulturkraft und Kampf gegen die im eigenen Lande vorhandenen fremden Kulturkräfte.

Es gibt Leute, die diesem russischen Volke alle Zukunft in der kulturellen Entwicklung zur Selbständigkeit absprechen. GOBINEAU hat das vor Jahrzehnten von seinem ethnologischen Gesichtspunkte aus getan, und gerade gegenwärtig verbreitet sich diese Ansicht wieder unter denen, die sich nicht auf die Bewunderung äußerer Größe und äußeren Glanzes beschränken, sondern der Leistungsfähigkeit des Volkes nachspüren. Und man könnte in der Tat den Glauben an dieses Volk verlieren, wenn man sieht, wie es stets nach Selbständigkeit und Freiheit verlangt, und wie es unfähig ist, sich ihrer zu bedienen, sobald es sie irgendwo oder in irgendeinem Maße erlangt. Man kann es begreifen, wenn ein Minister selbst an der Möglichkeit verzweifelt, dass das Volk aus eigener Initiative je seine Lebensverhältnisse durch Fleiß, Ordnung, Pflichtbewusstsein fördern werde, und wenn er endlich wieder zu dem alten System, der amtlichen Peitsche, zurückgreift. Aber wenn man sich dazu genötigt sieht, dann müsste man sich auch eingestehen, dass man es nicht mit einem Kulturvolk, sondern mit einem rohen Naturvolk zu tun hat, und man sollte nationale Ansprüche und staatliche Formen vermeiden, die nur auf Kulturvölker anwendbar sind. Man sollte sich klar eingestehen, dass der Russe, wie er heute ist, nicht das leitende, maßgebende Element in einem Reiche sein kann, in dem er nicht nur westeuropäischen Elementen, sondern selbst Finnen und Tataren an Kulturkraft nachsteht. Das aber ist der Zauberkreis, dass dieses Naturvolk von 86 Millionen es nicht vertragen kann, an zweiter Stelle zu stehen, sondern durch äußeren Schein die eigenen Mängel zu verdecken strebt. Mit diesem nationalen Empfinden muss jeder Minister rechnen, und so wird der Russe nicht kulturell gehoben durch die im Lande vorhandenen fremden Elemente, sondern diese werden hinabgedrückt auf den Stand der russischen Leblosigkeit Diese Lage ist allerdings fast hoffnungslos. Überall in Europa hat die nationale Idee sich zu einer Krankheit der Volksseele gesteigert; in Russland bedeutet sie als leitendes Prinzip die Erstarrung, den Stillstand allen Volkslebens. Und ein Minister, der diesem Prinzip zugunsten der Kultur und des Volksrechtes entsagte, müsste, um Erfolg zu haben, ein Staatsmann allerersten Ranges sein. Mittelgrößen werden stets. Im Polizeistaat stecken bleiben, so lange sie an der uniformierenden Zentralisation festhalten.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland, Kulturstudie um 1900
Russland, Im Süden der Ukraine errichteten frohgelaunte Soldaten diesen Wegweiser in die Heimat 1942

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Russland, Reiter

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Russland, Tausende suchen Zutritt zur St. Andreas-Kirche in Kiew 1942

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Russland, Ukrainische Bauernmädchen in dem ehemals polnischen Gebiet 1942

Russland, Ukrainische Bauernmädchen in dem ehemals polnischen Gebiet 1942

Russland, Urochse

Russland, Urochse

Russland, Wieder Prozession in Sowjet-Russland. 1942

Russland, Wieder Prozession in Sowjet-Russland. 1942

Russland, Winter, Pferdeschlitten

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