Achtes Kapitel. Der Bauer (Fortsetzung)

Wenn wir die statistischen Sammelwerke der Landschaften durchsehen, so ergibt sich für viele Gubernien, dass ein Viertel bis ein Drittel der Dorfbevölkerung in Hütten wohnt, die eine Länge und Breite von je 6 Arschin (4 ½ Meter), eine Höhe aber von nicht mehr als 3 Arschin (2 ¼ Meter) haben; und in einer solchen Stube befinden sich oft nicht nur die ganze Bauernfamilie, sondern auch die Haustiere . . . . Die alljährlichen, vom Ministerium der Landwirtschaft herausgegebenen Übersichten zeigen, dass der durchschnittliche Tagelohn der ländlichen Arbeiter im Sommer in der besten Zeit im Rayon der Schwarzerde 27—36 Kopeken ausmacht, im Südwesten Russlands 40—60 Kopeken (80—120 Pfennige).*) Wo noch Hausindustrie besteht, ist der Lohn höher, aber er übersteigt nicht 50 Rubel im Jahr und sinkt bis auf 17 Rubel im Jahr (bei den Töpfern in Perm) herab. Wenn man nun bei dem Landarbeiter die kurze Zeit des sommerlichen Verdienstes und den verdienstlosen Winter in Anschlag bringt, so scheint selbst die Annahme MULHALLs, von der im letzten Kapitel die Rede war, eher zu hoch als zu gering gegriffen: auf der Schwarzerde verdient der Arbeiter im Durchschnitt des Jahres nicht einmal 18—19 Kopeken täglich. Dies mag der Durchschnitt sein, was nicht ausschließt, dass sich der Tagelohn je nach Zeit und Ort weit höher stellt, wenn reiche Ernte oder die Industrie viele Hände verlangen.

*) ISSAJEW, S. 7.


Das Ausgabebudget des Bauern in jenen Gubernien wird von den Forschern mit 50—65 Rubel jährlich für den Haushalt angegeben. Wenn wir nach einer neuen Untersuchung als durchschnittliche Ausgabe der bäuerlichen Familie 63 Rubel 20 Kopeken annehmen, wovon 20 Rubel 44 Kopeken auf die Nahrung entfällt, so ist das, wenigstens für den hier in Frage stehenden beschränkten Landesteil, eine Dürftigkeit, die offenbar Hunger bedeutet. Denn in dieser Summe von 63—65 Rubel sind alle Dinge in Geld verrechnet, deren der bäuerliche Haushalt im Laufe eines Jahres bedarf und von 20 Rubel 44 Kopeken oder 43 Mark kann man auch an der Wolga eine Familie nicht voll ernähren. Die Kopfsteuer und die Salzsteuer wurden freilich schon in der neuen Finanzära unter dem Minister BUNGE aufgehoben, um dem Bauer den Ankauf von Land zu erleichtern, wurde die Bauer-Agrarbank gegründet. Allein so wenig dem Adel mit Gelddarlehen genützt wurde, ebenso selten haben die Versuche Erfolg, dem Bauer zu kapitalistischer Wirtschaft zu verhelfen durch Darlehen oder Steuererleichterung. Wer im Dorfe zu Gelde kommt, wer etwa seine Einlage in der Sparkasse hat, der verdankt das selten der verringerten oder erlassenen Steuer, oder dem Darlehn der Regierung, sondern meist sich selbst, der harten Arbeit und der Ausbeutung des Nachbarn. Aber in den großrussischen Ackerbaugebieten fließt wenig bäuerliches Geld in die Sparkassen; um so mehr in die fiskalische Saugpumpe der Branntweinsteuer. Solange der russische Bauer noch einen Scheffel Weizen zu verkaufen hat, weist er den Branntwein nicht ab. Das verarmteste Dorf findet immer noch Mittel, nötigenfalls in der Gemeindekasse, um Feste zu feiern, d. h. ein paar Eimer Branntwein zu trinken. Es kennt eben andere Freuden in aller Welt nicht, und das Sparen ist dem Bauer nicht anerzogen; im Gegenteil, er ist dazu erzogen, nicht nach individuellem Besitz zu streben. Denn der Privatbesitz war für ihn und ist noch wertlos: vor 1861 konnte der Grundherr ihn jederzeit an sich ziehen, nach 1861 ist die Haftpflicht der Steuergemeinde da, die dem Sparer seine Rubel abnimmt, sei es um Steuern zu bezahlen, die der Nachbar nicht zahlen konnte, sei es, indem die Gemeinde durch Drohungen ihn zwingt, mit seinem Rubel zum allgemeinen Besten herauszurücken. Wenn der ministerielle Budgetbericht für 1902 den seit 10 Jahren konstanten Spiritusverbrauch auf den Kopf der Bevölkerung mit 2 ½ Liter hundertgrädigem Spiritus angibt, so ist das an sich, und verglichen mit dem Verbrauch an Alkohol in anderen Ländern, nicht allzu viel, denn der russische Bauer nimmt Alkohol nur in Form von Branntwein, der westeuropäische außerdem in Wein und Bier zu sich. Jenes vom Minister angegebene Quantum bedeutet aber eine Ausgabe von 3 Rubel 65 Kopeken oder 7 Mark 76 Pfennige, wovon auf die Staatssteuer 2 ¼ Rubel kommen. Das ist verderblich viel für einen Bauer, der, wie man uns sagt, im runden Jahr von nur 63 oder 65 Rubel auf die Familie lebt, und für einen Steuerzahler, der für den Staat ohnehin hungert. Bei einer Kopfzahl von nur 4 Familiengliedern gäbe der Bauer 14 Rubel 60 Kopeken, also fast den fünften Teil seines gesamten Einkommens, für Branntwein aus. Das ist mehr — als ich zu glauben vermag. Mag dieses Verhältnis aber auch zu hoch gegriffen sein, richtig scheint doch zu sein, dass das Verhältnis von Einkommen und Brantweinverbrauch ein höchst ungesundes ist. Was die Regierung an Kopfsteuer nachließ, nimmt sie der Menge des Volkes als Branntweinsteuer wieder ab, und so ändert sich wohl die Methode, nicht aber das Ergebnis: was der Bauer irgend erübrigt, ja mehr als was er entbehren kann, geht durch die Steuerpumpe doch zuletzt in die Kasse des Fiskus. Und die Ursache davon liegt in dem sittlichen Charakter des Bauern, der wahrscheinlich durch äußere Verhältnisse sich herausgebildet hat. In dem öden Leben der Dorfgemeinde, die nicht nur allen geistigen, sondern auch des materiellen Interesses an der eigenen Scholle entbehrt, herrscht natürlicherweise die roheste Gewalt, Polizeistock und Branntwein.

Jene Hütten in den Dörfern, wie ISSAJEW sie beschreibt, wurden meist noch gebaut, als der Leibherr das Holz dazu umsonst hergab, und seitdem immer wieder geflickt, wenn sie nicht abbrannten. Aber inzwischen schwanden die Wälder auch dort, wo vor Zeiten ihrer viel waren, und in dem Steppenlande gab es ja überhaupt keine. Das Holz wurde teurer von Jahr zu Jahr, und dementsprechend wurde das Flicken der alten Hütten teurer. Die Verarmung des Bauern kam hinzu, und so wurden dann die Hütten immer weniger ausgebessert, immer elender, und wurde eine neue gebaut, so war sie aus schlechtem Holz, ärmlicher als ehedem der Bauer sie zu bauen pflegte. „Die Tatsache der Verarmung", sagt NOWIKOW, „springt in die Augen; das ist schon nicht mehr eine Frage . . . . Unterdessen hören wir beständig, dass die wirtschaftliche Lage der Bauern von der landschaftlichen und der staatlichen Statistik untersucht wird, dass Kommissionen ernannt werden, um sie kennen zu lernen.“ Leider lernen die Kommissionen die Lage selten kennen, und tun sie es, so bleibt es doch beim Alten, denn die Regierung hatte andere Dinge zu tun als die Hütten der Bauern auszubessern. So stehen die Hütten an der langen Dorfstraße hin, niedrig, mit Stroh notdürftig gedeckt, dahinter ein Gemüsegärtchen, drüben, jenseits der Straße, jenseits dieser nie gereinigten Kehricht- und Unratstätte, steht dem weniger verarmten Bauern noch ein elendes Wirtschaftsgebäude; kein Baum, kein Strauch weit und breit zu sehen, nur die Kuppeln der hölzernen oder auch backsteinernen, weiß getünchten Kirche heben sich aus dem einförmigen Grau hervor. Tausend bis zu 3000 und mehr Einwohner hat das Dorf; ein paar Läden bieten die einfachen Waren feil, die der Bauer nicht selbst anfertigt; ein Schmied, ein Schuster — und die Monopolbude, wo die Krone ihre Steuer herausdestilliert durch reichlichen Branntweinverkauf. Kein Arzt, keine Apotheke, aber einige „Wissende", quacksalbernde, alte Weiber. Treten wir nun in eine der Bauernwohnungen ein.

„Noch jetzt,'' erzählt unser Landhauptmann*), „wird die Hälfte der Hütten auf schwarze Art geheizt — hat aber je der Landbewohner gesehen, was das heißt? Das heißt, dass morgens, wenn geheizt wird, an der oberen Hälfte der Hütte ein undurchdringlicher Rauch steht, der durch Spalten oder eine besondere Öffnung abzieht, zumeist jedoch durch die dazu geöffnete Thür. Die Bewohner verbringen diese Zeit liegend oder sitzend auf dem Boden, um den Rauch nicht allzu viel zu schlucken. Zwanziggradige Kälte dringt durch die Tür herein. Ist die Heizung beendet, so wird alles geschlossen und in der Hütte wird es heiß wie in einer Badestube. Gegen morgen gefriert oft das Wasser wieder. Vom Rauch sind Wände und Lager mit schwarzem Anflug bedeckt. Hier wohnt die Familie von etwa acht Seelen: der Alte mit der Alten, der verheiratete Sohn, die Tochter, die Kinder. Hier wird gegessen, auf dem Stroh geschlafen; hier gebären die Weiber, spinnen und weben sie; hier müssen die Knaben ihre Schularbeiten machen; hier sind ein Kalb, Lämmer, manchmal Ferkel, Hühner; hier herrscht unerträglicher Gestank, hier leuchtet die Lampe ohne Zylinder oder es gibt auch gar kein Licht, wenn kein Geld da ist, um Petroleum zu kaufen."

*) NOWIKOW, S. 225.


Draußen friert es bei 20° R., aber die Hütte birgt nur zwei Schafpelze, man kriecht auf den großen Ofen, wärmt sich, räumt dann einem andern den Platz und friert drunten auf dem Stroh, oder man nimmt einen der Pelze, geht zur Arbeit irgendwo hin, kehrt nass und frierend abends heim, die Kleider kommen zum Trocknen auf den Ofen, die Hütte dampft davon. Und am nächsten Tage nimmt das Weib den Pelz und geht arbeiten wie heute der Mann. Schmutz überall, denn Seife ist ein Luxus und lange nicht alle können sie haben. Zur Wäsche genügt das Wasser im Bach, und dann zur Reinigung des Körpers sonnabends das Schwitzbad, das Labsal des Bauern. So arm das Dorf auch sei, nie fehlt die gemeinsame Badestube. Und die Nahrung? Leerer Kohl, nämlich heißes Wasser, darin Kohl schwimmt und ein Löffel Hanföl, gekochte Kartoffeln und Weizengrütze — das ist das Mittagsmahl. Wenn man Milch hat, so ist sie für die Kinder; Fleisch gibt es an Feiertagen, ein Huhn zu Weihnachten und Ostern. Oftmals fehlt die Kartoffel, die Grütze — dann ist nur das Schwarzbrot da. Missernte — und auch das Brot fehlt."

Was ist seit Jahrzehnten nicht über die Gesundheitspflege in der Presse geschrieben, in ungezählten Kommissionen verhandelt worden! Vor 200 Jahren war der erste Arzt mit wissenschaftlicher Ausbildung nach Russland gekommen; erst 1861 aber war man soweit gelangt, Kreisärzte in den meisten Kreisen anzustellen; und solche Kreise sind oft von der Größe von Königreichen. Seit 1861 ist es neben der Errichtung von Schulen das Hauptverdienst der Landschaften, dass sie sich bemühten um Anstellung von mehr Ärzten, um Spitäler, um Hebammen. Aber so verdienstvoll ihr Wirken war, wie weit ist man heute gelangt? Nach einer Aufstellung der „St Petersburger Wedomosti" vom Jahre 1899 (Februar) kam in neun landschaftlichen Gubernien ein angestellter Arzt auf 26.740 (Cherson) bis zu 48.800 (Poltawa) Einwohner, durchschnittlich ein angestellter Arzt auf 35.000 Einwohner. Kann der Bauer da an ärztliche Hilfe denken außer in besonders günstigen Verhältnissen? Und wären Arzt und Apotheke nur wenig Meilen entfernt, er hätte nicht das Geld, die Arznei zu bezahlen oder nicht das Pferd, das ihn hinschleppte, oder die alten Sitten lehrten ihn, dass es besser sei, nach der „Wissenden“ zu rufen, oder noch besser zu stöhnen, sich auf den Ofen zu legen und zu sterben. Oder das Weib gebiert; wo? in der kalten Hütte unter der Hand eines unwissenden Weibes; dann muss die Wöchnerin sogleich auf den Ofen, den heißen, bekommt Branntwein zu trinken, und nach drei oder vier Tagen geht es wieder hinaus an die Feldarbeit. Und das Kind? Nun, wenn eine milchende Kuh da ist, bekommt es etwas Milch; ist keine da, so lutscht es an der Zulpe aus Schwarzbrot, die selten gewechselt wird, von Mund zu Mund geht und die Syphilis verbreitet, wie NOWIKOW sagt. Alles wird gegessen, der Durchfall stellt sich ein, bis es endlich stirbt. Da hülfe auch kein Arzt, keine Arznei, kein guter Rat. Man versuche einmal, erzählt unser Landhauptmann, gegen diese wilden Behandlungen der Wöchnerin oder des Kindes anzukämpfen; „ratet einmal, dem am Durchfall leidenden Kinde keine Gurken zu geben — ihr wendet euch ab, und wie das Kind weint, wird man ihm eine Gurke geben. Bemüht euch, ein an einer Frauenkrankheit leidendes Weib zu überreden, dass es sich an die Hebamme wende — um nichts: eine Schande, man wird lachen, dass sie krank sei . . ." „Ist es zum verwundern, dass bei diesen schrecklichen Lebensbedingungen und bei dieser Unwissenheit es eine solche Masse von Kranken an allen möglichen Anämien, Katarrhen gibt, dass fast alle Weiber an Frauenkrankheiten leiden, an Hysterie, dass Kinder und auch Erwachsene wie die Fliegen sterben?“ „Man wird selten eine gesunde Familie finden, die Weiber sind alle krank, mit seltenen Ausnahmen.“ Von anderer Seite*) wird berichtet, die große Sterblichkeit der Kinder komme daher, dass sie mit Brot allein aufgezogen werden; alle Milch werde dort, in einem Dorf des Gubernium Twer, der Käserei des Herrn WERETSCHAGIN geliefert Also wieder wie mit dem Getreide: die so notwendig für die Nahrung erforderliche Milch geht in Form von Käse nach Petersburg oder ins Ausland, und der Bauer ist zu arm, sie für sich zurück zu halten.

*) Sanitäts-Kommission aus dem Gubernium Twer, vgl. NIKOLAI-ON S.73, Anm.

Die Folgen dieser Lebensweise haben sich längst bemerkbar gemacht Die Sterblichkeit nimmt zu und die Vermehrung des Volkes stockt in entsprechendem Maße. Den jährlichen Zuwachs gibt SCHWANEBACH für die elf Jahre von 1885 bis 1897 und für das eigentlich russische Gebiet — Zentrum, Süden, Südwesten und Osten — mit 0,26 Prozent an, während er für das gesamte Reich 1,38 Prozent, d. h. mehr als das Fünffache, für die westlichen Grenzprovinzen 2,2 Prozent, d. i. das 8 ½ fache, beträgt In Deutschland hat für das Jahrfünft von 1895 bis 1900 der Zuwachs 7,82 Prozent, also jährlich 1,56 Prozent betragen, d. h. um 0,16 Prozent mehr als der Zuwachs im russischen Reich und sechsmal so viel, als der Zuwachs im national-russischen Kernlande beträgt Die ehemals gerühmte schnelle Volksvermehrung der Russen ist hiernach vollständig geschwunden und fast wie die Volksvermehrung von Frankreich zum Stillstand gekommen. Die fremdländische Einwanderung in die westlichen Grenzgebiete fällt kaum ins Gewicht, denn ihr steht die Abwanderung aus diesen Gebieten nach Russland, nach dem Innern, gegenüber, die erheblich ist, ohne dass umgekehrt Russen in die Grenzprovinzen einwandern. Andererseits besteht ein großer Teil der nach Sibirien abziehenden Scharen aus Bauern der zentralen Gubernien, denen ihre Landanteile zu klein und zu kraftlos geworden sind, denen es daheim zu eng geworden ist Zu Zehntausenden verlassen sie jährlich ihre Dörfer, um sich in Westsibirien auf frischem Lande anzusiedeln. Und doch sitzen auf dem von Natur reichsten Boden in diesen Gubernien auf dem Quadratkilometer nur 51 (Kursk), 44 (Orel), 41 (Tambow), 46 (Tula), 39 (Woronesch) Köpfe.*) — Ein weiteres Symptom ist die fortschreitende Degeneration des Bauern im Zentrum. Die Rekrutenaushebung gibt alljährlich davon Zeugnis, dass die Körpermaße sich dort verschlechtern; die Klagen wiederholen sich über die Menge der zum Dienst Untauglichen und die Abnahme der Brustweite und auch der Körperlänge. Die ehemals gerühmte Stattlichkeit des großrussischen Bauern ist verschwunden, der russische Rekrut sticht schlimm ab neben dem Rekruten aus den nichtrussischen Provinzen.

*) In Deutschland auf den Quadratkilometer 104.

Wenn man sich ein Dorf mit 2.000 oder 3.000 Einwohnern vergegenwärtigt, die ihre kleinen Landfetzen weit draußen, oft einige Kilometer von ihrer Behausung entfernt, bestellen müssen, die kein Holz zum Heizen, zum Bauen, keinen Stein zu einem Fundament haben, die nie etwas anderes als Stroh auf dem Dach, in vielen Gegenden auch nur mit Dünger verarbeitetes Stroh zum Heizen haben, so wird man finden, dass nur die unselige Feldgemeinschaft an dem übermäßigen Anwachsen der Dörfer schuld gewesen ist. Ohne sie hätten die als Eigentümer wirtschaftenden Bauern die Zersplitterung des Bodens nicht so unvernünftige Maße annehmen lassen, und statt 500 Hofbauern säßen auf demselben Raum heute 50 oder weniger; sie hätten ihre Ackerknechte und wären zufrieden und wohlhabend. Die Wohnhäuser wären besser, die Öfen weniger gefährlich, die Brandschäden seltener. Denn jetzt brennt solch ein Dorf, sobald einmal irgend an einer Ecke Feuer ausbricht, rein ab, es bleibt nichts übrig; und wie leicht bricht Feuer aus in dieser Ansammlung von Zunder und unter einer Einwohnerschaft, die ihren höchsten Genuss im Rausch sucht. Man rechnet, dass für 200 Millionen Rubel an Bauerngut jährlich vom Feuer zerstört wird. Und wiederum, wie darf man sich wundern, wenn in solchem Dorf, das 2.990 Bettler und zehn wohlhabende Dorftyrannen birgt, in dem sich Hütte an Hütte reiht in endloser Einförmigkeit, der Branntwein die erste Rolle spielt? In einem großen Dorf gibt es noch hier und da Läden, ein Gemeindehaus, eine Gemeindeschule; je kleiner das Dorf ist, um so seltener trifft man auf solche Dinge, aber der Krug früher, die Monopolbude jetzt, die fehlen nicht. Jedes Geschäft, das außerhalb der gewohnten Arbeit liegt, jedes Familienereignis, jeder Handel, jede Stundung einiger Rubel an Steuer, die der Gemeindeälteste gewährt, jede Versammlung der Gemeinde zu einer Wahl, zur Beschlussfassung über Äcker, Kirche u. s. w., alles und jedes fordert Branntwein und wird mit Branntwein erledigt. Und da kommen nun noch 150, ja bis zu 170 Feiertage im Jahr hinzu, an denen der Bauer nicht arbeitet, einmal weil er im Winter keine Arbeit findet, dann weil es ihm von der Kirche oder von der Polizei verboten wird, und endlich auch weil es ihm so wohlbehagt. Am Sonntag, da sieht man den Fleißigen noch eher auf dem Felde, wenn die Arbeit drängt; aber die Heiligentage und die „Kronsfeiertage" sind schwer zu versäumen. Und wären das nur Wintertage — da schläft der russische Bauer ohnehin, weil keine Arbeit zu haben ist; aber im Sommer, wo die Arbeit brennt, wo ein solcher Feiertag durch einen unzeitigen Regen die Ernte verderben, durch brennende Sonne die Saat verdorren kann, die gerettet worden wäre, wenn sie 24 Stunden früher in den Boden gekommen wäre — aber zu allen Zelten gibt es Feiertage, und womit soll der Bauer sie denn hinbringen, wenn er nicht schlafen kann und noch einen Groschen im Beutel hat? Auf das baumlose Feld, auf die Steppe hinauspilgern, sich vor dem Dorf mit Weib und Kind ergehen, wie es wohl in deutschen Gauen geschieht? In der brennenden Sonne, ohne Schatten, mit der gering geachteten, kränklichen Frau, den halbnackten Kindern? Ehedem war der Krug der Sammelplatz der Männer; die Jugend suchte den Platz davor zum Tanz auf. Jetzt gibt es nur noch die Monopolbude, in der man nicht zum geselligen Schwatzen sich setzen kann, aus der man die Flasche Branntwein kauft, um sie vor der Tür auf offener Straße zu leeren. Der alte Krug war gefährlich: saß man erst, so war es nicht leicht aufzustehen, man trank mehr als gut war im Kreise der Genossen, man ließ sich vom Krüger verleiten, mehr zu trinken, als man bezahlen konnte, und bald war man tief in der Kreide, und wo, wie im südwestlichen Gebiet es gewöhnlich war, der Jude hinter der Lette [Teke] stand, da ging es dann bald bergab mit Hab und Gut. Die Gefahr ist jetzt geringer, aber dafür ist es auch mit dieser letzten Art von Geselligkeit zu Ende, und es bleibt vom Branntwein nur der Genuss des Rausches übrig. Oder man trinkt daheim in der Hütte, wird dann leicht zum Säufer, und das Weib trinkt mit und die Kinder bekommen auch ihr Teil. Das ist eine Schattenseite der Monopolbude. Wenn in Russland auf den Kopf der Bevölkerung weniger Alkohol verbraucht wird, als in den Kulturländern, in Deutschland, Frankreich, England, so ist der Grund wieder die Armut des Volkes; es reicht bei dem Bauern nicht aus, täglich einen Schnaps zu bezahlen, andere Getränke kann er überhaupt nicht bezahlen. Er trinkt nur bei besonderen Gelegenheiten, oder wenn er gerade zu etwas Geld gekommen ist, oder wenn er seinen „Sapoi“ hat, diese sonderbare russische Krankheit: ein Mann der Wochen, Monate lang das nüchternste, geregeltste Leben geführt hat, greift plötzlich, von unwiderstehlichem körperlichem Drang getrieben, zum Branntwein und verbringt einige Tage lang in ununterbrochenem Rausch. Der Säuferanfall ist vorüber und der Mann ist wieder der fleißige und ordentliche Mensch, der er vorher war. Wäre der Bauer minder arm, könnte er täglich einen Schnaps, einen Krug Bier oder Met genießen, so wäre ihm der Branntwein minder gefährlich, soweit er nicht etwa den anderen Weg ginge, umso mehr zu trinken, je mehr er Geld verdient. So wie er jetzt ist und lebt, in Elend und Schmutz, ohne alle Anregung von Geist und Gemüt, ohne Gelegenheit zu harmlosem Vergnügen, ohne Aussicht auf Erreichung von Besitz und Wohlstand, und doch an die Scholle gefesselt — hat nur der Dorftyrann, die Faust, Glauben an sich und eine Zukunft vor sich: die anderen, die große Masse, lebt ein fast viehisches Leben vom Tag in den Tag, und der Afrikareisende Junker hatte Recht, wenn er in den Negerdörfern des östlichen Sudan mit ihren sauberen Häusern und Straßen, ihren gut genährten und fröhlichen Bewohnern schweren Herzens der russischen Dörfer gedachte. Man versuche nur, jene Neger von russischen Beamten mit Wehrpflicht, Finanzwesen, Polizei und all der anderen Kultur regieren zu lassen — man würde bald diese Wilden nicht mehr zu beneiden brauchen. Steuern und Branntwein würden ihnen bald die Fröhlichkeit vergehen lassen. Und trotz allem ist der russische Bauer von solcher Zähigkeit und Sorglosigkeit, dass auch heute noch, wenn nicht gerade der Hunger oder die Seuche über dem Dorf liegen, man Sommers an Sonntagen Burschen und Mädchen in bunter Tracht froh durch die Flur ziehen oder beim Ton der Ziehharmonika sich im Tanze schwingen sehen kann. Gibt es morgen noch Brot, so ist der Bauer längst gewöhnt, alles in bester Ordnung zu finden.

So fruchtbar das Land der Schwarzerde ist, so weist es doch auch Mängel auf, die einer höheren Kultur große Hindernisse bereiten. Der fette tiefgründige Boden hat weder Grant noch Steine und bedarf mehr als ein mageres Erdreich künstlicher Wege. Da kein Material dazu vorhanden ist, gibt es außer den wenigen Heerstraßen keine richtig gepflegten Wege; was eine Brücke in diesen Gegenden ist, lehrt die bekannte Erzählung, in der der Bauer den vorüberfahrenden und auf der Brücke durchbrechenden Herrn einen Narren nennt, weil er doch sehen musste, dass eine Brücke käme und trotzdem nicht vom Wege ablenkte. Man fährt sicherer neben der Brücke durch den Fluss und weiter in der Richtung der Geleise, die, in Abständen nebeneinander herlaufend, bei Trockenheit dichten schwarzen Staub aufwirbeln, bei Regen zu tiefem zähem Brei werden. — Ein anderes Hemmnis der Kultur bildet der Wassermangel. Meilenweit fährt man dahin, ohne ein Haus, einen Baum, eine Bodenerhebung zu sehen: Alles ist Acker oder Weide, in schmale, lange Bänder zerschnitten oder in endloser gleichförmiger Fläche als Ödland daliegend. Und meilenweit ist keine Ansiedlung, weil es kein Wasser gibt. Da hält man plötzlich vor einem schroffem Hang: in die Ebene geschnitten wie mit dem Messer, scharf und tief, sodass man von ferne keinen Rand, keine Unterbrechung in der Ebene wahrnimmt, dehnt sich vor dem Auge des überraschten Reisenden die enge Schlucht aus, in der ein in der Zeit des Sommers freilich nur dürftiges Bächlein sich fortwindet, das aber mit der Schneeschmelze anschwillt und dann von beiden Seiten die Wassermassen fortwälzt, die, von keinem Hügel, keinem Sumpf, keinem Walde aufgehalten, sich von weit her hier sammelnd, dem Acker eine Menge der fruchtbarsten Bestandteile entführen. Aber hier ist Wasser, und daher liegt zu beiden Seiten des Rinnsals die Zeile der Dorfhütten weithin, manchen Kilometer weit gestreckt, ein Dorf von Hunderten von Hütten, vor den Stürmen durch die steilen Lehmwände der Ufer geschützt. Je mehr die Felder und Wiesen schwanden, um so leichter gewaltsamer und leichter furchten die Wassermassen solche Risse in den Boden, die, sich von Jahr zu Jahr erweiternd, zu Schrunden und Tälern wurden. Diese stets zunehmende Durchfurchung des Landes ist heute zu einem bedrohlichen Vorgang geworden: das Ackerland wird zerrissen, gemindert, die Flüsse werden verschwemmt, und man ruft nach Abhilfe durch den Staat. Schwerlich jedoch wird anders geholfen werden können, als durch Wiederherstellung von Wald und Wiese. Wo der Boden dem Wasser größeren Widerstand leistet, wie in den nördlichen Teilen des Zentrums, da findet sich leichter Wasser auch in der Ebene, und die Dörfer brauchen nicht immer dem Flusslauf zu folgen. In dem Gebiet der Schwarzerde mit dem das Wasser durchlassenden Untergrunde ist der Wassermangel ein Hauptgrund für die Bildung der großen Dörfer mit den entlegenen Äckern, und ein Haupthindernis für weniger zentralisierte Besiedelung. Indessen findet die Verbindung von Dorf und Fluss sich aus anderen Ursachen auch dort, wo es an Wasser nicht gebricht, in der nördlichen Waldzone, die man das Seengebiet nennt. In den Gubernien von Nowgorod, Wologda, Olonetz, Archangel, Perm mit ihren Seen und ihrem Waldozean bilden die Flüsse fast die einzigen Verkehrsstraßen. Hier siedelte sich der Bauer am Flussufer an, um zu Boot seinen Verkehr mit der nächsten, aber vielleicht immer noch 100 bis 300 Kilometer weiten Stadt zu haben, um die Flusswiesen zu nutzen, um oberhalb derselben etwas Acker zu roden. Weiterhin, jenseits des Ackers, beginnt der Urwald, hunderte von Kilometern weit nur von Sümpfen oder Seen unterbrochen, ohne Weg noch Wohnung, nur in winterlicher Erstarrung für den Menschen gangbar. Dort gibt es noch heute große Landstrecken, die so gut wie ohne Eigentümer sind; dort mag jeder sich im Walde ein Stück Land aussuchen, roden, bauen, auch säen und ernten, ohne dass er jemandes Erlaubnis dazu bedürfte. Und entsteht allmählich ein Dorf daraus, das hauptsächlich von Jagd und Fischfang lebt, weil den Landbau das Klima verbietet, dann erscheint, wenn ein Zufall, eine außerordentliche Begebenheit die Kunde von der Existenz des Dorfes bis weit in die Kreisstadt, gar in die Gubernialstadt gelangen ließ, vielleicht ein Beamter, der die Niederlassung in die Steuerlisten aufnimmt, womit sie dann staatlich anerkannt ist. Hier lebt der Bauer so wild wie der Samojede oder Lappe, aber er hungert weniger als sein Genosse im Süden auf dem ehemals reichen, leider heute nicht mehr reichen Kornboden.

Das ist das materielle Elend des großrussischen Volkes. Nicht viel anders verhält sich's mit dem geistigen Leben. Man kann sich ja leicht vorstellen, dass bei solcher Armut der Bauer weder Zeit noch Lust noch Fähigkeit hat, an Schule und Lernen viel zu denken. Vor dem Jahre 1861 gab es fast gar keine Volksschulen. In den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts fing der Staat an, auf Domänen und Apanagegütern einige Elementarschulen zu gründen. Aber im Jahre 1853 gab es auf den Domänen erst 2.795 russische Volksschulen mit 153.117 Schülern, und auf den Apanagegütern 204 Schulen mit 7.477 Schülern.*) Sie waren sehr schlecht und leisteten nichts. Seit 1861 wurde das Interesse für die Volksschule besonders nach Einführung der Landschaftsverfassung rege; die Landschaften gründeten aus ihren Mitteln Schulen und veranlassten die reicheren Dörfer, ihrerseits sich anzustrengen. Im Jahre 1893 wurden die Ausgaben für die Volksschule in folgenden Verhältnissen aufgebracht:

von den Landschaften 69 Prozent
von den Bauerngemeinden 29 Prozent
vom Staat und aus anderen Quellen 2 Prozent**)

*) MILÜkOW, Umrisse zur russischen Kulturgeschichte, T. 2. Petersburg 1899. S. 350.
**) MILÜKOW, a. a. O. S. 357 ff.


In den Gubernien mit Landschaftsverfassung sind die Ausgaben für die Volksschule in den letzten 5 Jahren um 66 Prozent gestiegen. Aber durch Gesetz vom 12. Juni 1900 beschränkte die Staatsregierung die Erhöhung des Einnahmebudgets der Landschaften so, dass damit eine weitere Vermehrung der Ausgaben für das Volksschulwesen abgeschnitten ist Im Jahre 1891 übertrug der Staat die Sorge für die Volksschule, soweit sie bis dahin staatlich gewesen war, fast ganz der Kirche, die den Dorfgeistlichen auftrug, der Sache sich anzunehmen. Es ist schwer, die Zahl der Kirchenschulen festzustellen. MILÜKOW gibt für 1893 58.490 Volksschulen an, von denen orthodox russisch 51.540 waren. NOWIKOW nimmt heute für das Reich insgesamt 70.000 Volksschulen an. Nach Angabe des „Regierungsboten" bestanden im Januar 1899 etwa 21.500 von der Kirche geleitete Elementarschulen mit rund 1 ½ Millionen Kindern, und außerdem 18.341 dem geistlichen Stande gewidmete Kirchenschulen mit ein und zwei Klassen; darunter 16 Lehrerschulen. Die Lehrer bestehen aus Geistlichen, Diakonen, Psalmensängern, in der Mehrheit aber — 37.000 — aus Laien. Von ihnen erhielten über 19.000 einen Gehalt von 100 Rubel und weniger; in Woronesch z. B. begnügen sich, wie berichtet wird, die Lehrer an den dortigen Kirchenschulen mit 40 Rubel jährlich. Doch wird der Gehalt oft durch Unterstützung Privater oder der Landschaft ergänzt. Der höchste Gehalt von etwa 500 Rubel kam nur 122 Personen zu, den Lehrern in den Seminaren und anderen höheren Anstalten. Schon diese Ziffern zeigen, auf welcher Stufe diese Kirchenschulen stehen. So ungebildet der niedere Klerus ist, so wenig Bildung vermag er zu verbreiten, und wer von 100 bis 200 Mark im Jahre lebt, kann auch in Russland sein Wissen und seine Lehrkraft nicht gar hoch einschätzen. Auch kommt ein erheblicher Teil der Lehrkräfte und Ausgaben der Kirche nicht dem russischen Bauern, sondern allerlei nichtrussischen Kindern in Polen, Litauen, in den Ostseeprovinzen u. s. w. zu gute, für die, wie wir noch sehen werden, weit besser als für die Russen gesorgt wird. Im ganzen gab die Kirche für Schulen im Jahre 1899 rund 11 Millionen Rubel aus, wovon 5 Millionen Rubel aus dem Staatsschatz flossen. NOWIKOW berechnet, dass von diesen Summen auf die 21.500 eigentlichen elementaren Volksschulen in Wirklichkeit nicht 2 Millionen fallen, was mit dem angegebenen Gehalt von unter 100 Rubel für den Lehrer stimmen würde. Es nimmt nicht eben Wunder, wenn solche Schulen wenig leisten, besonders bei der heute vom Synod ausgehenden religiös-propagandistischen und offenbar obskurantistischen Leitung. Ein sprechendes Zeugnis dieses Geistes brachte im November 1901 die „Petersb. Wedomosti".

In einigen Kirchenlehrerschulen wurden Missionsabteilungen eingerichtet, in denen die Lehrer mit dem Sektenwesen, namentlich dem Stundismus bekannt gemacht und mit den Mitteln ausgerüstet werden, ihnen entgegenzutreten. In den Elementarschulen wird nach diesem Missionsprogramm der Religionsunterricht wesentlich im Sinne der Polemik gegen den Stundismus erteilt. In den Eparchien von Poltawa, Charkow, Woronesch, Astrachan, Tambow hat der Religionsunterricht diesen Charakter angenommen, der bei Kindern, die kaum erst Lesen und Schreiben lernten, offenbar zu der allerflachsten Auffassung von Religion führen muss. Statt Religion lernen die Kinder kirchlichen Streit, und statt Schulung und Erziehung bekommen die Kinder der Kirchenschulen Unterricht in Missionsdebatten und im kirchlichen Chorgesang. Diese beiden Fächer werden von oben her besonders begünstigt, was diese Art Volksschule genügend charakterisiert. Fast ebenso charakteristisch ist, dass auch unser alter Landhauptmann NOWIKOW, der die Verbreitung von Schulbildung im Volke für die wichtigste Aufgabe der Gegenwart erklärt, den Gesang als Unterrichtsgegenstand ganz voranstellt. Wenn ein so einsichtiger Mann die Volksbildung auf die Musik gründen will, welche Begriffe können da selbst bei den gebildeteren Ständen verbreitet sein?

In 36 Gubernien mit Landschaftsverfassung wurden im Jahre 1900 von den Landschaften für das Volksschulwesen 15 Millionen Rubel aufgewandt, so dass dem elementaren Volksunterricht der orthodoxen Russen etwa 20 Millionen Rubel, und wenn man die Ausgaben für nichtrussische, aber orthodoxe Schulen abzieht, noch weniger zufließen. Wenig genug bei einem Staatsbudget von 1.800 Millionen und ganz besonders wenig angesichts dessen, dass aus der Staatskasse selbst von jener Summe nur 5 Millionen flössen, d. h. etwa 10 Pfennige auf den Kopf der russisch-orthodoxen Bevölkerung. TrübnikOW berechnet für 1898 den Anteil der Elementarschulen an den Staatsausgaben mit 0,7 Prozent und jetzt lesen wir (Petersb. Wedomosti), dass der Synod für die Volksschulen im Jahre 1902 nur 3 ½ Millionen Rubel übrig habe, seine Ausgaben hierfür also um etwa 2 ½ Millionen herabsetzen werde. Dafür sind im Staatsbudget für 1902 für die niederen Schulen rund 9 Millionen, d. i. um 2 Millionen mehr als im Jahre 1901 eingestellt. Zu diesen niederen Schulen aber gehören: Kreisschulen, Stadtschulen, Kirchspielschulen, Elementar- und Volksschulen. Wie viel mag davon für die Elementar- und Volksschulen noch bleiben? Wohl kaum mehr als jene 5 Kopeken oder 10 Pfennige auf den Kopf der Bevölkerung und wenig mehr als ½ Prozent des staatlichen Ausgabebudgets, wenn man die Summen zusammenzählt, die das Ministerium der Volksaufklärung und der Synod dafür ausgeben. Wo der Adel und die Bauern selbst Hand anlegen oder anlegen würden, sofern der Staat ihnen freie Hand ließe, wie in den Ostseeprovinzen, in Polen, in einigen Gubernien mit Landschaftsverfassung, da brauchte der Staat wenig zu tun. In den russischen Landesteilen aber ist die Initiative der Bevölkerung an sich gering und wird von Staat und Kirche hier so gut wie in den nichtrussischen Provinzen gehemmt.

Der russische Bauer von heute fühlt instinktiv das Bedürfnis, wenigstens das Lesen zu erlernen. Die elenden Kirchenschulen haben geringen Wert; die landschaftlichen Schulen leisten schon weit mehr. Nebenher wandert im Dorf oft ein verabschiedeter Unteroffizier als Lehrmeister umher, oder der Sohn lernt das Lesen von dem Vater, und so ist trotz der schlechten Schulen die Schriftkunde, d. h. das Lesenkönnen, bei den Männern keine Seltenheit mehr; es ist so weit verbreitet, dass in den meisten größeren Dörfern jemand zu finden ist, der eine Zeitung hält. Nützlich erweist sich auch der Unterricht, der den meisten Rekruten im Regiment zu teil wird.

Wie es im allgemeinen bestellt ist, zeigen Mitteilungen, die in der Presse über die Ergebnisse der Volkszählung von 1897 zu erscheinen anfangen. Darnach (Russk. Wedom.) wurden in Petersburg 1.242.815 russische Untertanen gezählt, von denen 469.720 schriftlos waren. Also in der Residenz, in der am meisten für die Elementarschule geschieht, sind 37,4 Prozent der Bevölkerung gänzlich ungeschult.*)

*) Hier kommt noch in Betracht, dass zu der unteren Volksmenge Petersburgs viele Finnen, Esten und Letten gehören, die nicht zu den Schriftlosen gehören.

Wenn das der Stand des Elementarunterrichts in der Residenz ist, so mag man den Wert der Elementarschulen des orthodoxen Russland danach ermessen. Und da gibt die Rekrutierung gute Auskünfte. Von den etwa 290.000 jährlich ausgehobenen Rekruten sind nur 43 Prozent schriftkundig. Wollte man die Mannschaften Polens, der Ostseeprovinzen, die einen guten Elementarunterricht haben, abziehen, so würde sich die Zahl der schriftlosen russischen Rekruten auf weit über 60 Prozent steigern.*) Das weibliche Geschlecht ist natürlich noch schlimmer daran. Die Zeitung Nedelä (Die Woche) erzählt, im Durchschnitt erhalte von 7 Bauernmädchen nur eines überhaupt etwas Unterricht; in vielen Dörfern gebe es kein einziges weibliches Wesen, das zu lesen oder gar zu schreiben verstehe.

In den meisten größeren Dörfern ist eine Kirche und ein Geistlicher; dieser ist verpflichtet, eine Kirchenschule zu halten. Da kommt freilich eine große Zahl solcher Schulen heraus und man könnte, will man durchaus Zahlen haben, annehmen, dass etwa auf 4.000 Russen eine orthodoxe Kirchenelementarschule kommt.**) Wenn man aber die Qualität dieser Schulung ins Auge fasst, wenn man die elende Lage, die Unbildung der Geistlichen und erst recht ihrer Kirchendiener und der rohen Psalmensänger, Unteroffiziere u. dergl., die als Dorfschullehrer angestellt werden, bedenkt, so kann man keine erheblichen Erfolge von diesen Schulen erwarten. Auch die nichtkirchlichen Schulen, sowohl die sogenannten ministeriellen, die hier und da von den Gemeinden errichtet wurden und unter Aufsicht des Ministeriums der Volksaufklärung stehen, als die landschaftlichen, entbehren ausreichender Lehrkräfte, Schulhäuser, Geldmittel, trotz der Anstrengungen, die von den Landschaften gemacht werden, hier auf diesem so wichtigen Boden endlich Leben zu erwecken. Die Armut, die Not, die äußeren und die innermenschlichen Zustände, die Abneigung der Kirchenobrigkeit gegen Bildung überhaupt — Alles hindert, nichts fördert die Volksbildung. Ein sehr dem Obskurantismus ergebenes Blatt, wie die „Moskauer Nachrichten“ rief unlängst verzweifelt aus: „Wir haben keine Wege, das Volk lebt in Steppen, Wäldern und Sümpfen. Die Ansiedelungen sind nicht selten durch unwegsame und unkultivierte Strecken von 500 — 800 Werst voneinander getrennt, und die Bevölkerung, die gleichfalls unkultiviert und hier und da, so zusagen, sogar wild ist, führt ihre traurige Existenz fern von allen industriellen und kommerziellen Verkehrswegen.

*) In Deutschland betrugen die Analphabeten der Rekrutierung von 1895: 0,15 Prozent.
**) Bei der Volkszählung von 1897 waren in Russland 87.385.000 Angehörige der russischen Kirche gezählt worden.


Liegt es im Bereiche menschlicher Kraft, alle diese Gebiete mit regelrecht organisierten Schulen und mit Lehrern zu versehen?“ Während für die elementare russische Volksbildung vom Staat und der Kirche sehr wenig geschieht, während dafür nur etwa ½ Prozent des gewaltigen Ausgabebudgets zu haben sind, werden nicht geringe Summen jährlich verwandt auf allerlei Schulen in fremden Ländern, auf Erziehung von Serben und Bulgaren, von Polen, Litauern, Letten, Esten, die meist weit bessere eigene Schulen in genügender Menge haben. So kommt in der Eparchie Riga eine russisch-orthodoxe Kirchenschule auf 554 orthodoxe Einwohner, also sechsmal mehr als im ganzen Reiche auf den Kopf der orthodoxen Bevölkerung fällt. Dieser politisch -kirchlichen Propaganda ist es zu verdanken, dass keines der russischen Gubernien so wohl mit Schulen versorgt ist, als die drei baltischen Provinzen und insbesondere das von der kirchlichen Propaganda am meisten kultivierte Livland, wie aus den folgenden Beispielen zu ersehen ist:*)

Gubernium / 1 Schule / 1 Schüler und Schülerin / auf Einwohner
Moskau / 1.772 /23
Wladimir / 1.620 / 27
Tambow / 2.330 / 37
Livland / 7.66 / 15

Hiernach ist Livland mit Schulen reicher gesegnet, als selbst Deutschland, wo eine Schule erst auf 874 Einwohner kommt; und zwar deshalb, weil die orthodoxe Kirchenschule sich neben die protestantische Schule gesetzt hat.

*) Vgl. „Schulstatistik der Freien ökon. Gesellschaft Über die Elementarschulen Russlands zum 1. Januar 1894.“

Es ist wahrscheinlich, dass die orthodox-russischen Elementarschulen der baltischen Provinzen nicht nur die bestdotierten, sondern auch die am besten geleiteten russisch-orthodoxen Elementarschulen im Reich sind, und zwar einmal weil sie die Konkurrenz mit den von den Ritterschaften und Städten gegründeten und mit Hilfe der protestantischen Geistlichkeit, soweit der Staat nicht hindernd eingriff, vortrefflich verwalteten lutherischen Volksschulen von Hause aus zu bestehen hatten; mehr noch deshalb, weil von jeher das Interesse der Russen weit mehr der äußeren Propaganda als den inneren russischen Zuständen zugewandt ist. Und an der Spitze dieser nach außen, auf politisch-kirchliche Propaganda gerichteten Tätigkeit steht der Synod, steht der Oberprokureur POBEDONOSZEW, wie man alljährlich aus seinen dem Kaiser unterlegten Berichten über die Lage der Orthodoxie in den Grenzprovinzen ersehen kann, in denen mit höchst unlauteren Mitteln gegen Katholizismus und Protestantismus gekämpft wird. Und hier sind diese Schulen weit besser materiell gestellt als im eigentlichen Russland. Es ist wieder die sonderbare Erscheinung, dass der Russe aus Politik hungert, nicht nur materiell, sondern auch geistig.

Wie kann man einen Erfolg im Elementarunterricht erwarten von einer Schulung durch Geistliche, die ihrer Bildung und Stellung im Volk nach so schlecht dazu vorbereitet sind, wie im Durchschnitt die russischen Popen?
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland, Kulturstudie um 1900
Russland 055. Bilder aus dem Ural (1)

Russland 055. Bilder aus dem Ural (1)

Russland 055. Bilder aus dem Ural (2)

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Russland 056. Nishnij-Nowgorod, Blick von der Stadt auf Wolga und Oka

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Russland 056. Nishnij-Nowgorod, Ein Glockenturm

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Russland 056. Nishnij-Nowgorod, Fenster an der Roshdestwenskaja-Kirche

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Russland 057. Nishnij-Nowgorod, Blick von der Oka auf die Stadt

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Russland 057. Nishnij-Nowgorod, Wolga-Hafen (Im Hintergrund die Alexander-Newskij-Kathedrale im Viertel der berühmten Messe

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Russland 058. Das Bergufer der Wolga zwischen Saratow und Zarizyn

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Russland 058. Der Zarew Kurgan an der Wolga bei Samara (Die höchste Erhebung auf dem linken Wolgaufer)

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Russland 059. Sandsteinfelsen an der Wolga bei Saratow

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Russland 060. Auf der Wolga

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Russland 060. Eine Landestelle an der unteren Wolga

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Russland 061. Hochzeitstanz bei den Wolgafinnen (Die finnischen Wolgastämme sind nur oberflächlich christianisiert, haben aber eine Reihe heidnischer Gebräuche beigehalten)

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Russland 061. Saratow, Kathedrale

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Russland 061. Sysran, Alte Kathedrale

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Russland 062. Sarepta. Deutsche Kirche

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Russland 062. Sarepta. Deutsches Schulhaus

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Russland 063. Ein kleinrussisches Dorf

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Russland 063. Sysran an der Wolga

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Russland 064. Eine Tatarenfamilie vom Unterlauf der Wolga (Auf dem Tisch der Samowar, die im ganzen Russischen Reich verbreitete Teemaschine)

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Russland 064. Kalmükischer Buddhistenpriester (Lama) aus der Steffe der Donkosaken

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Russland 064. Wolgatataren als Hafenarbeiter

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Russland 065. Ein tatarisches Haus in der Krim

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Russland 066. Die Küste der Krim bei Alupka

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Russland 067. Alupka (Krim)

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Russland 068. Baghtsche-Sarai (Krim) Der ehemalige Palast der Khane

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Russland 068. Kleinrussisches Dorf

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