Pulkowa. Zarskoje-Sselo (39)

Jeder Petersburger, selbst der kleinste Beamte, muss im Sommer aufs Land; kann der Hausherr nicht selbst mit, so schickt er wenigstens seine Familie hinaus ins Grüne, wo er sich, und wären es auch nur ein oder zwei kleine Zimmer mit der Aussicht auf einen Garten oder Wald, einmietet. „Ich ziehe auf die Datsche", sagt ein jeder gar zu gern, wenn ihm seine Mittel nicht erlauben ins Ausland zu reisen. Und unter „Ausland" wird irgendein Badeort und jedenfalls nach demselben Paris verstanden. Paris sehen und — nicht sterben, sondern leben, und wenn möglich es noch öfter besuchen, ist ein Lieblingswunsch der leichtlebigen Petersburger jungen Welt.

Der Duderhof'sche „Berg" ist ein unansehnlicher Hügel, außer Pulkowa der einzige in der Nähe der Residenz; er liegt unweit Krasnoje-Sselo, wo im Sommer die Truppen der ganzen Garnison Petersburgs im Lager stehen und wo die großen Manöver stattfinden, die sich oft weit über die Gegend hin ausbreiten. Selten nur versäumt der Kaiser, diese in Person zu leiten.

Sternwarte von Pulkowa.


Um nach Zarskoje-Sselo und Pawlowsky zu gelangen, kann man sich zweier Eisenbahnen bedienen: der sogenannten kleinen Zarskoßel'schen und der weiter über Gatschina, Dünaburg und Wilna nach Eydkuhnen und Königsberg ins Ausland führenden großen, von einer französischen Gesellschaft erbauten Bahn.

Nehmen wir jedoch ein russisches Dreigespann und wählen wir den zwar längeren, aber angenehmeren alten Weg auf der schönen kaiserlichen Chaussee, die eine Doppelreihe alter Linden beschattet. Auch hier finden wir wieder hübsche Landhäuser, jedoch nicht so häufig wie an der Straße nach Peterhof. Wir hatten ungefähr sieben Werst zurückgelegt, da bemerkten wir die gotischen Türme von Tscheßma, einem in wunderlich mittelalterlichem Stil erbauten Schloss, das als Invalidenhospital für alte verwundete Krieger benutzt wird. Weiterhin kommen wir durch die reiche deutsche Kolonie mit ihren sauberen Häusern und Gärten und erreichen den höchsten Punkt der Petersburger Umgegend, den Pulkowa-Berg. Auf demselben befindet sich die kaiserliche Sternwarte, welche der bekannte Astronom Professor Friedrich Wilhelm Struve gründete und als Direktor verwaltete. Am Fuße der Anhöhe liegt das wohlhabende russische Dorf Pulkowa und bald darauf blitzen vor uns die hohen Kuppeln von Kirchen und Palästen; es ist das kaiserliche Lustschloss Zarskoje-Sselo mit der 10.000 Einwohner zählenden, regelmäßig in breiten Straßen erbauten Stadt gleichen Namens. Beschauen wir uns vor Allem den prachtvollen Zarenpalast Katharinas II. mit seinem herrlichen Park. Das stilvolle dreistöckige Schloss, welches an Versailles erinnert, ist besonders durch seine gewaltige Größe bemerkenswert; an dem 245 m langen Mittelgebäude lehnen sich nach der Gartenseite zu zwei große Flügel an, von welchen der eine uns eine prachtvolle Kolonnade zeigt. Der andere Flügel, welcher früher das kaiserliche Lyzeum enthielt, wurde nebst der nahen Hofkirche im Jahre 1860 durch ein Feuer stark beschädigt, doch vor der gänzlichen Vernichtung noch bewahrt. Der Kaiser bewohnt dieses Schloss selbst; ein neuer, von Alexander I. im modernen Stil erbauter Palast dient dem Thronfolger zum Sommeraufenthalt. Die inneren Räume des alten Schlosses sind mit feenhafter Pracht ausgeschmückt. Das Auge weiß nicht, was es von diesen Schätzen und Kostbarkeiten am meisten bewundern soll. Man sieht Zimmer, welche ganz mit Bernstein, Malachit oder Perlmutter ausgelegt sind, Säulen aus Iaspis, Porphyr und Achat, Malachitvasen, Bronze- und Marmor-Statuen, Mosaiken, Gobelins und kostbare Gemälde, chinesische, persische und türkische Säle wechseln ab mit Kolonnaden, Marmorbädern und Galerien mit entzückenden Aussichten, — alle diese Herrlichkeiten unter einem Dache, welches seiner Zeit echt vergoldet war, jetzt mit einem minder kostbaren, aber dauerhafteren Überzug versehen ist. Das Auge weiß nicht, was es von diesen Schätzen und Kostbarkeiten am meisten bewundern soll. Nach Vollendung dieses Feenschlosses soll die Kaiserin Katharina den französischen Gesandten eingeladen haben, dasselbe mit ihr zu durchwandern; genau betrachtete er jedes einzelne Wunderwerk und blieb dann, wieder herausgetreten, plötzlich vor dem Palaste stehen und sah sich forschend nach allen Seiten um. Auf die Frage der Monarchin, „was er suche", antwortete der feine Hofmann: „Kaiserliche Majestät, ich suche nur nach der Glasglocke, dies kostbare Kleinod zu bedecken." Der auf Sumpfboden angelegte Park ist einer der schönsten bei Petersburg geworden und seine Unterhaltung erfordert jährlich bedeutende Summen. Er ist überreich an den verschiedensten Szenerien. Dunkle Eichenwälder wechseln ab mit reizenden Wiesenflächen, mit lichten Birkenanlagen, Seen und breiten Gräben. Man findet hier einen türkischen Kiosk, ein chinesisches Dörfchen, eine Pagode, Tempelruinen, kolossale Treibhäuser, Meiereien u. dgl.; ferner eine gotische Schlossburg mit der herrlichen marmornen Christusstatue von Dannecker, eine berühmte Najade mit zerbrochenem Wasserkrug, woraus Quellwasser strömt, Monumente, Denksäulen aller Art. Erwähnt sei hier noch eine Verpflegungsanstalt für die ausrangierten Pferde des Kaisers, sodann die Begräbnisplätze der Lieblingshunde der Kaiserin Katharina, mit Inschriften aus der Feder des geistreichen Grafen Ségur. Vorzüglich bemerkenswert ist außerdem der herrliche, von Alexander I. an der Straße nach Pawlowsky errichtete gusseiserne Triumphbogen, mit der russischen und französischen Aufschrift: „Meinen teuren Waffengefährten." Das Merkwürdigste im Park ist aber unstreitig das in Form einer Ritterburg gebaute Arsenal. Namentlich sind die Säle, welche die orientalischen Kostbarkeiten, Geschenke, Beutestücke u. s. w. enthalten, von unschätzbarem Wert. Mit Tausenden von Brillanten, Millionen von Perlen sind die Sättel, Pferdegeschirre und Waffen, die Kronen und Gewänder der persischen und krim'schen Khans wie der türkischen Trophäen übersäet.

Palast zu Zarskoje-Sselo.

Der am Park gelegene Stadtteil Sophia birgt einige Nachahmungen türkischer und griechischer Gebäude und ist ein beliebter Sommer-Aufenthalt für die reiche und vornehme Welt der russischen Hauptstadt.

Drei Werst von Zarskoje-Sselo liegt das malerische Pawlowsky mit dem schönen großfürstlichen Schloss und einem reizenden Parke, welcher gleich reich durch Natur und Kunst ausgestattet ist. Am Ende des Parks, hart an der Eisenbahn, sieht man das weit und breit berühmte Vauxhall, ein Hauptvergnügungsort der Residenzbewohner.

Reich an historischen Erinnerungen ist das zwanzig Werst von Zarskoje-Sselo an der Eisenbahn gelegene Gatschina. Hier verbrachte Kaiser Paul I. die erste und glücklichste Zeit seiner Jugend, in Gemeinschaft mit seiner jungen, liebenswürdigen Gemahlin, Maria Feodorowna (einer Prinzessin von Württemberg) . Das Andenken dieser Glück und Segen verbreitenden Fürstin, einer wahren Mutter ihres Volkes, steht noch heute dort in hohen Ehren. Unter ihrer Leitung gediehen die Erziehungshäuser, wie das Findelhaus, von dem eine Filiale sich in Gatschina befand, zu einer hohen Blüte. Paul, welcher nicht die Liebe und Zuneigung seiner Mutter genoss, lebte halb verbannt mit seinen Freunden und Anhängern, fern von der Residenz, im Schloss zu Gatschina, bis ihn der Tod der Kaiserin Katharina auf den Thron berief. Das sehr schöne, in einfachem, edlem Stile gehaltene Schloss ist von Kaiser Nikolaus restauriert und fast ganz umgebaut worden, enthält 600 Zimmer und Säle und ist von einem romantischen Parke umgeben, welcher zu den anmutigsten Europas zählt. In unmittelbarer Nähe hinter dem Schweizer Viehhof beginnen mächtige Wälder, in denen der Kaiser Alexander II. gern das edle Weidwerk übt. Diese kaiserlichen Vergnügungen sind jedoch keineswegs gefahrlos; mehr als einmal ist der allzu kühne Monarch auf Bärenjagden, die er vor allen zu lieben scheint, in der größten Lebensgefahr gewesen und hatte nur seiner eigenen Kaltblütigkeit wie der kühnen Entschlossenheit des Gefolges seine Rettung zu verdanken. —