Newsky-Perspektive (19)

Wenn man auf der Mitte des Isaaksplatzes steht und seinen Blick dem eigentlichen großen Teil der Stadt zuwendet, im Rücken also die Admiralität und die hinter derselben dem Meere zuströmende Newa hat, so sieht man drei, vom Admiralitätsturm aus in unabsehbarer Länge strahlenförmig, wie ein Fächer immer weiter auseinander gehende sogenannte Perspektive (im Russischen „Prospekte" genannt): die große oder Newa-Perspektive (Newsky-Prospekt), die Erbsenstraße und die Auferstehungs-Perspektive (Wosnessensky-Prospekt), die wieder in ihrer Länge vielfach von anderen Straßen und drei breiten Kanälen durchschnitten werden. Jene, unter denen die Newsky-Perspektive die bedeutendste ist, enthalten alles, was der Stadt das Wichtigste ist: Magazine, Bazare, Märkte, schöne Paläste, Theater, Kirchen und sonstige öffentliche Gebäude. An der Newsky-Perspektive, auf der die vielen seltsamen Fuhrwerke achtlos hin- und herfliegen, daneben die schweren Omnibusse der Pferdeeisenbahn mit Leichtigkeit überholend, befindet sich der in großartigen Verhältnissen in einem Halbkreise erbaute Palast des Generalstabes; demselben gegenüber erhebt sich die Alexandersäule. Die Perspektive weiter verfolgend gelangt man an die Kasan'sche Kirche. Vor derselben erblickt man rechts und links die stehenden Standbilder der aus den Kriegen gegen Napoleon I. berühmt gewordenen beiden russischen Heerführer Kutusow und Barelay de Tolly. Als eine Kopie der Peterskirche zu Rom hat sie wie diese einen Säulenportikus, der auf beiden Seiten in einem Halbzirkel zu den Eingängen des Gotteshauses führt. Die Kuppel ist eng, nach byzantinischen Verhältnissen ausgeführt, und befriedigt den ästhetischen Geschmack im Ganzen wenig. Desto reicher ist das Innere dieses immerhin großartigen Monuments. Das Silber des Ikonostases (Bilderwand) blendet das Auge, alle Balustraden, Türen und Torwege sind aus gediegenem Silber, wie auch die an 7 m hohen Bogen, von welchen der Altar überwölbt wird; sie spiegeln mit wundervollem Scheine den Glanz der tausend Kerzen, die vor ihnen angezündet sind. Die vielen mit Gold, Perlen und Edelsteinen geschmückten Heiligenbilder, vor Allem das der heiligen Mutter von Kasan, haben einen unschätzbaren Wert und genießen einer besonderen Verehrung des überaus gottesfürchtigen Volks. An den Säulen sieht man die Kriegstrophäen aus den Kämpfen mit den Persern, Türken, Franzosen, Fahnen und Schlüssel, selbst von deutschen Städten (z. B. von Hamburg, Leipzig, Dresden usw.). Mit Recht könnte man übrigens die Newsky-Perspektive die Toleranzstraße nennen; man sieht hier armenische, griechische, protestantische, römische, sunnitische und schiitische Bethäuser in vertraulicher Nachbarschaft neben einander. Im Vergleich mit Moskau, in welcher Stadt die Zahl der Kirchen über vierhundert betragen soll, hat Petersburg nur wenig Gotteshäuser, im Ganzen etwa vierzig griechisch-katholische und siebenzehn nicht griechische, von denen sieben protestantische sind. Diese Kirchen sind jedoch lichter, heller, einfacher und geschmackvoller als die Moskauer, die meist bunt, überladen, dunkel und barock erscheinen.

Am Ende der Perspektive befindet sich noch das Mönchskloster des heiligen Alexander Newsky, in dessen Seitenkapelle das Monument des berühmten Kriegers und Heiligen steht und das mehrere gute Gemälde von italienischen und deutschen Meistern besitzt (Guido Rem, Rubens, Mengs u. A.). Die Klöster haben in Russland den Vorteil, das edelste Blut des Landes nach dem Tode in ihren Mauern aufzunehmen. Das Newsky-Kloster ist der vornehmste Gottesacker der Stadt; früher war es sogar Sitte, dass man sich auf dem Totenbett noch als Mönch oder als Nonne einkleiden ließ, was aber jetzt aufgehört hat. Die große kaiserliche Bibliothek, das russische Alexander-Theater, das neue Standbild der Kaiserin Katharina, der Anitschkow-Palast des Großfürsten und Thronfolgers liegen alle an dieser Perspektive. In unmittelbarer Nähe derselben steht das alte Michailow'sche Schloss, jetzt eine Militärerziehungsanstalt (die Ingenieurakademie), seiner Zeit der Aufenthaltsort des Kaisers Paul, der auch hier sein Leben endete. Das Schloss hat ein finsteres, festungsartiges Äußere, wenngleich dessen Gräben ausgefüllt und in Gartenanlagen verwandelt sind.


Die prächtigsten und vornehmsten Straßen in Petersburg sind die große und kleine „Morskaja", die große „Million" und der englische Kai. Die ersteren kreuzen die Newsky-Perspektive. An der Gartenstraße liegt ein großes Riesenviereck, dessen eine Reihe auf die Newsky-Perspektive hinausgeht, der Kaufhof oder Bazar, Gostinnoi-dwor genannt, wo Magazin an Magazin, eins schöner als das andere, das Auge des Westeuropäers blendet und ihn leicht zu Einkäufen, besonders der Erzeugnisse Persiens, Bucharas oder Kaukasiens verlockt. Weder in Paris noch in London sind dergleichen in so reicher Auswahl zu finden, so z. B. nicht die persischen und asiatischen rohen Seidenstoffe (Kanaoust) mit ihren grellen Farben, die unverwüstlichen Teppiche, Kissen und Polster Zentralasiens und Kaukasiens, das prachtvolle, kostbare Seidenzeug „Tarmalama", die aufs Kunstvollste gestickten orientalischen Tischdecken, deren eine oft bis 450 Mark kostet, die aus Filigran oder blauschwarz angelaufenen Silberstücken verfertigten kaukasischen Gürtel und Zierraten, die orientalischen, mit Silber, Gold und Edelsteinen verzierten Waffen aller Art, die auf rotem oder anderem Saffianleder gestickten Pantoffeln usw. Und dabei die Kaufleute in diesen Magazinen, meist in Nationaltracht, ernst und mit Würde wie die Morgenländer, gewöhnlich mit feurigen schwarzen Augen und schönen, langen, kohlschwarzen Bärten, sodass man sich hier schon tief ins Innere Asiens hinein versetzt glauben könnte!