Im Winter. Feste und Festlichkeiten (25)

Bei heiterem, stillem Wetter fallen gewöhnlich die höchsten Kältegrade, dicke Rauchsäulen wirbeln aus jedem Hause in die reine Luft, als ob in jedem Gebäude eine Dampfmaschine arbeitete. Schnee und Eis auf dem Newastrom, welches letztere oft bis zwei Meter dick wird, sind weiß und reinlich, als wäre es aus Zucker gebacken. Alles erscheint mit den phantastischsten Eisüberzügen und Eiszapfen bedeckt, selbst Bart und Haare der Menschen. — Gesichter bekommt man dann nicht mehr auf der Straße zu sehen, denn Alles zieht die Pelze über Kopf und Mütze. „Väterchen, deine Nase, deine Wange", erinnern einander die sich Begegnenden, wenn sie die verdächtigen runden, kreideweißen Flecken im Gesichte des Vorübergehenden sehen; denn der, dem ein Teil des Gesichts erfriert, merkt es nicht. Da hilft nur unmittelbares heftiges Einreiben mit Schnee, bis das Gefühl sich in dem erfrorenen Teile wieder einstellt; eine Frostwunde ist eine üble Sache. Auf öffentlichen Plätzen, vor den Theatern des Abends z. B., werden für die Fuhrleute und das Volk große Scheiterhaufen zum Wärmen angezündet. Bei solchen Verhältnissen ist es begreiflich, wie selbst der ärmste Bauer, ja sogar der Bettler, seinen Schafspelz hat, ohne welchen er umkommen müsste.

Ich fragte einst einen Bauer, welchen ein Gutsbesitzer mit einem Auftrage zu mir in die Stadt gesendet hatte und der ganz erstarrt war, sodass er eine Zeitlang brauchte, ehe ihm die Eiszapfen in Bart und Haar auftauten, ob es denn wirklich heute draußen so kalt fei. „Freilich, Herr", antwortete er mir, „auf dem Felde draußen war es eine „zweipelzige“ Kälte." Und wirklich trug der Bote einen anschließenden Leibpelz und noch einen großen anderen Schafspelz als Überwurf. Bei solcher Kälte habe ich wirtlich oft tote, erfrorene Vögel auf den Straßen liegen sehen. Ich erinnere mich eines freilich seltenen Schneesturmes in den sechziger Jahren in Moskau, der drei Tage und drei Nächte lang anhielt, dann in Unterbrechungen noch drei Tage wütete, und nach welchem der Schnee in den äußeren Straßen der Stadt höher als die Laternenpfähle lag, sodass diese nur mit ihren Spitzen aus demselben hervorragten, während längs der Häuser sich lange, ausgeschaufelte Hohlgänge hinzogen und die Schlitten in der Mitte der Straße in gleicher Höhe mit den Köpfen der an den Seiten gehenden Menschen dahinflogen, denn rasch fährt in Russland alles, zumal bei solcher Kälte.


Zur Winterszeit nun wird Petersburg der Punkt, wohin, oft aus den entferntesten Teilen des Reichs, eine Menge Landvolk und kleine Kaufleute zusammenströmen, die Märkte der Hauptstadt mit Vorräten zu versehen. Die Einen bringen Fische, die Anderen Geflügel und Wild, welche der Winter steif gefroren und frisch erhält.
Der Heumarkt (Ssenaja Ploschtschad) bietet in dieser Hinsicht, besonders vor Weihnachten, ein ebenso originelles als merkwürdiges Bild.

Die gefrorene Fleischmuskel lässt sich Monate lang aufbewahren. Die Tausende von Vögeln und Wild werden, nachdem ihr warmes Blut entflossen und durch die Kälte in Eis verwandelt, in große Kisten verpackt und auf Schlitten verladen. So kommen die gefrorenen Hasen, Schweine, Ferkel, Auer- und Birkhühner, Gänse, Enten, Hühner, Störe, Welse, Hechte usw. hier an. Der Kaufmann kramt sie aus und stellt in seiner Bude die steifen Ochsen, Schweine und Hasen kerzengerade auf oder stapelt sie, z. B. die Fische, auf einer großen Matte zu einem ungeheuren Haufen auf. Um das Fleisch zu zerteilen, wird kein Messer, sondern eine Säge oder ein scharfes Beil gebraucht, wobei die Eisstücke mit Fleischfetzen wie Splitter beim Holzhacken umherfliegen, die sich dann die kleinen Bettler im Schnee zusammensuchen. Auch Bären- und Elenfleisch ist hier nicht selten zu haben.

Das Gedränge auf diesem Markte ist außerordentlich, alle Volksklassen sind hier vertreten, besonders aber der Bauernstand. Die kostbarsten Fische sind die Störe, von denen es verschiedene Arten gibt und die von der Wolga und dem Kaspischen Meere kommen; auch der schöne Newa-Lachs ist sehr geschätzt.

Der Heumarkt ist im Jahre 1831 der Schauplatz eines beginnenden Aufruhrs gewesen, der, ohne den Mut des verstorbenen Kaisers, leicht die traurigsten Folgen hätte nach sich ziehen können. Es war zur Zeit des polnischen Aufstandes, die Cholera grassierte in Petersburg und das Volk, welches von dieser schrecklichen Seuche, die es für eine Strafe Gottes ansah, schwer heimgesucht wurde, geriet in Verzweiflung. Es hieß: Die Ärzte, die Deutschen und Polen vergiften die Brunnen; die Aufregung war bis aufs Höchste gestiegen. (Bei einer Bevölkerung von 400.000 Seelen starben täglich etwa 1.500, meistens der niederen Volksklasse Angehörende.) Bereits sah man auf dem Heumarkte Äxte schwingen, diese in den Händen des russischen Bauern so furchtbare Waffe; die Luft erbebte von wüstem Gebrüll und Angst und Schrecken bemächtigten sich der friedlichen Bürger.

Dem Kaiser Nikolaus berichtet man von dieser wachsenden Gärung im Volke; er steigt sogleich in die Kalesche und eilt in gestrecktem Galopp mitten unter das Volk. Hier lässt er halten und verlässt den Wagen vor der am Ende des Heumarktes stehenden Kirche. Er steigt die Stufen zu derselben hinan und von hier in seiner mächtigen kaiserlichen Gestalt die Volksmasse hoch überragend, redet er sie mit seiner vollen, lauten Stimme streng an:

„Was muss ich sehen?!" ruft er; „seid ihr nicht mehr die Söhne des alten heiligen Russlands, dass ihr euch gegen den Himmel auflehnt?! Wollt ihr es den Aufrührern anderer Länder gleichtun? Kommt zu euch; Gott sucht uns heim! Statt gegen seine heiligen Beschlüsse zu murren, solltet ihr euch vor ihm beugen und beten. Nieder auf die Knie! Lasst uns zum Herrn beten und ihn bitten, der Seuche, welche unsere Stadt verheert, Einhalt zu gebieten!"

Und sein Wort mit der Tat vereinigend kniet er nieder, mit ihm das ganze versammelte, plötzlich beruhigte Volk.

Am sechsten Januar, dem Dreikönigsfeste, findet auf der Newa das Fest der Wasserweihe statt.

Auf dem Eise wird, in der Nähe des Winterpalastes, eine reiche, prächtig verzierte, allen Winden offene Kapelle errichtet. Ein mit Teppichen belegter Bretterweg führt vom Schloss aus zu derselben hin. Um zehn Uhr erscheint die ganze hohe Geistlichkeit; der Kaiser, von seinen Würdenträgern umgeben, die Kaiserin, von ihren Hofdamen begleitet, das diplomatische Corps, wohnen der fast zwei Stunden dauernden religiösen Zeremonie, der Etikette gemäß, ohne Pelze bei. Das nun von den Priestern geweihte Wasser wird von Jung und Alt eifrig geschöpft und jedes Haus sucht sein Teil davon zu bekommen. Diese Zeremonie findet überall im Lande an den Flüssen desselben statt.

Erst im April pflegt das Wasser den drückenden Eismantel zu sprengen und kaum schieben sich die schweren Schollen langsam fort dem Meere zu, was oft mehrere Tage lang dauert; kaum ist den Booten eine Überfahrt geöffnet, so donnern die Kanonen der Festung und verkünden den Einwohnern den ersehnten Augenblick. Einer alten Sitte gemäß schöpft dann der Kommandant der Festung einen schönen Becher des klaren Newawassers, welchen der Zar in früheren Jahren ihm mit Goldstücken gefüllt zurückgab. Jetzt erhält er für diesen kaiserlichen Trunk immer noch ein hübsches Geldgeschenk.

Dem Osterfeste, das in der Mitte der Nacht vom heiligen Sonnabend auf den Ostersonntag beginnt, geht die sogenannte Butterwoche voran, auf welche ein siebenwöchentliches Fasten folgt, das in besagter Osternacht, präeis um Mitternacht, sein Ende nimmt.

Fest der Wasserweihe aus der Newa.

Statt des Öls, mit welchem in der Fastenzeit alle Speisen bereitet werden, darf in der Butterwoche, wie der Name schon andeutet, noch Butter genommen werden. Es ist die Woche, besonders die drei letzten Tage derselben, wo das Volk sich auf alle mögliche Weise zu belustigen sucht, bevor es sich die höchsten Entbehrungen auferlegt. Die Hauptrolle bei den Speisen in jedem Hause spielen Fische und die sogenannten Blinnis, eine Art Fladen oder Pfannkuchen, die mit geschmolzener Butter übergossen und mit Kaviar verspeist werden; dieselben bäckt man nur zu dieser Zeit des Jahres.

Eine allgemeine Idee von den Volksbelustigungen der Butterwoche haben gewiss sehr viele unserer Leser, darum sei hier eine etwas ausführlichere Schilderung der diesjährigen (1874) gegeben.

Der kolossale Isaaksplatz stand in diesem Jahre zum ersten Male verödet da; der neuen Anlagen und Squares auf demselben wegen waren die Volksbelustigungen nach dem ungeheuren Marsfelde neben dem Sommergarten hin verlegt, das auch wohl ein geeigneterer Ort für dergleichen Schauspiele sein mag, als der Platz vor dem alten Zarenpalaste.

Das Marsfeld war nun mit vielleicht noch mehr Buden überfüllt als sonst sein alter Vorgänger. Und darin Schauherrlichkeiten aller Art. Hurrah, war das ein Leben! Das Theater des Herrn Berg „fasste kaum die Zahl der Gäste" und bot täglich seine französischen, russischen und deutschen Vorstellungen, Musik und Tanz im bunten Kranz. Direktor Hinné ließ seine Exerzitien auf drei übereinander gespannten Seilen von drei Japanern ausführen, einer seiner berühmten Clowns trat als Affe, Frosch und Bär auf und zeigte seine dressierten Pudel, während daneben Kreuzberg sein weltbekanntes anatomisches Theater eröffnet hatte und Heidenreich eine Menge Schaulustiger zu den wilden Bestien seiner großartigen Menagerie zog. Dazu denke man sich ein Allerlei von Eisbergen, russischen und anderen Schaukeln, die unvermeidlichen Riesen und Zwerge, die vielen dicken Wunderdamen, z. B.: „Die schöne Französin! Das größte Wunder des neunzehnten Jahrhunderts, sechzehn Jahre alt, 150 XF. schwer, ohne Konkurrenz in Europa"; „Tamara, die schönste Dame des Kaukasus, die feurigste Tscherkessin; daneben Ingeborg, die prächtige Lappländerin mit dem Flachshaar, neben Wally, der zierlichen Rheinländerin"; — weiter die nationalen Teebuden mit ihren riesigen Ssamowars, die ewig, wie Dampfmaschinen en miniaturs kochen, und in welchen für drei Kopeken ein erwärmendes Glas Teewasser zu haben ist; das unaufhörliche Geklingel von einem Dutzend Karussells; die Drehorgeln mit ihrer „letzten Rose", die noch nicht verblühen will und den „Jungfernkranz" verdrängt hat; die vierhändigen Waldmenschen, wie Voigt sie schildert, in natura; hier gar Eisverkäufer, die ihre Ware auf dem Kopfe balancieren und am Ende das beste Geschäft von Allen machen. Was, wird man fragen: Eis? Gefrorenes? im Winter, in Petersburg, wo die ganze Newa jetzt mit einer ellendicken Eiskruste bedeckt ist! Kaum glaublich, aber doch wahr. Unser Russe ist hierin eigen und denkt wie die Homöopathen: similia similibus. Gemütlich lässt er sich von einem Gefrorenes feilbietenden Verkäufer sein Gläschen Eis kredenzen, löffelt es gemütlich bei 10—15 Grad Frost aus und — trinkt hinterdrein ein Schnäpschen oder ein Glas Tee mit oder ohne Ingwer darauf. Das wärmt ihn und hat er Hunger, so kauft er sich vielleicht eine Salzgurke und eine Ssaika (lockeres Weißbrot).

Ganz interessant sind die seit einigen Jahren aufgekommenen Guckkasten, in welchen Bilder und Szenen ans der russischen Geschichte zu sehen sind, die der Eigentümer derselben, in Versen improvisierend, dem Volke erklärt. Auch Volksmärchen mit Gesang werden auf diese Weise vorgetragen, denen der pelzbedeckte Bauer mit offenem Munde oft stundenlang lauscht. Und nun vollends die berühmten Wettrennen auf der spiegelglatten Newa! Freilich — wer beschreibt es, dies Schauspiel so reich an Originalität, Farbe, Lebensfülle — wer hält auch nur eines dieser Bilder fest — vorübereilend, immer vorübereilend, als ob kein Ende wäre.— Drei- und Zweigespanne, wie schnelltrabende Einspänner vor federleichten Schlitten, sausen in rasender Eile um die Wette dahin. Vom Vollblutrenner herab bis zum unansehnlichen Steppen Pferdchen sieht man hier in Trab, Galopp und Carriére vorüberfliegen — ein tolles Treiben, das sich schwer beschreiben lässt, das man selbst sehen muss. Glänzende Offiziere, reiche Kaufleute in Pelzen, die oft Tausende von Rubeln kosten, neben sich ihre herausgeputzten Frauen wie chinesische Pagodenbilder, sittsam und ernsthaft, geschminkt und mit Brillanten übersäet, Beamte, Bauern und — leicht zu erkennende staunende Ausländer, Fremde, in knappen, billigen Pelzen oder gar Mänteln und Paletots — das Alles gibt ein gar buntes, eigentümliches Bild.

Dort auf der Newa sieht man auch Samojeden in ihrer schweren Nationaltracht, die ihre mit Rentieren bespannten Schlitten dem Volke zur Belustigung anbieten. Schwerfällige, gelbhaarige Finnen halten ebenfalls mit ihren leichten, eigentümlich gebauten Schlitten stets am unrichtigen Orte und müssen von den wachthabenden Kosaken fortwährend zurechtgewiesen werden.

Dem Sommergarten entlang bis zum Schlosskai ist ein weiter Raum für die vornehme Welt abgesperrt, wo dieselbe, während sich die große Menge in, den Budenreihen umhertummelt, oder sich auf Schaukeln und Eisbergen belustigt, in ihren brillanten, auf Schlittenkufen oder Rädern befindlichen Equipagen die Nachmittagsstunden verbringt. Ein glänzendes, farbenreiches BW rollt sich vor den Augen des staunenden Zuschauers ab. Vier-, drei-, zwei- und einspännig fährt Eins hinter dem Andern in vier Reihen im Schritt herum, zu sehen und gesehen zu werden, ein winterliches Longchamp. Da sind Vierspänner mit Isabellschimmeln, schwere Kaleschen, russische Proleotkis (phaetonartige Wagen), national-russische Droschken, Liniendroschken, Landaus, hochrädrige und breite Char-à-banc’s und altertümliche Miet-und Familienkutschen, mit Kindern und King-Charleshündchen vollgepackt wie die Arche Noäh. In den Equipagen manch schönes Damengesicht mit feurigen dunkeln Augen, fast alle aber elegant und mit jenem gewissen eleganten Chic, durch welchen die russischen Damen sich so auffallend, vor den deutschen namentlich, auszeichnen. Nur Nase, Wange, die breiteren Züge und die länglich geschlitzten mandelförmigen Augen verraten die slawische Abkunft, sonst könnte man sie vielleicht für Französinnen halten. Doch ist Petersburg ja nicht Russland, alle Völker des Landes, alle Nationen sind hier vertreten und zu Hause: die kraftvollen, gedrungenen Russen, die gigantischen Finnen und Esten, die derben deutschen und schwedischen Arbeiter, die schwächeren, geschmeidigen Letten, die Polen, Litauer, Ingern und Lappen, die schlanken Kaukasier, die majestätischen Perser und all' die schmutzigen Orientalen mit dem stolzen Wesen. Wer da in Petersburg gewesen ist, glaube übrigens nur ja nicht, nun auch Russland zu kennen. Dazu muss man nicht allein in Moskau, sondern vielfach herum im weiten Lande gewesen sein.

Auch die jungen Damen der kaiserlichen adeligen Fräuleininstitute — Smolna-, Katharinen- und patriotisches Stift — die sich sonst auf den öffentlichen Promenaden nicht zeigen, werden heute in Hofequipagen, mit Dienern und Kutschern in kaiserlicher Livree hier spazieren gefahren. Die junge Herrenwelt, meist aus Offizieren bestehend, in glänzenden Uniformen und auf prächtigen Pferden, hin und wieder unter ihnen ein schlanker Kaukasier in seiner kleidsamen Tracht, reitet durch die bunten Reihen, die Damen aufmerksam musternd und lorgnettierend.

In Tivoli ist eine bedeckte Eisbahn hergestellt, auf welcher Schlittschuhläufer, wenn draußen eine Kälte von 15 bis 20 Grad und mehr herrscht, in einem fast unabsehbar langen Saale lustig dahingleiten. Der Thermometer zeigt hier nur wenige Grad unter dem Gefrierpunkt, und der Fußboden ist mit dicken, durch Begießen glattgehaltenen, Eisblöcken belegt. Mehr Bequemlichkeit kann kaum geschafft werden.

Wenn man mit dem Schlage Zwölf seinen letzten Theaterbesuch, seine letzte Maskerade in der Butterwoche beendigt hat, welch letztere aus Mangel an Humor kalt und langweilig wie das Landesklima ist und oft mit einem wüsten Gelage abschließt, so fängt die lange Fastenzeit an. Alle Theater sind dann sieben Wochen lang geschlossen; alle rechtgläubigen griechischen Katholiken fasten und beten, um sich würdig auf den kommenden Ostertag vorzubereiten. Die Petersburger aber sind ein vergnügungslustiges Volk; sie verstehen es, besonders durch Musik, geistliche — und auch weltliche — wie durch manche andere Unterhaltungen diese lange Pause ganz erträglich zu machen. In der ersten Woche noch verhält man sich stiller, ruht gewissermaßen aus, in der vierten desgleichen und kommt in der siebenten seinen religiösen Pflichten nach. Zwischendurch aber werden Konzerte, und deren gibt es täglich, des Morgens, oft sogar mehrere an einem Tage, besucht. Die berühmtesten Künstler Europas kommen zu dieser Zeit dorthin und man übersättigt sich so an Gesang, lebenden Bildern, Oratorien und Anderem, dass man froh ist, zu Ostern wieder eine Abwechslung zu erfahren, wieder ins Theater gehen zu können. Man Zählt deren vier kaiserliche, 1) das große Theater für die italienische Oper und das Ballet, 2) das Marientheater für die russische Oper und Schauspiel, 3) das Alexandertheater, gleichfalls für das russische Drama, 4) das Michaeltheater, in welchem Franzosen und Deutsche abwechselnd ihre Vorstellung geben. Außerdem ist noch ein théâtre bouffes und das Theater des Herrn Berg für Posse, Offenbachiaden usw. vorhanden.

Der Sonntag vor Ostern, der Palmensonntag, bringt den Kindern Geschenke; man schmückt Haus und Gottesbild mit sogenannten Palmen (oder eigentlich Weidenruten mit den daran hängenden Blütenkätzchen). Statt der natürlichen werden oft künstliche geschaffen und der Palmenmarkt im Gostinnoidwor ist gedrängt voll von Spaziergängern, besonders Kindern jedes Alters. Jeder kauft an diesem Tage Sträußchen und Blumen; die Reicheren aus den Treibhäusern die prachtvollsten Centifolien, Hyacinthen, Veilchen u. s. w. Die Hausgenossen wecken einander durch sanfte Rutenschläge mit den frischen Weiden; die Mutter schleicht sich vor das Bett des Kindes und weckt es unter Scherzen und Singen des Verses: „Die Rute schlägt, schlägt zu Tränen. Nicht ich schlag', die Rute schlägt!" — Die Palmenruten sollen eigentlich Die bestrafen, welche die Frühmesse verschlafen.

Obgleich jetzt fast überall in Petersburg das Weihnachtsfest nach deutscher Weise durch Geschenke und Weihnachtsbaum für die Kinder gefeiert wird, so ist und bleibt dem Russen doch das Osterfest das erste und höchste. Auch in Deutschland sieht man in katholischen Ländern, in den Rheinprovinzen z. B., die bunten und roten Ostereier. Nur für den Osterverbrauch der Stadt Petersburg lassen sich etwa zehn Millionen dieses zerbrechlichen Produkts nachweisen. Ist das nicht eine hübsche Zahl? Auch die Zahl der an diesem Tage verzehrten Orangen geht ins Unglaubliche, auf allen Plätzen und Straßen sieht man Eier- und Orangenschalen. Man küsst sich am Ostersonntage oder in der Osternacht nach der Messe dreimal und sagt: „Christoss woskrezz!" (Christ ist erstanden) worauf man die Antwort erhält: „Wo istinno woskress!" (Er ist in Wahrheit auferstanden). Der Kaiser empfängt in seinem Palaste alle Würdenträger, Generale, ja herab bis zum Unteroffizier der Gardetruppen, und wechselt mit ihnen Gruß und Kuss. Bei dieser Gelegenheit erzählt man sich, wie ein General einem auf Schildwache stehenden Posten, an dem er vorbeigeht, sein „Christoss woskress!" zuruft. Dieser präsentiert sein Gewehr und antwortet mit langem Gesicht: „Nein, Ihre Exzellenz!" Der General stutzt und bleibt stehen. „Ich bin ein Jude", fügt der Soldat ängstlich hinzu. — „Ah so!" antwortet der Chef; „nun, schon gut." — Alles macht am Ostersonntag Vorgesetzten, Bekannten und Verwandten, gleich wie am ersten Jahrestage, förmliche Besuche, um seine Glückwünsche abzustatten. Alle Equipagen in der Stadt sind in Bewegung, wohin man nur sieht, Zivil- und Militäruniformen, Orden und Sterne. An keinem Tage sieht man so viele Betrunkene als an diesem; glücklicher Weise ist der Russe, wenn er berauscht ist, sehr gutmütig, nicht zanksüchtig; oft wird er zärtlich und wehmütig gestimmt, nie vergisst er sich gegen einen Höhergestellten und bleibt stets höflich, zutraulich. Dass nach den langen Fasten heute Mancher des Guten zu viel tut, namentlich im Volke, ist begreiflich; nie gibt es so viele Kranke als zu dieser Zeit. Jeder Russe sucht in der Osternacht die Kirche zu besuchen und dem feierlichen Mitternachtsgottesdienste beizuwohnen, um, eine brennende Wachskerze in der Hand, vom Geistlichen das „Christoss woskress" verkünden zu hören, Worte, die ohne Zweifel vor 2000 Jahren die vor Christi leerem Grabe stehenden Jünger sprachen.