Übersiedelung nach Jasnaja Poljana

Das war das geistige Schicksal dieses gewaltigen Mannes, dessen Suchen nach seiner eigentlichen Berufung wir jetzt betrachten wollen.

Zunächst siedelt Tolstoi nach Jasnaja Poljana über, und zwar von vornherein wohl nur in der Absicht, das ihm als Erbteil zugefallene Gut in zeitgemäßer Weise zu bewirtschaften. Dabei entging es aber seinem scharfen Verstande keineswegs, dass die Grundlage hierzu vernünftige, freundschaftliche Beziehungen zu den Leibeigenen bilden. Tolstoi sah sich darum ihr Leben etwas näher an — auf der Universität war, wie wir wissen, das ,,Volk“ für ihn nicht vorhanden gewesen, — und sah einem namenlosen Elend ins Auge und einem in seinen Folgen gar nicht auszudenkenden gesellschaftlichen Verbrechen, das hier vor ihm lag greifbar als seine ganz persönliche Schuld. Für den Innenmenschen in Tolstoi wäre dabei diese Erkenntnis ein restloser Glücksfall gewesen, wenn Tolstoi es nicht verschmäht hätte — und er konnte wohl nicht anders seinem ganzen sittlichen Temperamente nach, — für seine persönliche Schuld Milderungsgründe zu finden in dem Umstände, dass sie eben auch Gesellschaftsschuld darstellte, das heißt, dass er in sie hineingeboren und hineinerzogen worden war. Weil aber Tolstoi dies nicht einsehen wollte, musste ihm die eigene Schuld nicht nur überwältigend groß erscheinen, sie musste ihm auch völlig unverständlich vorkommen: allzu sehr im Gegensatze stehend zu seinem ganzen bewussten Wesen zu seinem reinsten und höchsten Streben. Tolstoi gelangte wohl so — durch diese furchtbare Schulderkenntnis, die er mit niemandem zu teilen vermochte — zu jenem unseligen Misstrauen der eigenen Empfindung gegenüber, da, wo sie sich im Gegensatz stehend offenbart zu für ihn ein für allemal feststehenden Grundsätzen. Tolstoi ward so Selbstpeiniger und damit auch Menschenverkenner. Das Tragische liegt hier darin, dass dieser Mensch, der überall da, wo er sich seinem Instinkte überlässt, sicher ist wie ein Gott und schlechthin Vollendetes leistet, dass dieser Mensch jegliches Zutrauen zu seinem Instinkte plötzlich verliert (im Angesichte einer Schuld, die ihm rätselhaft erscheinen musste, weil er das Unbewusste an ihrem Zustandekommen nicht anzuerkennen vermochte — und das wohl mehr aus seelischen wie aus geistigen Widerständen). Es bleibt diesem Menschen nur noch das Zutrauen zu seinem Denken, und letzteres ist natürlich der schwächere Teil bei einem so überreichen Instinktmenschen. (Und um so schwächer offenbart sich das Denken in dem Gewissensruhe erstrebenden Tolstoi, als sein Instinkt hier nicht einmal mehr zugelassen ward zur Mitentscheidung.) So kam diese große Seele in den Kerker der engen Doktrin. Eine furchtbare Tragik!



Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland 1 - Tolstoi