Übersiedelung der Familie nach Kasan zum neuen Vormund: P. I. Juschkoff (der Schwester des Vaters)

Zum Vormund der Waisenkinder ward nunmehr die jüngere Schwester der Verstorbenen bestellt, Pelagea Iljinischna, die an den Kasaner Gutsbesitzer Juschkoff verheiratet war. Sie zog sogleich von Kasan nach Moskau, wohin im Herbste alle Kinder mit der Tante Jergolsky nachfolgten. Tolstois ältester Bruder Nikolai, damals bereits Student im ersten Semester, begrüßte den neuen Vormund mit den Worten: „Verlassen Sie uns nicht, liebe Tante, wir haben nur Sie auf der Welt!“ Pelagea Iljinischna brach in Tränen aus und beschloss, „sich zu opfern“. Zunächst bestellte sie große Barken auf der Moskwa und ließ damit beladen, was man nur immer aus Jasnaja Poljana ausführen konnte. Auch alle in der Hauswirtschaft verwandte Leibeigene nahm sie mit: Tischler, Schneider, Schlosser, Tapezierer. Jedem der Neffen, Tolstoi war damals dreizehn Jahre alt, ward von ihr als persönlicher Diener ein gleichalteriger Leibeigener mitgegeben (der natürlich Eltern und Geschwister zurückgelassen hatte). Tolstoi hat diesen Einfall seiner Tante später sehr bedauert. Und wenn er selber auch, dem bei aller kraftvollen Männlichkeit niemals auch nur eine Spur von Rohheit eignete, bis an sein Lebensende mit seinem „Wanjuschka“ in freundschaftlichster Beziehung stand, so hat doch sein Bruder Mitja seinen Leibeigenen bisweilen geprügelt, freilich, um ihn dann hinterher demütig um Verzeihung zu bitten. Welche Rohheiten sich aber ganz im allgemeinen diese unerfahrenen Herrensöhnchen ihren wehrlosen Leibeigenen gegenüber damals erlaubten, darüber gibt uns Tolstoi im ,,Knabenalter“ hinlänglich Aufschluss in jener Szene, wo der sonst als Ideal geschilderte Nechludoff (bekanntlich die Verkörperung von Tolstois besserem Selbst) einfach aus schlechter Laune seinen kleinen Diener schändlich misshandelt, um dies dann gleich wieder zu vergessen, sich in ideale Zukunftsträume zu verlieren und bis zu Tränen gerührt über die eigene Güte einzuschlafen, — ohne dass hier weiter von dem misshandelten Diener, dem keineswegs Abbitte geschah, auch nur mit einem Wort die Rede ist!

In zahllosen Equipagen und Lastwagen zog nun die Familie Tolstoi mit allen ihren Hofleibeigenen im Herbste von Tula nach Kasan. Das war für die Kinder ein großes Fest: man hielt unterwegs, wo es einem gerade passte, übernachtete im Walde, pflückte Beeren, sammelte Pilze (ein russisches Nationalvergnügen), badete im Flusse und machte weite Spaziergänge. Tolstoi hat diese, bei uns, im bevölkerten Westen, so gut wie unbekannten Freuden eines wochenlangen Herumschweifens in der freien Gottes weit wundervoll geschildert zu Beginn seiner Novelle „Jünglingsalter“.


Großen Schmerz hatte den Kindern vor der Abreise der Abschied von der Tante Jergolsky bereitet, die nach dem Tode der Gräfin Osten-Sacken zu ihren Schwestern zog, da ihr der neue Vormund, die Tante Juschkoff, noch immer nicht verzeihen konnte, dass einst ihr Mann in sie (in Tante Jergolsky) verliebt gewesen war, ihr einen Antrag gemacht und sich dabei einen Korb geholt hatte. Das konnte Pelagea Iljinischna der Jergolsky niemals vergessen, wenn auch ihre persönlichen Beziehungen äußerlich freundschaftliche blieben. Dieser Mann von Pelagea Iljinischna, der verabschiedete Husarenoberst Juschkoff, war übrigens ein gebildeter, witziger und im Grunde weichherziger Mensch, dabei aber ein großer Spaßmacher und ein unverbesserlicher Unsinntreiber. Mit seiner gutmütigen, aber recht beschränkten Frau ist er nie so recht ausgekommen. Sie lebten oft, und auf lange Zeit, voneinander getrennt. Nach seinem Tode trat Pelagea Iljinischna — sie war von jeher sehr fromm gewesen — in das Kloster „Optina Pustynja“. Später lebte sie im Frauenkloster in Tula und siedelte endlich nach Jasnaja Poljana über, wo sie in hohem Alter starb: „Sie, die im Verlaufe ihres ganzen Lebens peinlich die Vorschriften der orthodoxen Kirche befolgt hatte, weigerte sich als Achtzigjährige aus Angst vor dem Tode, das Abendmahl zu nehmen und war zornig zu allen ihres Leidens wegen!“ (Aus Tolstois Briefen.) Im Hause dieser Tante in Kasan verbrachte Tolstoi die folgenden vier Jahre seines Lebens (1841 — 1844).


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland 1 - Tolstoi