Tolstois erster Anblick der Berge

Von Astrachan ging es dann mit Postpferden über den Kislar zur Station Starogladowsk, wo Nikolai diente, und Tolstoi einstweilen sich als Privatperson niederließ. Zunächst war er enttäuscht: die Station lag in der Ebene und bot keinerlei Aussicht. Zudem war die Unterkunft natürlich sehr mangelhaft, Tolstoi entbehrte die gewöhnlichsten Bequemlichkeiten und fand auch, wie er seiner Tante schrieb, dass die Offiziere ohne Erziehung seien, ,,wenn auch sehr tapfer und von großer Liebe zu Nikolai.“ Im Anfang habe vieles in dieser Gesellschaft sein Missfallen erregt, bald aber habe er ein Auftreten angenommen, das in gleicher Weise Stolz wie Familiarität ausschließe, worin er übrigens nur seinen Bruder Nikolai sich zum Vorbilde zu nehmen gebraucht habe. Das alles änderte sich, als Nikolai kurze Zeit darauf in das befestigte Lager Stary-Jurd abkommandiert wurde, das zum Schutz der an den eben erst entdeckten heißen Quellen von ,,Garjätscho-Wodsk“ (wörtlich „Heißwasser“) Heilung suchenden Kranken errichtet war. Auf dem Wege dahin sah Tolstoi zum ersten Male die Bergriesen des Kaukasus. Er hat diesen Eindruck in den „Kosaken“ wiedergegeben:

,,Der Morgen war völlig wolkenlos. Plötzlich sah er (Olenin, unter welchem Namen Tolstoi bekanntlich in den „Kosaken“ sich selber schilderte) zwanzig Schritte vor sich, so schien es ihm wenigstens im ersten Augenblick, reine weiße Massen mit ihren zarten Umrissen und die wunderlich haarscharfen Grenzlinien ihrer Gipfel und des fernen Himmels. Und als er die ganze Weite begriffen hatte zwischen sich, den Bergen und dem Himmel, das ganze Ungeheure der Bergwelt, und als ihm die Unendlichkeit ihrer Schönheit zum Bewusstsein kam, da erschrak er: er fürchtete, das alles möchte nur eine Wahnvorstellung sein, ein Traum. Er schüttelte sich, um zu erwachen, — aber die Berge standen immer noch da. ,,Was ist denn das?“ frug er den Fuhrmann. ,,Das sind doch die Berge,“ antwortete der gleichmütig. Bei der raschen Bewegung des Dreigespanns auf dem ebenen Wege schien es, die Berge Hefen am Horizonte dahin, leuchtend in der aufgehenden Sonne mit ihren hellrosafarbenen Spitzen. Anfangs beunruhigten nur die Berge Olenin, später erst erfüllten sie ihn mit Freude. Als er sich dann aber mehr und mehr hineinsah in diese nicht aus anderen schwarzen Bergen, vielmehr unmittelbar aus der Ebene herauswachsende und gleichsam davonfliehende Kette von Schneegipfeln, da begann er allmählich einzudringen in diese Schönheit, da erfühlte er die Berge. Von diesem Augenblicke an nahm alles, was er nur erblickte, alles, was er dachte, alles, was er fühlte, für ihn den neuen, strengen, erhabenen Charakter der Berge an.


Alle Moskauer Erinnerungen, alle Scham und Reue, alle banalen Vorstellungen vom Kaukasus, sie alle entschwanden und kehrten nicht wieder. „Jetzt hat es angefangen!“ sagte ihm eine geheimnisvolle, feierliche Stimme . . . und der Weg und der in der Ferne eben sichtbare Streifen des Terek und die Kosakenlager und das Volk, das alles erschien ihm jetzt schon nicht mehr wie ein Spaß. Er blickt nach dem Himmel — und denkt an die Berge. Er blickt auf sich, auf den Burschen Wanjuscha — und wiederum die Berge! Da reiten zwei Kosaken vorüber, ihre Gewehre baumeln gleichmäßig hin und her auf ihren Rücken, und ihre Pferde mischen ihre braunen und grauen Beine aber die Berge! Jenseits des Terek steigt Rauch empor aus einem Dorfe — aber die Berge! Die Sonne geht auf und glänzt auf dem durch das Ried hindurchschimmernden Terek — aber die Berge! Aus der Kosakenstation fährt ein Karren, Frauen gehen nebenher, schöne Frauen, junge — aber die Berge! „Die Abreken lauern in der Steppe, ich aber fahre dahin und fürchte sie nicht, ich habe ein Gewehr, ich bin stark, ich bin jung — aber die Berge!“

Die Station Stary-Jurd war wundervoll gelegen. „Ein ungeheures Felsengebirge, ein Fels über den anderen getürmt. Einzelne Felsen haben sich losgelöst und bilden gleichsam Grotten, andere Felsen wiederum erscheinen hängend in gewaltiger Höhe. Alle sind sie durchbrochen von Strömen heißen Wassers, die tosend herabstürzen und namentlich am Morgen den Gipfel des Berges in weißen Dampf hüllen. Das Wasser ist so heiß, dass man darin in drei Minuten ein Ei hart kochen kann.“


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland 1 - Tolstoi