Tolstois damaliges Verhältnis zum Staat als Ausfluss seiner Klassenvorurteile

Wir möchten die Schilderung von Tolstois Jugendzeit nicht verlassen, ohne wenigstens einen flüchtigen Blick zu werfen auf die Kulturverhältnisse des damaligen Russland. Durch sie wurde — das unterliegt für uns keinerlei Zweifel, und wir haben das bereits hinsichtlich Tolstois Verhalten zur Leibeigenschaft angedeutet — Tolstois geistiger Werdegang, und damit seine ganze spätere Lebensführung und Lebensauffassung in hohem Masse mitbestimmt. Zunächst sei einmal festgestellt, und das bedarf wohl kaum des Beweises, dass das damalige Russland überhaupt keine irgendwie auf die Allgemeinheit gerichtete Tätigkeit bot, die einem einigermaßen selbständigen Geiste auszuüben möglich gewesen wäre. Und gerade Tolstoi zog es von vornherein seinem ganzen Wesen nach zu einer Wirksamkeit für viele, für alle. Dass aber Tolstoi selber damals den politischen Druck gar nicht zu bemerken schien (nicht einmal als Student, wo doch dem jungen Russen die politische Bedrückung in ihrer ärgerlichsten Form entgegentritt: als geistige Bevormundung), dass Tolstoi tatsächlich bis in sein reifes Mannesalter hinein sich in politischer Hinsicht durchaus gleichgültig verhielt, das mag wohl vor allem darin seinen Grund haben, dass Tolstoi als Mitglied der privilegierten Klasse, und dazu noch von reicher Abkunft, eine ganze Menge Freiheiten genoss, die der Masse der russischen Untertanen durchaus versagt blieben. Hinzu kommt, dass die Einrichtung der Leibeigenschaft und die Blüte der damals allein herrschenden Landwirtschaft — von einer Industrie war in dem damaligen Russland so gut wie gar nicht die Rede — dem einigermaßen tüchtigen Landwirte ein derartiges materielles Wohlleben und eine solche persönliche Verwöhnung gestatteten, wie wir es uns heute kaum noch vorzustellen vermögen. Es ist dabei nur menschlich und eigentlich selbstverständlich, dass der, dem es materiell so gut geht, dass ihm kaum irgendwelche Wünsche bleiben, nur unter ganz besonderen Umständen einen Anstoß finden kann dazu, nachzudenken über die Zustände seines Vaterlandes, unter denen andere zu leiden haben. Hinzu kommt ferner, dass dem Mitglied des Hochadels der Staat, der seine Vorrechte schützt, und an dessen Leitung seine Familie von jeher beteiligt war, eine unantastbare Sache sein muss. Der Hochadelige unter einem despotischen Regiment, namentlich, sofern er noch Großgrundbesitzer ist, identifiziert sich unwillkürlich mit dem Staate. Das versteht sich eigentlich ganz von selber. Wir haben das auch bei uns erlebt. Wehe aber dem Staate, wenn er die Vorrechte des großagrarischen Hochadels anzutasten wagt! Dann werden die hochadeligen Stützen des Staates zu bedenklichen Umstürzlern! Auch das haben wir erlebt, und auch hierin bleibt Tolstoi eigentlich sein Leben lang Großagrarier: die Neigung, in dem Staate das natürlichste Mittel zur Erreichung persönlicher Zwecke anzusprechen, — handele es sich dabei nun um wirtschaftliche Vorteile oder um Befriedigung von Gewissensbedürfnissen — ist bei Tolstoi stets die gleiche geblieben. Seine Stellung zum Staate war und blieb die eines hochadeligen Großagrariers. Tolstoi ist, und darüber dürfen wir uns weder wundem, noch dürfen wir es verschweigen, Stockkonservativer gewesen, bis er zum radikalen Bodensozialisten und zum fraglosen Anarchisten ward. Der Staat war für Tolstoi solange eine unantastbare Sache, bis er in ihm die Ursache allen Übels ansprach. Das erklärt in vielem den späteren Sozialpropheten. Das politische Freiheitsstreben aber innerhalb der gegebenen Ordnung, der Liberalismus also, ist Tolstoi zeitlebens nicht nur unverständlich geblieben, ihm vielmehr bis ganz zuletzt ein Gegenstand der Verdächtigung, des Hasses und des Spottes gewesen (woran freilich auch ererbt übernommenes Klasseninteresse unbewusst seinen Anteil haben mochte: Der Hochagrarier ist einfach wütend darüber, dass diese unvornehmen Liberalen, diese Leute, die er ihrer Uneleganz wegen sonst einfach übersieht, dass sie es wagen, die Vorrechte seines Standes anzugreifen, die Vorrechte, die sich so mühelos in klingende Münze umsetzen lassen!). Sobald aber Tolstoi, der bekehrte Tolstoi, der Fünfzigjährige, nur erst eingesehen hatte, dass die materielle Bevorzugung, die ihm als Großagrarier die geltende Staatsordnung gewährte, ungerecht ist, dass sie nur auf Kosten des armen Volkes sich verwirklichen kann, da warf er auch gleich den ganzen Staat beiseite. Tolstoi war aber ursprünglich nur sehr schwer dazu zu haben, den Staat, der die Vorrechte seines Standes schützte, irgendwie schuldig zu finden, und dies bringt ihn denn in seltsame Verlegenheiten. Fast tragikomisch berührt es uns ja, wenn der spätere Schulmeister von Jasnaja Poljana an den Mängeln der russischen Volksschule die armen Schulmeister allein schuldig spricht und sie maßlos schilt und verdächtigt, statt die Schuld hier vor allem in den sozialen Nöten des Volkes zu suchen und schließlich, und nicht zum wenigsten in der Ausbeutung, die das arme Volk erleidet, auch durch das Agrariertum, dem der Schulmeister von Jasnaja Poljana selber angehörte. Der Staat war eben von Hause aus ihm nur Mittel, er war nur für ihn da, Tolstoi vermochte es niemals zu fassen, dass andere Menschen, die selber ihr ganzes Leben lang um ihre elementarsten Rechte zu kämpfen hatten, trotz aller Ungerechtigkeiten, die sie von selten des Staates erleiden, doch weder dessen reale Wohltaten übersehen, noch seine Notwendigkeit verkennen, vielmehr an eine allmähliche Besserung der Verhältnisse innerhalb der geltenden Staatsordnung glauben können. Vielleicht sträubt sich gegen solchen Standpunkt dem Staate gegenüber auch der Künstler in Tolstoi. Die ewigen Kompromisse, zu denen jede politische Tätigkeit verurteilt ist — schließlich kommt alles doch nur darauf hinaus, das Mittel zu finden zwischen entgegengesetzten Willensrichtungen, — waren und blieben Tolstois Künstlerseele zuwider. Er wollte von jeher alles oder nichts. So übersah auch Tolstoi im russischen Liberalismus die selten hohe Idealität und die beispiellosen persönlichen Opfer, um einzig und allein auf die hier wie überall unausbleiblichen menschlichen Kleinlichkeiten höhnisch hinzuweisen und in ihnen das eigentliche Wesen der ganzen Bewegung anzusprechen, was ebenso unintelligent wie ungerecht ist. Tolstoi hat aber zeitlebens den Liberalismus gehasst. Für jenen rührenden, unerschütterlichen Glauben der russischen Liberalen an bessere Zeiten und ihr dankbares Aufatmen bei jeder kleinsten Einlenkung von Seiten des despotischen Regimentes hat er nur bittersten Spott. (So in der Vorrede zu den „Dekabristen“.) Das alles lag bereits im Studenten Tolstoi: der verhöhnte die Wissenschaft als solche, weil er nicht zugeben wollte, dass das, was ihm als Wissenschaft geboten wurde, infolge polizeilicher Zensur doch nur die Karikatur einer Wissenschaft darstellte. Der Abkömmling von Hochagrariern und hohen Staatsbeamten konnte eben nicht den Staat an irgendeinem Übel schuldig finden. Das geht so weit, dass noch der Dreiunddreißigjährige sich zu der seltsamen Behauptung verstieg, die Aufhebung der Leibeigenschaft sei ausschliesslich das Werk der Regierung, weder der Gesellschaft, noch den freiheitlichen Dichtem käme dabei irgendein Verdienst zu! Aus der Abneigung des Aristokraten und Künstlers Tolstoi gegen jedes Kompromisswerk stammt denn wohl auch zum Teil wenigstens sein späterer Radikalismus, sein Nichtrechnenwollen mit der Notwendigkeit, eine Willenseinheit im Volke zu erzielen, und damit seine unselige Neigung für das Wesentliche in den Einrichtungen des Staates ihren Missbrauch und ihre Karikatur anzusprechen, um dann hieraus mit Mephisto zu schliessen, es sei besser, dass der Staat überhaupt nicht bestehe (wobei Tolstoi freilich sich die Augen zuhalten muss gegenüber den sehr realen Verdiensten auch des schlechtesten Staates, was ihm wiederum nur gelingt durch Annahme eines von Hause aus guten Menschen). Tolstois Aristokratismus, sein Hineingeborenwerden in soziale Wunschlosigkeit ist meiner Ansicht nach auch eine der Ursachen seiner von jeher unhistorischen Denkungsweise. Indes verlangt die Gerechtigkeit hierfür auch noch eine andere Wurzel aufzuzeigen, und das ist der von früh auf Tolstoi eigene geniale seelische Tiefblick. Tolstoi sieht tatsächlich von Hause aus — und wir wollen hierbei gar nicht untersuchen, wieweit da instinktiver Selbstrechtfertigungstrieb des „Seelenbesitzers“ mit im Spiele war — stets tiefer als die naturgemäss zunächst nur an der Oberfläche wirkenden politischen und sozialen Maßnahmen dringen können: Tolstoi sieht stets den ganzen Menschen vor sich als Gegenstand der politischen Einwirkung, den Menschen mit seinen tiefsten Bedürfnissen, mit Seelenbedürfnissen, die der Staat an sich außerstande ist, zu befriedigen. Tolstoi hatte, wenn er an den Menschen dachte, fast ausschließlich diejenigen seiner Bedürfnisse vor Augen, bei deren Befriedigung der Mensch immer und überall nur auf die freiwillige Rücksicht des Mitmenschen angewiesen ist. Das mag letzten Endes vielleicht darin liegen, dass Tolstoi, sein Leben lang jeder elementaren Lebensnot überhoben, selber nur solche Bedürfnisse empfand, die auch dem bevorzugtesten Sterblichen nur freiwillig befriedigt werden können durch seine Mitmenschen. Tolstoi übersieht dabei aber, dass man doch erst die äußeren Schranken politischer und sozialer Natur beseitigen muss, damit der Mensch, der um Befriedigung seiner elementarsten Bedürfnisse zu ringen hat, überhaupt zum Bewusstsein kommen kann der Rücksichten, die er auf seinesgleichen üben möchte, und damit ihm auch Zeit und Kraft gewährt wird, diese Rücksichten tatsächlich zu üben. Dass man erst gesellschaftliche Fesseln beseitigen muss, um die Seele des Menschen freizugeben, dass diese aber an sich niemals Gegenstand politischer Einwirkung sein kann, dieser Gedanke ist leider Tolstoi unzugänglich geblieben. So hat er denn auch nach eigenem Geständnis die Aufhebung der Leibeigenschaft ohne irgendwelche Begeisterung erlebt. Er träumte bereits von einer ganz anderen Freiheit des Menschen. Wir sind vorausgeeilt. Wir suchten aber nur aus dem späteren Sozialpropheten den Jüngling Tolstoi zu begreifen, um einigermaßen das Rätsel zu lösen, dass dieser hochentwickelte und überempfindliche junge Mann als Student nie und nirgends seinem Verdruss, nicht einmal seiner Verwunderung Ausdruck verliehen hat über den furchtbaren politischen Druck, der damals auf Russland lastete, und die freiesten russischen Männer gerade damals in Tod und Verbannung trieb. Das völlige Unverständnis des Studenten Tolstoi für die politischen, sozialen und geistigen Nöte seiner Zeit ist zweifellos, — und wir haben dafür keine andere Erklärung, als dass der Abkömmling hochadeliger Großgrundbesitzer und höchster Staatsbeamten die Schuld an den Übeln, die wohl auch er nicht zu übersehen vermochte, erst überall anderswo suchen musste als beim Staate, in dem er ein Stück von sich selber erlebte: so taugt in Tolstois Augen die europäische Wissenschaft darum nichts, weil er nicht einsehen will, dass die russische Wissenschaft polizeilich entmannt war. Ferner: die Pädagogen aller Länder sind niedrige Egoisten, weil der russische Staat nicht schuld sein kann an dem Elend der russischen Volksschule! Wir erkennen somit hier in Tolstois Aristokratismus eines der großen Hemmnisse, die vor seinem Riesengeiste lagern, und ihn ablenken von der Wahrheit und von der Gerechtigkeit. Übersehen wir aber dabei nicht, dass Tolstoi erst neunzehn Jahre alt war, als er die Universität verließ, und dass, wie wir gleich sehen werden, das soziale Elend seiner Leibeigenen unmittelbar darauf mit so elementarer Gewalt vor seine Seele trat, dass er von nun an ihr furchtbares Schicksal als einen ganz persönlichen Vorwurf überhaupt nie mehr vergessen konnte, und ihm demgegenüber die politischen Mittel des Liberalismus kleinlich erscheinen mussten. Tolstoi wollte andere soziale Gesinnungen, und er wollte nicht daran glauben, dass politische Reformen, wenn sie auch niemals Gesinnungen schaffen, vielmehr nur aus schon vorhandenen hervorgehen können, doch auch wiederum schlummernde Gesinnungen zu wecken imstande sind, und ihnen dann die Hemmnisse forträumen in unserer Seele. Tolstoi wollte nicht einsehen, dass wir unvollkommenen Sterblichen keine anderen Mittel haben zu einem Wirken im großen für den Nächsten als eben die politischen, weil wir ja alle verschiedenen Wesens sind, und uns darum jede Maßnahme für alle, die nicht auch von allen in freiwilliger Übereinkunft entschieden wurde (und dabei natürlich zum Mittelmäßigen verstümmelt werden muss), als das schlimmste aller Übel erscheinen muss: als persönliche Vergewaltigung. Tolstoi blickt aber auf die Menschen, wenn er ihnen Gutes will, vom Standpunkt des ehemaligen Seelenbesitzers aus, der am besten zu wissen meinte, was seinen Leibeigenen frommt.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland 1 - Tolstoi