Tolstois aristokratischen Vorteile

Wie nun bereits betont, gab sich Tolstoi nicht nur den Freuden des Studentenlebens hin, er übernahm auch durchaus die Vorurteile seiner Standesgenossen, der „Studentenaristokraten“, und wie das in seiner ehrlichen Natur lag, die nichts Halbes kannte, ging er auch hier bis zum Äußersten. Bezeichnend aber für die seltene geistige Selbständigkeit Tolstois ist die schonungslose Kritik, die er selber, kaum acht Jahre später, in seinem ,,Jünglingsalter“ an den Vorurteilen seiner Studentenzeit übt. Es klingt fast nach der „Beichte“ des Fünfzigjährigen, wenn in einem besonderen Kapitel des „Jünglingsalters“ der Achtundzwanzigjährige so über sein Streben nach dem „comme il faut“ spricht, „das in seinem Leben einer der allerverderblichsten und verlogensten Begriffe gewesen sei, die ihm durch Erziehung und Gesellschaft eingeimpft worden seien“:

„Meine beliebteste und zumeist angewandte Einteilung der Menschen zu der Zeit, von der ich schreibe, war die Einteilung in Leute comme il faut und in Leute comme il ne faut pas. Die letzteren teilte ich wiederum in Leute, die im eigentlichen Sinne nicht comme il faut sind, und in das einfache Volk. Die Leute comme il faut achtete ich und hielt sie für würdig, mit mir die gleichen Beziehungen zu unterhalten. Die Leute nicht comme il faut, — ich stellte mich so an, als ob ich sie verachtete, in Wirklichkeit aber hasste ich sie und hegte ihnen gegenüber das Gefühl, als ob sie mich persönlich beleidigt hätten. Die Leute schließlich, die ,das Volk‘ ausmachen, waren für mich überhaupt nicht vorhanden, ich verachtete sie vollkommen. Mein comme il faut bestand vor allem und hauptsächlich in einer tadellosen französischen Aussprache. Ein Mensch, der das Französische schlecht aussprach, erregte in mir sogleich das Gefühl des Hasses: ,Weshalb willst du sprechen wie wir, wenn du es nicht verstehst?‘ frug ich ihn in Gedanken mit giftigem Spott. Die zweite Bedingung des comme il faut waren lange, gereinigte Nägel. Die dritte Bedingung war die Kunst sich zu verbeugen und zu tanzen, die vierte und sehr wichtige war Gleichgültigkeit zu allem und jedem, und ständiger Ausdruck einer vornehmen, erheuchelten Langeweile. Außerdem hatte ich noch allgemeine Kennzeichen, nach denen ich, auch ohne mit einem Menschen zu sprechen, entschied, zu welchem Range von Leuten er gehörte . . . Das Verhältnis der Schuhe zu den Hosen entschied zum Beispiel in meinen Augen allsogleich die gesellschaftliche Stellung des Menschen . . . Seltsam ist es dabei, dass gerade mir, der ich ausgesprochene Unfähigkeit zum comme il faut besaß, dieser Begriff derart eingeimpft war, oder vielleicht ist er mir gerade deshalb so tief eingeprägt gewesen, weil es mir große Mühe bereitete, das comme il faut zu erreichen. Es ist mir furchtbar, daran zu denken, wieviel unschätzbare, beste Zeit in meinem sechzehnten Lebensjahre ich darauf verwendete, diese Eigenschaft zu erwerben.“


In derselben Novelle „Jünglingszeit“ erzählt auch Tolstoi, wie er, der verwöhnte Aristokrat, sich in Gesellschaft armer Studenten zum Examen vorbereitete, wie er denen durchaus nicht mit seiner Equipage imponierte, wie sie im Gegenteil nur zurückhaltender wurden, je mehr er seine bevorzugte Lage herauskehrte, und wie schließlich er sie beneidete. (Eine Schilderung übrigens, die bereits ein so tiefes soziales Verständnis erkennen lässt, dass man sich nur wundert, dass die soziale Umkehr Tolstois so spät erfolgte.) Tolstoi gibt auch bei dieser Gelegenheit eine ganz wundervolle Schilderung jenes kecken, lebensfrohen, übergewandten russischen Studententyps, der sich nur so kurze Zeit erhalten sollte. (Es ist dabei wohlfeil zu sagen, der Student habe sich nicht um Politik zu kümmern. Auch braucht man gar nicht einmal die wüsten Ausschreitungen des russischen Studenten in Abrede zu stellen. In einem Lande aber, wo die Not des Volkes zum Himmel schreit, und niemand sie sehen will außer der Jugend, wer will da den Studenten verbieten, die Freuden ihres Alters zu verachten und politischem Märtyrertum zuzustreben?)


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland 1 - Tolstoi