Tolstois Vaterlandsliebe

Der Eintritt Tolstois in die kriegführende Armee — und Tolstoi hat überhaupt nur in solchen gedient — und darauf in das Offizierkorps übte natürlich einen mächtigen Eindruck auf Tolstois empfängliche Seele. Bei aller persönlichen Erfindlichkeit durchaus männlich, hat Tolstoi von jeher lebhaftesten Geschmack bewiesen für alles Tapfere, Tollkühne, Waghalsige. (Einen ganz anderen Geschmack übrigens und einen weit natürlicheren wie der, dem wir bei Stendhal oder Nietzsche begegnen, deren Verherrlichung der rein brutalen Männlichkeit, die Tolstoi niemals verherrlicht, einen etwas fatalen Beigeschmack hat: so überschwänglich und kritiklos liebt man in der Regel nur das, was einem selber unerreichbar bleibt.) Tolstoi, dessen persönliche Tapferkeit über allem Zweifel steht — freilich war er auch hier durchaus aufrichtig und hielt sich frei von allem Renommieren — verzeiht nun tatsächlich tollkühnen Gesellen sehr vieles, was er anderen niemals verzieh (sie müssen nur frei sein von jeder kleinlichen persönlichen Berechnung. Das verzeiht Tolstoi niemandem, weder im Leben noch in der Dichtung).

Wir werden in Tolstois späteren Romanen einigen offenbaren Lieblingen des Dichters begegnen, die bei aller Tollkühnheit auch sehr bedenkliche Seiten haben (vor allem Dolochoff in „Krieg und Frieden“). Tolstoi hat dabei aber niemals irgendeine Brutalität entschuldigt. Für ihn war Männlichkeit etwas Selbstverständliches, wenn sie auch bei der Unvollkommenheit unserer Rasse nicht allzu häufig anzutreffen ist; dabei gab Tolstoi überhaupt als erster eine überzeugende Psychologie der Tapferkeit: er scheute sich nicht, immer und immer wieder zu betonen, dass Tapferkeit in nichts anderem bestehe, als in einem durch Erfahrung zur Gewohnheit gewordenen Nichtdenken an die Todesgefahr, an die selber kein Mensch sich jemals gewöhne. Das Männliche in der Tapferkeit sei nur der Entschluss, in der Gefahr nicht an sie denken zu wollen. Um ihn aber ausführen zu können, den Entschluss zur Tapferkeit, dazu bedürfe es jedesmal der Praxis: der nachmals todesverachtende Soldat habe bei seinem ersten Treffen die natürliche Lust gehabt, davonzulaufen.


Tolstois große intellektuelle Ehrlichkeit an der in unserem Falle wohl auch seine ererbte aristokratische Abneigung gegen jede kleinbürgerliche Verstellung mitspielen mag — machte aus ihm den ersten Realisten des Krieges. Und das von vornherein, und trotzdem der damalige Tolstoi nach wiederholtem Geständnis durchaus nicht unempfänglich war für den Gedanken an persönliche Auszeichnung und an den Ruhm und die Größe seines Vaterlandes.

Das Vaterland bedeutet ja letzten Endes nichts anderes als ein erweitertes Ich, als ein größerer Rahmen für die eigene Persönlichkeit dem, der sich seines Vaterlandes bewusst wird. Und Tolstoi war ehrgeizig — und das heißt im Russischen „sich selber liebend“ — wenn auch Tolstois Ehrgeiz von jeher die vornehme Färbung trug einer Selbstachtung, die sich vor allem darauf gründet, dass dieses Selbst sich als Träger allwertvoller Gedanken und Ideale erkannt hat. Es sei auch hier schon ausgesprochen, dass Tolstois ererbter und wohl durch sein Offiziertum noch sehr gesteigerter Patriotismus in seinem Hauptroman „Krieg und Frieden“ zu einem Chauvinismus ausartet, der ihn, den sonst peinlich Gewissenhaften, die einfachsten geschichtlichen Tatsachen verkennen lässt, wovon noch ausführlich zu reden sein wird. Die Offizierserziehung fiel eben bei Tolstoi in vielen Dingen auf einen äußerst günstigen Boden. Auch nahm sie Tolstoi, dem jede Halbheit widerstand, nachdem er sich einmal zu ihren Forderungen bekannt hatte, nun auch gleich bis in ihre letzten Folgerungen hinein ernst. Dabei muss es freilich rückhaltlos zugestanden sein, dass Tolstoi auch als Angehöriger der Armee und des Offizierkorps durchaus sich selber treu blieb, ja, dass überhaupt erst in dem Offizier Tolstoi einzelne seiner rein menschlichen Eigentümlichkeiten ihre endgültige Ausprägung erhielten, so seine ausgesprochene Vorliebe für den kleinen Mann und sein ausschließliches Werten der Menschen nach ihren Verdiensten (nicht mehr nach ihren Vorrechten wie früher). Tolstois große Liebe zum russischen Bauern scheint ihm tatsächlich erst im Felde zum Bewusstsein gekommen zu sein, im Umgang mit dem einfachen russischen Soldaten, den er in seinen Kriegsnovellen nicht müde wird, in der eingehendsten und bei allem Wirklichkeitssinn und vielleicht gerade infolge seiner so außerordentlich ergreifenden Weise zu schildern.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland 1 - Tolstoi