Tolstois Sinnlichkeit und seine Geschlechtsethik

Wie unaufhaltsam währenddessen Tolstoi weiterarbeitet an sich selber, das lehren seine Tagebucheinzeichnungen; Tolstoi findet da, dass ihm vor allem drei Leidenschaften im Wege stehen, das sittliche Ideal zu erreichen, das er sich nun einmal vorgenommen hat: das Spiel, die Sinnlichkeit oder Wollust und die Ruhmsucht. — Mit jener etwas steifen Pedanterie in moralischen Dingen, die Tolstoi, wie übrigens auch Goethe an der eigenen Person öfters mit lächelnder Nachsicht hervorhebt, definiert Tolstoi jede der drei Leidenschaften wie folgt:

1. Die Spielwut ist eine Leidenschaft des Eigennutzes, die allmählich übergeht in ein Bedürfnis nach starken Erregungen. Immerhin ist mit dieser Leidenschaft der Kampf möglich.


2. Die Wollust ist ein Bedürfnis des Körpers, das durch die Vorstellung entflammt wird. Mit der Enthaltung nimmt sie zu, und deshalb ist der Kampf mit ihr sehr schwer. Das beste Mittel — körperliche Arbeit und geistige Beschäftigung.

3. Die Ruhmsucht ist eine Leidenschaft, die weniger schädlich ist für andere als für uns selber.

Zu dem, was Tolstoi unter 2. über die Wollust sagt, ist zu bemerken, dass man meines Erachtens sehr mit Unrecht des öfteren auf Tolstois Sinnlichkeit als auf einen besonderen Charakterzug an ihm hingewiesen hat. Die nicht eben zahlreichen Szenen in Tolstois großen Romanen, wo das Erwachen sinnlicher Leidenschaft geschildert wird, können geradezu als Muster gelten in künstlerischer Zurückhaltung bei unbestechlichem Wirklichkeitssinn. Sie geben wirklich nichts als die Nachgestaltung der sinnlichen Erregungen, die der seelisch und körperlich gesunde Mensch empfindet — und, wenn er kein Dichter ist, verschweigt. — Wie überhaupt in Tolstois Sinnlichkeit auch jede Spur fehlt von Krankhaftem oder Unnatürlichem. Der Künstler Tolstoi hat dem Geschlechtlichen immer nur die Rolle im Leben der Menschen zugewiesen, die ihm gebührt, und sie ist durchaus nicht eine überragende! Wenn aber der spätere Sittenapostel Tolstoi das Geschlechtliche immer wieder berührt, so spricht auch das ganz und gar nicht für seine Sinnlichkeit, vielmehr einzig und allein dafür, wie ernst er es nahm mit seinem Lehrtum; denn nirgends unzweideutiger als im Geschlechtsleben des Menschen tritt vor den das unerbittliche Entweder — oder: willst du für dich oder willst du für den anderen? Unsere tatsächliche Achtung vor der menschlichen Persönlichkeit als solcher ist im Erleben unseres Geschlechtstriebes vor die Feuerprobe gestellt! Es muss dabei zugegeben werden, dass Tolstoi alles in allem genommen seine spätere Geschlechtsethik auf das einzige Fundament gegründet hat, auf das sie jenseits nur zu erlebender religiöser Gebote gegründet werden kann — und auch immer wieder gegründet worden ist, das heißt auf die Ehrfurcht vor der Person des Mitmenschen, die Ehrfurcht, wie sie Kant verwirklicht wissen will, wenn er ausspricht: ,,Kein Mensch darf dir bloß Mittel sein!"

Übertreibungen des späteren Sozialasketen Tolstoi sollen dabei nicht in Abrede gestellt werden; zu gelegener Zeit wird davon ausführlich die Rede sein müssen. Wer uns aber hier mit der ,,Kreutzersonate" kommen will, dem ist zu entgegnen, dass Tolstoi die dort ausgesprochenen Anschauungen über das Geschlechtsleben des Menschen einem Manne in den Mund legt, den er selber sagen lässt: er halte sich für einen Verlorenen, und von dem ausdrücklich bemerkt wird, er habe seine (durch sein furchtbares Erlebnis schon an sich begreifliche) Aufregung noch künstlich gesteigert durch übermäßigen Teegenuss und unmäßiges Rauchen. Wenn aber die „Kreutzersonate" — meines Erachtens eines der am wenigsten überzeugenden Werke Tolstois — überhaupt etwas beweist, so doch einzig und allein das eine, dass ein nervöser Mensch nicht heiraten sollte. Wenn ferner der spätere Asket Tolstoi die Künste deshalb verwirft, weil sie den Geschlechtstrieb des Men schen reizen, und wenn Tolstoi letzterem überhaupt als Theoretiker eine Bedeutung zumisst, die er ihm als Künstler, da er noch das ganze Leben vor Augen hatte, niemals beizumessen vermochte, so liegt darin meines Erachtens etwas schlechthin Ergreifendes: wir haben da vor uns die rührende Hilflosigkeit eines Menschen, der immer vollkommener werden will, und sich dabei, damit er glauben darf, dass alle Menschen vollkommen sein könnten, auf einige wenige sittliche Elementargebote festgelegt hat, in denen er das ganze sittliche Leben des Menschen eingeschlossen behauptet, und die dabei kinderleicht zu befolgen sein sollen (und es auch sind bis auf das im Leben überhaupt nicht zu befolgende Gebot: dem Übel keinen Widerstand entgegenzusetzen). Wem nun die Befolgung dieser sittlichen Elementargebote einmal zur Gewohnheit geworden ist — und das zu erreichen, fällt dem Kulturmenschen wohl nicht allzu schwer — dem würde nun nach Tolstoi streng genommen gar nichts mehr zu tun übrig bleiben. Tolstoi musste demnach immer wieder auf die paar elementaren sittlichen Gebote zurückkommen, und um dabei nicht seinem Verstände halt gebieten zu müssen vor dem ganzen vollen Leben, blieb ihm gar nichts anderes übrig, als überall im Leben ein Übertreten dieser elementaren Vorschriften zu vermuten oder zu fürchten. Hieraus erklärt sich denn auch bei Tolstoi sein geradezu in Manie ausartendes Beziehen aller möglichen Lebensäußerungen auf das Geschlechtsleben, mit dem sie streng genommen überhaupt gar nichts zu tun haben oder doch nur insofern, als alles das, was sich in einer und derselben Menschenseele abspielen muss, sich in einer ganz gewissen Untrennbarkeit befindet! (Dies sei ganz besonders betont in Hinsicht auf des Propheten Tolstois Anschauungen über die Kunst.)

Natürlich hätte Tolstoi, wie jeder andere sittlichstrebende Mensch, auch wenn er sich auf einige wenige Elementargebote versteift, — wir brauchen dazu bloß den Willen zur Rücksicht auf den Mitmenschen anzuerkennen — unendliche, nie restlos zu erfüllende sittliche Aufgaben vor sich sehen können, auch ohne diesen sittlichen Elementargeboten einen Wirkungskreis anzudichten, der ihnen keineswegs zukommt; er brauchte sich dazu bloß, ausgehend von der Erkenntnis der Bedingtheit aller Menschen (und das heißt ihrer Unerfassbarkeit für, und damit ihrer Unschuld vor jedem anderen Menschen), immer tiefer in die jedesmal unendlich verwickelten, nie restlos zu erfassenden und ewig wechselnden Verhältnisse hineinzudenken, unter denen die einzelnen Menschen vor uns hintreten, um auf immer neue, bisher übersehene, aber wenn erst einmal erkannte, gar nicht mehr abzuweisende Rücksichtsmöglichkeiten zu stoßen.

Diese einzig mögliche Weise, wie der an seiner sittlichen Vervollkommnung rastlos arbeitende Mensch unendliche Aufgaben vor sich zu sehen vermag, wollte aber Tolstoi nicht anerkennen: er brauchte eben eine kinderleicht zu befolgende, auch dem einfachsten Menschen restlos zugängliche Sittlichkeit. Er konnte nicht einverstanden sein damit, dass der Sittlichstrebende denkend bleiben muss, weil ihm Denkenkönnen wie ein Privilegium der Reichen erschien. Vor allem aber musste Tolstoi den jenseits aller Bedingtheiten stehenden, das heißt den von Hause aus guten Menschen haben, um ihn in jedem Augenblicke seines Lebens verantwortlich machen zu können. Und davon wiederum kann er nicht lassen, vielleicht vor allem deshalb, weil er für sich selber keinerlei Entschuldigungsgründe anzuerkennen vermag, — und wir wissen dabei nicht: geschieht das aus angeborener Neigung zur Selbstpeinigung oder aus grenzenloser Furcht des Übergewissenhaften vor den Sophismen, vermittelst deren die Seele sich alle Schuld wegzudisputieren pflegt, wenn man ihr nur die leiseste Handhabe dazu gewährt. So blieb denn dem Ethiker Tolstoi nichts anderes übrig, als immer wieder nachzugrübeln über die paar Elementargebote, die er der Menschheit gegeben hatte, und innerhalb deren er alle sittlichen Möglichkeiten für den Menschen eingeschlossen behauptete. Und so endigte denn dieser grosse Künstler als ein Verleumder der Kunst, und damit auch des Lebens!

Doch wenden wir uns wieder dem Lebenslaufe des Dichters zu. Schon als Junker kehrt Tolstoi von Tiflis nach Starogladowsk zurück und macht dann als Feuerwerker im Februar einen Vormarsch in Feindesland mit. Im März finden wir Tolstoi wieder in Starogladowsk, doch bereits im Mai nimmt er Urlaub und reist nach Pjatigorsk, um sich von einem neuerlichen Rheumatismusanfall auszuheilen. Auch hier lebt Tolstoi völlig für sich, „nicht aus Stolz, nur weil ein zu großer Unterschied in Erziehung, Empfindungs- und Anschauungsweise ihn kein Vergnügen empfinden lässt im Verkehr mit denen, denen er begegnet".


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland 1 - Tolstoi