Tolstois Selbsterkenntnisse

Nachdem ich einmal die Dummheit begangen hatte, in Stary-Jurd zu spielen, habe ich keine Karte mehr in die Hand genommen, und auch Sado Vorstellungen gemacht wegen seines Spielens, der indes von Spielwut besessen war, und obgleich er das Spiel nicht kannte, stets ein ganz erstaunliches Glück hatte. Gestern abend nun beschäftigte ich mich damit, an meine Geldangelegenheiten zu denken, das heißt an meine Schulden. Ich dachte darüber nach, wie ich es machen werde, um alles zu bezahlen. Nachdem ich lange gegrübelt hatte, sah ich ein, dass, wenn ich nicht allzu viel Geld ausgeben werde, mich alle meine Schulden nicht in Verlegenheit bringen werden, ich sie viel mehr allmählich in zwei oder drei Jahren abzuzahlen vermag. Nur die fünfhundert Rubel, die ich in diesem Monat bezahlen sollte, brachten mich zur Verzweiflung. Ich konnte mich gar nicht beruhigen über die Dummheit, in Russland Schulden gemacht zu haben, und die größere Dummheit, hierher gekommen zu sein, um neue zu machen. Als ich dann mein Abendgebet verrichtete, bat ich Gott mit viel Eifer, er möge mich aus dieser unangenehmen Lage befreien. ,,Wie könnte ich mich nur aus dieser Affäre mit Anstand herausziehen?" dachte ich, als ich mich niederlegte. Es könnte leider nichts geschehen, so schien es mir, das mir die Möglichkeit geben würde, diese Schuld zu begleichen. Schon stellte ich mir alle Unannehmlichkeiten vor, die ich deswegen zu ertragen haben würde . . „Hilf mir, Gott!" betete ich und schlief ein. Am anderen Morgen erhielt ich einen Brief von Nikolaus. Er schrieb mir: „Dieser Tage war Sado bei mir. Er hat bei K. Deine Wechsel gewonnen und brachte sie mir. Er war so zufrieden über diesen Gewinn, so glücklich, und frug mich so oft: ,,Wie? Glaubst du wohl, dein Bruder wird froh sein, dass ich dies tat?" dass ich ihn deswegen sehr lieb gewann. Dieser Mensch ist Dir wirklich sehr zugetan!"

Ist es nicht seltsam, seinen Wunsch so erfüllt zu sehen schon am Tage darauf? Das heißt, dass es nichts so Erstaunliches gibt als die göttliche Güte für ein Wesen, das sie so wenig verdient wie ich. Und ist nicht Sados Beweis von Ergebenheit wahrhaft bewundernswert!"


Auch das nächstfolgende Schreiben an die Tante gewährt einen tiefen Einblick in die liebenswürdige Seele des angehen den Dichters, und ist zudem bemerkenswert in Hinsicht auf seine noch bürgerlich bescheidenen Zukunftsideale. Tolstoi schrieb diesen Brief, als er auf einer Poststation längere Zeit warten musste:

„Ich glaube, liebe Tante, dass die Fehler und die Tugenden — die Grundlagen des Charakters — immer die gleichen bleiben werden, nur die Art, auf das Leben und auf das Glück zu sehen, muss sich wohl ändern mit dem Alter. Es ist ein Jahr her, da glaubte ich das Glück zu finden im Vergnügen, in der Bewegung; jetzt im Gegenteil ist die Ruhe im physischen und moralischen Sinne ein Zustand, den ich ersehne. Ich stelle mir aber den Zustand der Ruhe ohne Sorge vor und mit dem stillen Genüsse der Liebe und der Freundschaft — das ist der Höhepunkt des Glückes für mich. Im übrigen empfindet man den Reiz der Ruhe erst nach den Anstrengungen und Freuden der Liebe, nach den Entbehrungen. Ich bin nun seit einiger Zeit beider beraubt, deshalb verlange ich so lebhaft nach ihnen. Ich muss sie noch entbehren; wie lange noch? Gott weiß es! Ich könnte nicht sagen, weshalb, aber ich fühle, dass ich muss. Die Religiosität und die Lebenserfahrungen, die mir eigen sind — wie gering sie auch sein mögen — haben mich gelehrt, dass das Leben eine Prüfung ist. Für mich ist es mehr wie eine Prüfung — es ist auch die Sühne für meine Fehler. Ich hege die Überzeugung, dass der frivole Gedanke, den ich hatte, eine Reise nach dem Kaukasus zu machen, ein Gedanke ist, der mir von obenher eingegeben ward. Es ist die Hand Gottes, die mich geleitet hat, und ich danke Ihm unaufhörlich dafür. Ich fühle, dass ich wieder besser geworden bin (und das will nicht viel heißen, denn ich war sehr schlecht), und ich bin fest überzeugt davon, dass alles, was mir hier geschehen kann, nur zu meinem Besten sein wird, weil Gott selber es ist, der dies so gewollt hat. Vielleicht ist das eine sehr kühne Idee, dessen ungeachtet hege ich nun einmal diese Überzeugung. Deshalb ertrage ich auch alle Anstrengungen und Entbehrungen — die körperlichen, von denen ich spreche, ohne sie zu empfinden (denn was bedeuten eigentlich körperliche Entbehrungen für einen gesunden jungen Mann von dreiundzwanzig Jahren?), — sogar mit einer Art Vergnügen in dem Gedanken an das Glück, das mich erwartet."


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland 1 - Tolstoi