Tolstois Sehnsucht nach der Einfachheit

In Starogladowsk zieht zunächst Tolstoi wiederum das homerisch einfache Kosakenleben in seinen Bann. Wie ein Stossseufzer des zur Welt der Gedanken rettungslos Verurteilten klingt es gleich nach seiner Ankunft aus seinem Tagebuche:

„Die Einfachheit ist die Eigenschaft, die ich vor allen anderen erwerben möchte.“


Sie ist ihm unerreichbar geblieben, die Einfachheit: Tolstoi nahm viel zu viel Anteil an den Menschen um sich herum, um einfach bleiben zu können im Leben. Tolstoi hat sich nie zu beruhigen vermocht über der Menschheit Schicksal, und darum war die Einfachheit ein vergeblicher Wunsch für ihn — im Leben. In der Kunst dagegen ward die Einfachheit ihm restlos zuteil und dazu noch in der Schönheit reinem Gewande. Und das führte ihn zu einer in aller Schlichtheit unerschöpflichen Nachgestaltung des Lebens, wie es nur einer grenzenlos weiten und im tiefsten Innersten gebändigten Seele gelingt. Es liegt in Tolstois Kunst entschieden etwas Klassisches, ja, er hat eine neue Nuance in die Klassik gebracht. Davon wird weiter unten die Rede sein.

Am 28. August erhält dann Tolstoi von Nekrassoff einen geradezu begeisterten Brief, der ihn, wie er in seinem Tagebuch bemerkt, ,,bis zur Dummheit glücklich machte“. (Über die weiteren Schicksale der Novelle werden wir an anderer Stelle berichten.)

Im Oktober (1852) fasst Tolstoi dann noch den Plan zu einem Romane, dem folgender Gedanke zugrunde liegen sollte: „Der Held sucht die Verwirklichung des Ideals von Glück und Gerechtigkeit im Landleben. Da er es nicht findet, will er, enttäuscht, es suchen im Familienleben. Sein Freund bringt ihn auf den Gedanken, dass das Glück nicht im Ideale liegt, vielmehr in ständiger, lebenslänglicher Arbeit, die zum Ziele hat — das Glück anderer.“

Dieser Plan wird in dieser Form nicht ausgeführt, die Grundidee aber kehrt in fast allen Werken Tolstois wieder, am deutlichsten wohl in ,,Anna Karenina“.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland 1 - Tolstoi