Tolstois Seeleninventar

Ebenso aufrichtig wie dieses Selbstporträt dürfte wohl auch die folgende, für das Jünglingsalter an sich typische Schilderung von Tolstois damaligem Seeleninventar sein:

„In diesem Zeitabschnitt, den ich für den Ausgang meines Knabenalters und den Beginn meiner Jünglingszeit halte, bildeten vier Gefühle die Grundlage meiner Träume: die Liebe zu ,ihr‘, zu dem vorgestellten Weibe, von dem ich immer in ein und demselben Sinne träumte, und der ich jede Minute irgendwo begegnen zu müssen glaubte . . . Das zweite Gefühl war die Liebe zur Liebe. Ich wünschte, dass alle mich kennen und lieben sollten, ich wünschte, dass, wenn ich meinen Namen nenne, alle von dieser Nachricht betroffen, mich umringen und mir für irgend etwas danken sollten. Das dritte Gefühl war die Hoffnung auf ein außergewöhnliches, irgendwie meiner Eigenliebe schmeichelndes Glück, — eine so starke und feste Hoffnung, dass sie zur Verrücktheit ward. — Ich war so tief davon überzeugt, dass ich sehr bald infolge irgendeines außergewöhnlichen Ereignisses plötzlich zum allerreichsten und allerberühmtesten Menschen auf der Erde werde, dass ich mich unaufhörlich in unruhiger Erwartung befand von irgend etwas zauberhaft Glückhaftem. Das vierte und Hauptgefühl war die Abneigung vor mir selber und die Reue, aber eine bis zu einem solchen Grade mit Hoffnung auf Glück übergossene Reue, dass sie nichts Trauriges mehr an sich hatte. Mir schien es so leicht und natürlich, mich von allem Vergangenen loszureißen, alles in mir umzuformen und alles zu vergessen, was gewesen war, und mein Leben in allen seinen Beziehungen vollkommen von neuem zu beginnen, dass das Vergangene nicht auf mir lastete, dass es kein Hemmnis für mich war. Ich ergötzte mich sogar an meinem Widerwillen vor meiner Vergangenheit und bestrebte mich, sie düsterer zu schauen, als sie tatsächlich war: je schwärzer der Kreis der Erinnerungen an das Vergangene war, um so reiner und heller hob sich aus ihm ab der helle, reine Punkt der Gegenwart und von ihm aus ergossen sich nach allen Seiten hin die Regenbogenfarben der Zukunft. Diese Stimme der Reue und eines leidenschaftlichen Verlangens nach Vollkommenheit war mein hauptsächliches Erlebnis in jener Epoche meiner Entwicklung, und es schuf eine neue Grundlage für meinen Blick auf mich selber, auf die Menschen und auf die Gotteswelt.“


Die Stimme der Reue und des leidenschaftlichen Verlangens nach Selbstvervollkommnung, die schon der Jüngling Tolstoi als den Hauptbeweggrund seiner Seele anerkennt, sie ist es sein ganzes Leben hindurch geblieben, ungeschwächt und durch nichts aufgehalten. Sonst bemerkt der Jüngling in sich die gleichen Eigenschaften, die er als Knabe an sich wahrgenommen hatte, nur dass sie alle eine größere Entschiedenheit zeigten, vielfach sogar aus Fehlern zu Tugenden wurden, so zum Beispiel, wenn des Knaben übergroße Eigenliebe sich so weit in andere zu versetzen vermag, dass er sich schämt für sie, wenn sie unvornehm handeln, dass er errötet für sie, wenn sie vor ihm lügen, und dass es völlig unmöglich für ihn ist, mit Menschen umzugehen, denen er es nicht sagen darf, wenn sie seiner Meinung nach unrecht tun. Tolstois moralisches Empfinden ist dabei bereits so überfein geworden, und immer noch so unlösbar verknüpft geblieben mit seiner Eigenliebe, dass, wenn er verletzt wird, vor allem dadurch, dass ihm selber unrecht geschieht, ihm plötzlich alles das gar nichts mehr gilt, was vordem sein ganzes Streben erfüllte. Immer noch ist Tolstoi misstrauisch aus Eigenliebe, und dann sehr leicht geneigt, schlechte Beweggründe anzunehmen bei denen, durch die er, meistens ohne deren Schuld, sich irgendwelcher vermeintlichen oder wirklichen Schwäche bewusst wird. Freilich ist der Jüngling Tolstoi noch leicht bereit, sein Unrecht einzusehen und dann bis zur Selbstzerknirschung Reue zu empfinden. Tolstoi fühlt sich mit einem Worte unfrei vor solchen Menschen, die ihm viel schlechter erscheinen als er sich selber (weil er sich für sie schämt), vor solchen, die ihm viel besser vorkamen, als er sich selber, weil er sich vor ihnen schämte und geneigt war, anzunehmen, sie wollten ihn demütigen, und vor allem vor solchen, die er nicht aufmerksam machen durfte auf das, was er für sie notwendig erachtete. Überhaupt wahrheitsliebend bis zum Fanatismus ertappt sich der werdende Dichter öfters dabei, wie er ohne jeden Grund lange Geschichten erzählt, an denen kein Wort wahr ist, Tolstoi erkennt hier nicht das Übermaß einer dichterisch beschwingten Phantasie, er glaubt vielmehr Unaufrichtigkeit sich vorwerfen zu müssen und leidet darunter. Dabei zeigt ihm aber bereits jetzt sein überreicher Geist auch gleich wieder den Ausweg aus jedem Zwiespalt mit sich selber: nie ohne Erfolg appelliert der Jüngling an seine Ideale und beruhigt hieraus alle seine Seelenkämpfe. Und wie ihn das Unglück anderer leicht zu Tränen zu rühren vermag, so besitzt er auch in hervorragendem Masse die Gabe, sich selber zu rühren. Er sieht das aber nachträglich immer ein und lacht sich dann einfach aus. Denn es ist bereits sehr viel Bewusstes in diesem Jüngling. Bei alledem ist seine Seele ebenso gesund wie sein Körper. Er kannte die grundlose Heiterkeit glücklicher Jugend, er kannte das stille, selige Schweifen der Gedanken, und er kannte auch die Mondscheinschwärmerei und die Sehnsucht der jungen Seele nach Gott:

,,Der Mond aber stand höher und höher und heller und heller am Himmel, der üppige Glanz des Teiches, der gleichmäßig zunahm wie ein Klang, ward klarer und klarer. Schwärzer und schwärzer wurden die Schatten, durchsichtiger und durchsichtiger das Licht . . . Auf alles dies sah und hörte ich hin und sagte mir, dass ,sie‘ mit entblößten Armen und feurigen Umarmungen noch längst, längst nicht alles Glück bedeute, dass auch die Liebe zu ihr längst, längst noch nicht alles Heil in sich schließt. Und je länger ich schaute nach dem hohen vollen Mond, um so höher und höher erschien mir die wahrhaftige Schönheit und das Heil, und um so reiner und reiner und näher und näher ihm, dem Urquell alles Schönen und Heilspendenden. Und Tränen einer seligen, unbefriedigten, tief erregenden Freude stiegen mir in die Augen. Und immer war ich allein . . .

Und immer schien es mir, als ob die geheimnisvolle, hoheitsvolle Natur zu sich hingezogen habe den hellen Kreis des Mondes, der nun irgendwie stille stand an einem hohen unbestimmten Orte des blassblauen Himmels. Und immer schien es mir, als ob die geheimnisvolle, hoheitsvolle Natur die ganze, nicht zu erfassende Weite mit sich erfüllte — und ich, ein nichtiger Wurm, schon angekränkelt von allen kleinlichen, ärmlichen Menschenleidenschaften, aber mit dem ganzen unfassbaren, mächtigen Drang der Liebe, — mir erschien es immer in diesem Augenblicke, als ob die Natur und der Mond und ich nur ein und dasselbe wären.“

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland 1 - Tolstoi