Tolstois Rückkehr nach Jasnaja Poljana und Moskau

Die folgenden Jahre nun bis zu seiner Abreise nach dem Kaukasus (1851) bringt Tolstoi abwechselnd in Moskau und in Jasnaja Poljana zu, augenscheinlich sich selber suchend und vielleicht mehr, als er selber ahnte, leidend unter den Nöten der Zeit. Es will mir wenigstens durchaus so erscheinen, zu beweisen wird das freilich nie sein, es spricht aber sehr vieles dafür, als ob, wie einst den Hamlet die Kunde von der Ermordung seines Vaters, so Tolstoi der Einblick in das eigentliche Wesen der Leibeigenschaft um das seelische Gleichgewicht gebracht habe, und er so alle Lust an den gewohnten Übungen verlor: bald ist er ernsten Selbstbetrachtungen, ja sogar Selbstpeinigungen hingegeben, bald verbringt er seine Zeit mit Kartenspiel, Jagd, Gastmählern, Zigeunern, Kartenspiel und Jagd sind dabei seine Hauptleidenschaften (deren feinster Psychologe er auch später ward, weil es ihm immer schien, als ob sich hier eine ganz besondere Gelegenheit biete, den eigentlichen Menschen unter der gesellschaftlichen Maske zu erschauen). Übrigens macht es sich Tolstoi damals zu Beginn seiner Leidenschaft fürs Kartenspiel zur strengen Regel, nur mit Reichen zu spielen, damit der Verlust den Spieler nicht erniedrige, noch ihn ruinieren könne. Wir sehen hier: auch die Leidenschaft, ja, das Laster vermag nie völlig die Stimme des Gewissens zu übertönen bei diesem begnadeten Menschen.

Tolstoi nennt diese drei Jahre in seinem Tagebuch ,,direktionslos zugebracht“. Sicherlich sehr mit Unrecht: wissen wir doch, dass er gerade in dieser Zeit ein besonders reiches Innenleben führte, und dass die Ausbrüche unbändiger Lebenslust — die indes nie zur Gemeinheit führten — ausnahmslos jedesmal nach mehrmonatlicher völliger Einsamkeit gleichsam eruptiv hervorbrachen, und demnach wohl als die natürliche Reaktion anzusehen sind eines jugendlichen Körpers und einer jungen Seele auf ein unaufhörliches Sichabringen mit Fragen, denen der jugendliche Geist schon seiner mangelnden Erfahrung wegen noch gar nicht gewachsen sein konnte. Tiefer Weltschmerz wechselt ab mit bacchantischer Stimmung. Auch macht sich bereits — das tritt überall da ein, wo der Verstand allzu sehr der Lebenserfahrung vorauseilte, oder vielleicht mehr noch da, wo die Seele bereut, der Verstand aber zu stolz ist, das zuzugeben ein bedenklicher Hang zu gefährlichen Paradoxen bemerkbar. So wenn Tolstoi in seinem Tagebuche bemerkt, Leute, die er sittlich unter sich stehend betrachte, verübten Schlechtigkeiten besser als er, und Tolstoi sich dann einredet, nur deshalb seien ihm die Schlechtigkeiten zuwider geworden, nur deshalb habe er sie aufgegeben. Auch Anfälle großer Selbstzerknirschung bleiben nicht aus, wenn auch Tolstoi nie jene Hoffnung verlässt, sich selber wiederzufinden, die so bezeichnend für ihn ist und vielleicht ebenso schliessen lässt auf einen unbändigen Lebenstrieb wie auf ein frühes Ahnen einer geistigen Berufung, So schreibt Tolstoi damals in sein Tagebuch: „Ich lebe völlig viehisch, wenn auch nicht ganz ohne Direktion; fast alle meine Beschäftigungen habe ich aufgegeben, und bin an Geist sehr gefallen!“


Fast komisch berührt es uns, dass Tolstoi, als er sich im Jahre 1850 in Geldverlegenheiten befand, allen Ernstes daran dachte, die Tulaer Poststation zu übernehmen. (Damals verkaufte er übrigens auch um 5000 Rubel sein Elternhaus, das abgebrochen und 20 Werst entfernt aufgestellt wurde, wo es heute noch steht. Das jetzige Haus in Jasnaja Poljana enthält bloß noch die Flügel des ehemaligen Baues.)

Über die Gründe seiner moralischen und wirtschaftlichen Misserfolge äußerte sich Tolstoi damals in seinem Tagebuche wie folgt: ,,Das sind die Ursachen vieler meiner Fehler: 1. Unentschlossenheit, das heißt Mangel an Energie; 2. Gewohnheit, mich selber zu betrügen; 3. Hastigkeit; 4. falsche Scham; 5. schlechte Laune; 6. Unklarheit; 7. Nachäffung anderer; 8. Unbeständigkeit; 9. Unüberlegtheit.“ Wir sehen, dass hier außer den sieben Todsünden wohl kaum etwas fehlt, was eine Seele der Verdammung aussetzen müsste. Aber wir kennen bereits die Neigung dieses geborenen Selbstpeinigers, in sich selber alles Verdammenswerte zu finden, — um so ein Recht zu haben, auch bei anderen ganze Säcke davon zu vermuten.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland 1 - Tolstoi