Tolstois Reise dahin

Die Reise der beiden Brüder führte sie auf dem Landweg über Moskau und Kasan nach Saratoff. Die Brüder vertrugen sich ausgezeichnet. Tolstoi schreibt seiner Tante von Moskau aus: „Nikolai findet, dass ich ein sehr angenehmer Reisegefährte wäre, wenn nur nicht meine Reinlichkeit wäre. Er ärgert sich darüber, dass ich, wie er sagt, zwölf mal am Tage die Wäsche wechsele. Ich halte ihn ebenfalls für einen trefflichen Reisegefährten, wenn nicht seine Unsauberkeit wäre. Ich weiß nicht, wer recht hat!“ Diese Bemerkung scheint mir deshalb mitteilenswert, weil Tolstoi später, in seinem sozialen Bekehrungseifer, bekanntlich die Reinlichkeit für etwas erklärt, das die Reichen erfunden haben, um sich die Armen vom Halse zu halten und sie verachten zu können. Tolstoi selbst war übrigens sein Leben lang von peinlicher Sauberkeit. Sein feiner Geruchsinn hat ihn auch namenlos leiden lassen überall da, wo er in soziale Tiefen hinunterstieg, was ihm jeder Westeuropäer, der dort weilte, durchaus nachzufühlen vermag.

In Kasan verliebte sich Tolstoi in ein junges Mädchen der Gesellschaft, die er dann lange nicht vergessen konnte. Wie gewöhnlich war er aber zu schüchtern und zu unentschlossen, um sich zu erklären.


Tolstoi war übrigens die ganze Reise hindurch sehr ausgelassen und lies sich offenbar vor seinem Bruder außerordentlich gehen. Er selber erzählt — viel später: nach dem Tode seines geliebten Bruders und zu dessen Charakteristik — es sei damals in Kasan ein Herr an ihnen vorübergefahren, der keine Handschuhe anhatte. „Dieser Herr ist ganz augenscheinlich ein Dreck,“ habe er dazu seinem Bruder gesagt. ,,Weshalb?“ frug dieser. „Er hat keine Handschuhe an.“ „Weshalb ist er darum ein Dreck?“ frug mit seinem kaum merklichen, freundlichen, klugen, ironischen Lächeln Nikolai. Tolstoi hat diese Lektion nie vergessen.

In Saratoff mieteten die Brüder ein Ruderboot und fuhren, bald segelnd, bald rudernd, bald sich von der Strömung treiben lassend, in drei Wochen nach Astrachan. (Die gewöhnliche, kürzere Route nach dem Kaukasus heute der Eisenbahnweg — führte zu Land über Woronesch in das Gebiet der Donskischen Kosaken.) Diese Wolgareise hat Tolstoi sehr behagt: „sie sei sehr poetisch und voll von Reizen gewesen, nicht bloß wegen der Lieblichkeit und Nähe der Ufer, vielmehr auch wegen der Art des Reisens selber.“


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland 1 - Tolstoi