Tolstois Jugendjahre. Tolstois Vorfahren und Eltern. Die Ahnen väterlicherseits.

Das alte Adelsgeschlecht der Grafen Tolstoi wird auf einen gewissen Indris zurückgeführt, der im Jahre 1355 „von den Deutschen aus kaiserlichem Land“ mit zwei Söhnen und einer Leibgarde von dreitausend Mann nach Tschernigoff einwanderte, zur orthodoxen Kirche übertrat und den Taufnamen „Leonti“ annahm. Sein Urenkel, Andrei Charitonowitsch, verlegte seinen Wohnsitz von Tschernigoff nach Moskau und erhielt vom Großfürsten Wasili, dem „Dunklen“, den Beinamen „Tolstoi“ (das heißt der Dicke). In der gräflichen Linie des Geschlechtes der Tolstoi wird Lew Nikolajewitsch zur zwanzigsten Generation gerechnet vom Stammvater Indris an. Einer der Nachkommen des Indris, Peter Andrejewitsch Tolstoi, war „Tischaufseher“ bei Hofe und einer der Haupträdelsführer im Strelitzen-Aufstand (1683). Nach dem Fall der Zarentochter Sophie trat dieser Peter Andrej ewitsch Tolstoi auf die Seite Zar Peters, der sich indes lange Zeit hindurch mit größter Zurückhaltung zu ihm verhielt. Zar Peter soll ihm bisweilen beim Trinkgelage die hohe Perücke vom Kopfe heruntergerissen und ihn auf den kahlen Schädel schlagend so angeredet haben: „Köpfchen, Köpfchen, wärst du nicht so verdammt gescheit, längst schon hättest du vom Körper Abschied nehmen müssen!“

Peter Andrejewitsch Tolstoi zeichnete sich im zweiten Asowschen Feldzug aus, ohne indes das Vertrauen des Zaren zu erlangen. Als dann der Zar im Jahre 1697 Freiwillige zur Lehre ins Ausland sandte, erbot sich Peter Andrejewitsch Tolstoi, wiewohl er damals bereits in reiferen Jahren stand, das Seewesen auszulernen, und verbrachte zu diesem Zwecke zwei Jahre in Italien, wo er sich auch mit der Kultur des Westens näher vertraut machte. Im Jahre 1701 zum Gesandten in Konstantinopel ernannt, saß dann Peter Andrejewitsch während der türkischen Streitigkeiten mit Russland (1710 — 1713) zweimal im „Siebentürmigen Schlosse“, weshalb auch dieses im Wappen der Grafen Tolstoi abgebildet ist.


Die Huld Zar Peters erlangte Peter Andrejewitsch erst dadurch, dass es ihm 1717 gelang, den Zarensohn Alexej, der sich mit seiner Freundin Euphrosyne in Castel Sant Elmo bei Neapel aufhielt, durch falsche Versprechungen und Einschüchterungen zur Rückkehr nach Russland zu bewegen. Auch an der darauffolgenden Verurteilung und heimlichen Hinrichtung des Zarensohnes hatte Peter Andrejewitsch Tolstoi lebhaften Anteil genommen, wofür er mit Gütern belohnt und an die Spitze der „geheimen Kanzlei“ gestellt ward und von nun an für eine der dem Zaren am nächsten stehenden Personen galt. Zar Peters Nachfolgerin, die Kaiserin Katharina I., verlieh Peter Andrejewitsch Tolstoi am Tage ihrer Krönung (am 7.Mai 1724) den Grafentitel als nachträglichen Dank ihrerseits für Peter Andrejewitsch' Teilnahme an der Verurteilung und Hinrichtung des Zarensohnes Alexej. Als dann aber dessen Sohn, Peter II, zur Herrschaft gelangte, ward der bereits zweiundachtzigjährige Peter Andrejewitsch Tolstoi nach dem Solowezkischen Kloster am Weissen Meere verbannt, wo er schon im Jahre 1729 starb. Dieser Peter Andrejewitsch Tolstoi war auch schriftstellerisch tätig. Es hat sich das sehr merkwürdige Tagebuch seiner Westeuropäischen Reise (1697 — 1699) erhalten. Außerdem stammt aus Peter Andrejewitsch' Feder eine ausführliche Beschreibung des Schwarzen Meeres, eine Übersetzung der Metamorphosen des Ovid und eine „Verwaltung des türkischen Reiches“. Peter Andrejewitsch' Sohn, der es zum Präsidenten des Gerichtshofes gebracht hatte, fiel zugleich mit dem Vater in Ungnade und starb kurz nach ihm ebenfalls im Solowezkischen Kloster. Erst im Jahre 1760, schon unter der Kaiserin Elisabeth, ward den Nachkommen Peter Andrejewitsch' der Grafentitel zurückgegeben in der Person von dessen Enkel Andrej Iwanowitsch, des Urgroßvaters von Lew Nikolajewitsch Tolstoi. (Wir wollen von nun an letzteren der Einfachheit wegen das ganze Buch hindurch nur ,Tolstoi‘ nennen: denn er ist doch der Tolstoi.) Tolstois Großmutter väterlicherseits war eine Tochter des zu großem Vermögen gelangten blinden Fürsten Nikolai Iwanowitsch Gortschakoff. Sie soll beschränkt und verwöhnt gewesen sein. Ihre Bildung beschränkte sich auf die Kenntnis der französischen Sprache, die sie besser beherrschte als das Russische. Ihren Mann, seinen Großvater, den Grafen Ilja Andrejewitsch Tolstoi, schildert Tolstoi als einen ebenfalls beschränkten, dabei aber sehr weichherzigen, lebensfrohen und nicht nur freigebigen, vielmehr geradezu unsinnig verschwenderischen und grenzenlos vertrauensseligen Menschen. Auf seinem Landsitz wechselten in fast ununterbrochener Reihenfolge Bankette, Theateraufführungen und Bälle. Auch liebte er es, hoch zu spielen, obgleich er gar nicht zu spielen verstand. Da er ferner noch einen jeden, der ihn darum bat, Geld lieh oder schenkte und sich schließlich auch auf eine Fülle verwickeltster Geschäfte einließ, war sein Gut bald so verschuldet, dass ihm nichts mehr zum Verleben übrig blieb, und Graf Ilja Andrejewitsch Tolstoi sich um den Posten eines Gouverneurs von Kasan bewerben musste, den er auch, dank seiner vorzüglichen Verbindungen, erhielt. Tolstoi erzählt von diesem seinem Großvater, er sei zornig geworden, wenn man ihn, in seiner Eigenschaft als Gouverneur, Bestechungsgelder anbot, und er habe solche auch nur von den Domänenpächtern angenommen, was damals allgemeiner Brauch gewesen sei. Dagegen habe die Großmutter ohne Wissen ihres Mannes „Darbietungen“ nicht verschmäht. In Kasan verheiratete diese Großmutter ihre jüngste Tochter Pelagea an einen gewissen Juschkoff. Die ältere Tochter Alexandra hatte bereits in Petersburg den baltischen Grafen Osten-Sacken geheiratet. Diese beiden Tanten Tolstois sind nach dem frühen Tode seiner Mutter eine nach der anderen seine Vormünder gewesen. Als dann Tolstois Großvater in Kasan gestorben war, und sein Sohn, Tolstois Vater, geheiratet hatte, siedelte der mit seiner Mutter nach Jasnaja Pol Jana über, wo Tolstoi die Großmutter als Greisin kannte und sich ihrer sehr wohl entsann. „Meinen Vater liebte die Großmutter leidenschaftlich,“ so berichtet Tolstoi in seinen „Erinnerungen“, „und auch uns, die Enkel, liebte sie, indem sie an uns ihren Spaß hatte. Sie liebte auch die Tanten, aber, so scheint es mir, sie liebte nicht allzu sehr meine Mutter, hielt sie unwert meines Vaters und war seinetwegen eifersüchtig auf sie. Mit den Dienstboten konnte die Großmutter nicht anders als anspruchsvoll sein, da ja alle wussten, dass sie die erste Person im Hause war, und sich darum bestrebten, ihr alles zu Gefallen zu tun. Mit ihrer Zofe Gascha gab sich die Großmutter völlig ihren Launen hin und quälte sie ohne Unterlass, indem sie sie ,Sie, meine Liebe‘ nannte, von ihr das verlangte, was sie ihr gar nicht aufgetragen hatte, und sie auf jede Weise peinigte. Und merkwürdig! Gascha ward angesteckt von der launischen Art der Großmutter und war mit ihrem Mädchen, mit ihrer Katze und überhaupt mit allen, mit denen sie anspruchsvoll sein konnte, gerade ebenso kapriziös wie die Großmutter zu ihr!“

Tolstoi erinnert sich besonders einer Nacht, die er bei der Großmutter zubringen durfte. Großen Eindruck machte dabei auf den kleinen Knaben ein blinder Leibeigener, der nur zu dem Zwecke von der Großmutter gekauft war, um ihr Märchen zu erzählen, die er Wort für Wort wiederzugeben vermochte, wenn man sie ihm zweimal vorgelesen hatte. Lew Stepanowitsch — so hieß der Blinde — lebte irgendwo im Hause und war den ganzen Tag unsichtbar. Am Abend kam er geräuschlos ins Schlafzimmer der Großmutter, setzte sich aufs Fensterbrett und erwartete seine Herrin, die vor dem Blinden ungeniert ihre Nachttoilette vollendete. Es machte dabei einen unvergänglichen Eindruck auf das lebhafte Kind, als die Lichter gelöscht wurden; nur das Lämpchen vor den vergoldeten Heiligenbildern flackerte noch. Bei seinem unsicheren Lichte lag die Großmutter ganz in Weiß und in weißer Haube hoch in den Kissen, während vom Fenster her die leise, gleichmäßige Stimme des Märchenerzählers erklang, der mit weit geöffneten weißen Augen unbeweglich dasaß.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland 1 - Tolstoi