Tolstois Erkenntnis des russischen Bauern durch den russischen Soldaten

Es entspricht vielleicht Tolstois von Hause aus männlicher Anschauungsweise, dass er den russischen Bauern, den er als Leibeigenen tief leiden gesehen hatte, ohne sich zu ihm anders als aus Pflichtgefühl hingezogen zu fühlen, erst als den fraglos tapferen, nie posierenden, in aller Todesgefahr die natürlichste Einfachheit bewährenden Helden kennen lernen musste, um ihn achten zu können, und das bedeutet bei Tolstois vornehmer Natur: um ihn lieben zu müssen. Sehr wahrscheinlich, dass Tolstoi hier erst der tiefere Sinn aufging von des russischen Bauern Demut, Fügsamkeit und Geduld in aller Knechtschaft. Hatte Tolstoi bisher in dem allem Knechtssinn, Feigheit und Unmännlichkeit vermutet, so vermochte er solche Annahme nicht mehr aufrechtzuerhalten, nachdem er dieselben demütigen Leibeigenen als unerschütterlich tapfere Soldaten der Todesgefahr gegenüber erschaut hatte. Es musste also des russischen Bauern Demut und Fügsamkeit in aller Knechtschaft einen anderen Grund haben. Der konnte bloß in einem religiösen Erlebnis verborgen liegen, das den russischen Bauern die Knechtschaft der Sünde vorziehen ließ; ein höherer Mut muss demnach dem russischen Bauern eigen sein, als zum Leben gehört, ein Mut auch dem Tode gegenüber, ein Mut, der des Krieges nicht bedarf, um sich seiner Todesverachtung inne zu werden. Und tatsächlich stirbt der russische Bauer auch bei sich zu Hause in so schlichter, wahrhaft antiker Einfachheit, dass, wer ihn einmal sterben sah, überhaupt erst begreift, dass Sterben die natürlichste Sache von der Welt ist. (Und dazu braucht man nicht in den Krieg zu gehen: ich selber habe das in russischen Krankenhäusern erlebt und Eindrücke für immer dort empfangen.)

Neben der Erkenntnis vom eigentlichen Wesen des russischen Bauern brachte Tolstoi seine Militärzeit auch bereits die völlige Befreiung von allen aristokratischen Vorurteilen. Die Selbständigkeit und Unabhängigkeit seines Geistes — erhöht durch oder vielleicht überhaupt vornehmlich begründet in einem untrüglichen moralischen Unterscheidungsvermögen — konnte Tolstoi auf die Dauer keinen anderen Maßstab annehmbar machen für den Menschen, als dessen persönliche Verdienste. Das konnte ihm vorher, bis zum Militärdienst, nicht so recht zum Bewusstsein kommen, weil er sich ausschliesslich innerhalb seiner Kaste bewegte. Hier aber, beim Militär, sah Tolstoi Leute aller Klassen bei einer gemeinsamen Sache, wo nur der Pflichteifer entscheidet, und er sah sie auch einer allen gemeinsamen Todesgefahr gegenüber, wo der Mensch alle Masken von sich wirft und sich so zeigt wie er ist. Da fielen die Standesvorurteile wie Schuppen von Tolstois Augen: die größten Opfer brachte ja der gemeine Soldat, und er lebte bei alledem in größter Einfachheit und trug auch die schwersten Lasten. Dabei rühmt er sich aber am allerwenigsten und verachtet weder die einen von seinen Kameraden, noch schmeichelt er den anderen. Darum achtete Tolstoi den gemeinen Soldaten am höchsten. Im Offizierskorps dagegen verhielten sich die hocharistokratischen Offiziere sehr von oben herab zu den einfachen Linienoffizieren. — Tolstoi hat dies in den ,,Sewastopoler Erzählungen“ mit wahrhaft peinlicher Offenheit geschildert. Dabei bewiesen diese aristokratischen Offiziere keineswegs größere Tapferkeit, noch höhere geistige Interessen als die, denen sie sich überlegen glaubten, die bürgerlichen Linienoffiziere. Letztere aber ließen sich nicht nur von oben herab behandeln, sie waren sogar stolz darauf, wenn sie von den aristokratischen Kameraden überhaupt einer Beachtung gewürdigt wurden. Tolstoi nun findet den Hochmut der einen lächerlich, die Demut der anderen unwürdig. Er selber hielt sich ostentativ den aristokratischen Kameraden fern. Er schloss sich an die einfachen Linienoffiziere, und mehr noch an den gemeinen Soldaten. Tolstois Achtung vor letzteren nimmt bereits eine solche Ausschließlichkeit an, dass alle seine Militärnovellen, vor allem die großartigen ,,Sewastopoler Erzählungen“, eigentlich nur eine einzige große Lobhymne darstellen auf den gemeinen russischen Soldaten, während in der ganzen Fülle seiner jedesmal mit ein paar Strichen fest auf beide Beine hingestellten Offizierstypen eigentlich kein einziger ist, dem nicht irgendeine Lächerlichkeit oder Kleinlichkeit anhängt. Tolstois Wirklichkeitssinn allein vermag das nicht zu erklären: seine Soldaten haben auch jene Kleinlichkeiten an sich, ohne die der wirkliche Mensch nicht glaubhaft erscheint. Das Verhältnis aber ist hier, bei den gemeinsamen Soldaten, ein anderes: das Kleinliche verwischt nicht das Große, unterstreicht es eher. Bei Tolstois Offizieren hingegen erscheinen die Schwächen so stark aufgetragen, dass alle ihnen sonst beigelegte Tüchtigkeit und Vaterlandsliebe demgegenüber nicht aufkommt. In Tolstois Offizierstypen macht sich bereits ein offensichtlicher Mangel, oder sagen wir besser: eine offenbare Lücke in Tolstois scheinbar unbegrenzter Darstellungskunst bemerkbar: Er konnte damals schon nicht mehr gerecht werden den Mitgliedern der eigenen Klasse. Es mag ein tief beunruhigtes soziales Gewissen dahinterstecken und auf dieselbe Quelle zurückgehen wie Tolstois bereits mächtig hervorbrechender Weltschmerz. Tolstoi hat wohl die Eindrücke, die er als junger Gutsbesitzer von seinen Leibeigenen empfing, nie mehr zu überwinden vermocht vielleicht ist er in den Krieg und zu den sozial sündlosen Kosaken überhaupt nur deshalb geflohen, um seine Leibeigenen zu vergessen. Tolstois geistige Ehrlichkeit und sein untrügliches sittliches Urteil ließen ihn eben niemals mehr vergessen, dass sein ganzes wirtschaftliches Dasein auf Vergewaltigung und Ausbeutung armer, wehrloser Leibeigener sich gründete. Tolstoi lässt dabei aber seine Leibeigenen nicht frei, wie uns scheinen will, viel weniger aus Hang zum Wohlleben, als aus Ratlosigkeit, aus Zweifel daran, ob in diesem Zusammenhange wirklich seinem sittlichen Empfinden allein die Entscheidung zustehe: Ehrfurcht vor den gesellschaftlichen Überlieferungen und denen, die er sich innerhalb ihrer ruhigen Gewissens bewegen sah, und dann wohl auch das Bewusstsein, noch nicht bis in den letzten Sinn der Tatsachen des Staatsund Wirtschaftslebens eingedrungen zu sein, mithin auch nicht darüber urteilen zu können, hielten wohl vor allem den damaligen Tolstoi bei seinem Gutsbesitzertum fest. Dabei zweifelte er aber keinen Augenblick an der Richtigkeit seines sittlichen Empfindens, und darum vermochte er nicht mehr sich selber zu achten. Da er sich aber in vielem gewissenhafter wusste als die anderen, deren Wirtschaftsleben sich genau so gründete wie das seine, und da er bei ihnen — meist wohl sehr mit Unrecht — den gleichen moralischen Scharfblick, und demnach auch die gleiche Selbstverachtung voraussetzte, so ward Tolstoi mehr und mehr unfähig, ein Mitglied der besitzenden Klasse nicht für einen Heuchler zu halten und als solchen zu schildern. Und es scheint, dass vor allem diese mit den Jahren immer empfindlicher werdende Lücke in Tolstois Kunstschaffen ihn so lange fernhielt dem ganz großen Kunstwerk, dem er doch schon in seinen ersten Novellen so nahe gekommen war. Als Tolstoi dann auch dieses Hemmnis überwand, — wie man alle menschlichen Beschränktheiten überwindet: durch die Liebe! — , als Tolstoi in seiner Ehe mit einem geliebten Weibe begreifen lernte, dass auch unter den Gebildeten und unter den Besitzenden Menschen von Herz und Würde sein können, da schwang er sich denn auch gleich empor zu seinen unsterblichen Meisterwerken, da war der Kreis seines Menschenverstehens lückenlos geschlossen.


So viel über den Einfluss des Militärdienstes auf Seelenleben und Kunstschaffen Tolstois. Gehen wir nunmehr auf die biographischen Einzelheiten ein. Tolstoi verhielt sich von vornherein ohne jeden Stolz zu allen Kameraden völlig gleichmäßig, wenn auch etwas abseits stehend, weil „er auch ohne Offiziersgespräche genug Beschäftigung habe“. Dabei macht er sich Vorwürfe — sein Gewissen ruht eben niemals — dass er der Eitelkeit seines Obersten schmeichele und ihm Sand in die Augen streue, weil er ihn nötig habe. Er bereue dies, es geschähe aber eigentlich unbewusst.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland 1 - Tolstoi