Tolstois Erinnerungen an seine Jugend

Tolstois geistig-seelisches Schicksal kennzeichnet sich denn auch von seiner frühesten Jugend an als ein Ausweichenwollen vor der gesellschaftlichen Schuld der Leibeigenschaft, die sich ihm selber offenbarte als ein rein persönliches Verschulden. Nachdem dann Tolstoi sein halbes Leben hindurch auf jede denkbare, ehrliche Weise diese Schuld gutzumachen oder sich wenigstens in nützlicher Arbeit von ihr abzulenken versucht hatte, beruhigte sich schließlich seine große Seele dabei, dass er die verklärte und ehrfurchtsvoll zum menschlichen Vorbild erhob, an denen er sich am meisten versündigt zu haben wusste, und denen er den größten Dank schuldig zu sein gewiss war. In dem A und O seiner prophetischen Botschaften, in seiner Lehre vom Nichtwiderstandleisten gegenüber dem Übel, vom Heimzahlen aller Vergewaltigung mit Güte und Verzeihen, verkündet denn auch Tolstoi im Grunde nur das, was er an den armen Leibeigenen erlebt hatte, die, statt ihn die Missetat seiner Väter entgelten zu lassen, nur Liebe und Verwöhnung für ihn gehabt hatten, damals, als er ein hilfloses Kind noch war und angewiesen auf anderer Liebe und Sorgfalt.

An dem Leibeigenenschicksal erwachte Tolstois Seele, und an ihm fand sein Geist schließlich auch seine Schranken.


Wie ein roter Faden zieht sich die frühe Erkenntnis von der Ungerechtigkeit der Leibeigenschaft und einer persönlichen Mitschuld an ihr durch Tolstois ganzes Leben hindurch bis in sein letztes Prophetentum. Das Schicksal der Leibeigenen wird ihm schließlich zum Geschick der ganzen leidenden Menschheit, der Leibeigene selber, der russische Bauer, der Gewalt mit Güte lohnte, als er noch Sklave war, wird für Tolstoi der Mensch, wie alle Menschen sein sollten!

Tolstoi hat selber ausführlich erzählt von den Tagen seiner Kindheit. Sie sind dem späteren reuigen Propheten vor allem teuer gewesen als die Unschuldszeit seines Lebens, die einzige Lebensepoche, an die er nunmehr ohne Reue zurückdenken konnte.

In seinen ,,Ersten Erinnerungen“ (1878) schildert Tolstoi sogar, was er als Säugling in den Windeln empfand. Die ,,Ersten Erinnerungen“ sind, ganz abgesehen von aller bei Tolstoi selbstverständlichen Meisterschaft der Darstellung, lesenswert schon als außerordentlich bezeichnend für den späteren Tolstoi. Ich zweifle dabei hier so wenig wie irgendwo sonst an des Meisters restloser Aufrichtigkeit. Nur will es mir als an sich selbstverständlich erscheinen und als tatsächlich ganz unverkennbar, dass spätere Lebensanschauungen hier zu vielfachen Selbsttäuschungen Anlass gaben. Tolstoi selber gesteht in vielen Fällen, nicht zu wissen, ob er das Erzählte wirklich erlebt oder nur geträumt habe. Zum Beispiel folgendes: „Ich bin gebunden, ich will meine Hände herausziehen und kann es nicht. Ich schreie und weine, und mir selber ist mein Schreien unangenehm, aber ich kann nicht aufhören damit. Über mir stehen, sich zu mir hinabbeugend, irgendwelche Personen, aber ich entsinne mich nicht, wer es war. (Alles dies geht im Halbdunkel vor sich.) Mein Schreien macht auf sie Eindruck, sie werden unruhig, binden mich aber nicht los, was ich will, und ich schreie noch lauter. Ihnen scheint es notwendig, dass ich gebunden sei, ich aber weiß, dass das nicht nötig ist. Und ich will ihnen das zeigen und ergehe mich in einem mir selber widerlichen Geschrei, das ich aber nicht zurückzuhalten vermag. Ich fühle die Ungerechtigkeit und Roheit — nicht der Menschen, sie haben ja offenbar Mitleid mit mir, wohl aber des Schicksals — und ich tue mir selber leid!“

Ausführlicher noch spricht sich Tolstoi über seine Kinderjahre aus in den „Erinnerungen“ (1905). Sie sind fünf Jahre vor Tolstois Tod für seinen Freund und Biographen Birjukoff geschrieben (später wurden sie in die gesammelten Werke aufgenommen) und ganz durchweht von der Ergriffenheit und Güte eines gottseligen Greisenalters. Tolstoi erweist sich hier sehr nachsichtig und voll Dankbarkeit zu allen, die ihn in seiner Kindheit umgaben, und darum sind seine Bekenntnisse nur wenig eingeengt durch die dogmatischen Zwangsvorstellungen, die den Greis sonst beherrschten und ihm wohl nötig waren zum Leben.

Unstreitig das Wertvollste aber, was wir überhaupt besitzen an Aufzeichnungen aus Tolstois Jugendzeit, ist in seinen Erstlingsnovellen enthalten: „Kindheit“ (1852), „Knabenalter“ (1854) und „Jünglingszeit“ (1855 ? 1857). In äußerlichen Dingen begeht hier Tolstoi absichtlich größere oder kleinere Abweichungen von der Wirklichkeit. Auch sind Vater und Mutter des sein eigenes Schicksal Erzählenden ganz offenbar nicht Tolstois Eltern nachgebildet. Dagegen dürfen wir aber zweifellos Selbstbekenntnisse annehmen in dem, was hier am wichtigsten ist, in der Deutung der Eindrücke, die auf die Seele des Heranwachsenden wirkten, und in der Art, wie der sich mit ihnen auseinandersetzte: die innere Wahrhaftigkeit und der geniale Tiefblick in das typische Seelenleben der jedesmal behandelten Altersstufe wären sonst, zumal bei einem dreiundzwanzig bis siebenundzwanzigjährigen Autor, einfach unfassbar! Zudem hat Tolstoi schon zu Beginn seiner Schriftstellerlaufbahn und dann immer wieder von neuem betont, dass er nie zu einem anderen Zwecke geschrieben habe als dazu, sich über sich selber klar zu werden und so die Möglichkeit zu finden, ein immer besserer Mensch zu werden.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland 1 - Tolstoi