Tolstois Doppelleben

Der Jüngling Tolstoi nimmt indes durchaus auch Teil an den Vorurteilen seiner Klasse und seines Alters. Schon in dieser Zeit beginnt er ein Doppelleben zu führen, worin freilich nichts Unnormales liegt für einen jungen Menschen, der eben ins Leben eintritt.

Die Neuheit des Lebens da draußen, die Ehrfurcht vor denen, die dies Leben führen, lässt es nicht dazu kommen, dass man der inneren Stimme allein recht gibt. Man missachtet sie aber auch nicht. So lebt Tolstoi vor Freunden und Bekannten ein Leben voller Lebensfreude und Lebensmut, und dabei gleichzeitig für sich selber ein Leben, das ganz Gewissensprüfung ist und lauterstes Streben nach Selbstvervollkommnung. Es mag dabei in den politischen Verhältnissen des Zeitalters gelegen haben, dass solches Doppelleben sich auch auf das geistige Ausleben erstreckte. Nicht bloß bei Tolstoi, bei dem ein Freund damals eine philosophische Abhandlung fand, die er durchaus nicht als Tolstois Werk anerkennen wollte. Alle geistig selbständigen Männer dieser Zeit waren damals gezwungen, ihr Geistesleben im verborgenen zu führen. Lermontoff fand dafür dichterischen Ausdruck:


,,Trau', jugendlicher Schwärmer, dir selber nicht zu sehr,
Flieh' die Begeisterung wie schlimm' Erkranken,
Sie ist ein Irrlichtleuchten des kranken Geists, nicht mehr,
Der Zorn gefesselter Gedanken.“ (Bodenstedt.)

Lermontoff selber hat sein Geistesleben so gut zu verbergen verstanden, dass, als er kaum achtundzwanzigjährig im Duell gefallen war, keiner seiner Freunde ahnte, welche geistige Macht mit ihm dahingeschwunden war. Sie hielten ihn für einen lustigen Kameraden, für weiter nichts. Das alles vermag auch des Studenten Tolstois Doppelleben zu erklären. Vielleicht aber war solches Doppelleben für ihn viel natürlicher als für viele andere, weil von Hause aus zwei scharf gesonderte Seelen in ihm lebten. Er selber schildert wohl die eigene Doppelnatur in jenem Fürsten Nechludoff im ,,Jünglingsalter“ (unter welchem Namen Tolstoi bekanntlich den ernsteren Teil seines Wesens zu selbständigem Leben zu gestalten pflegte), von dem es dort heißt: „In ihm waren zwei verschiedene Menschen. Einer davon, den ich leidenschaftlich liebte, war gut, freundlich, sanft, heiter und dieser liebenswürdigen Eigenschaften bewusst. Wenn er sich in dieser Seelenverfassung befand, so schien sein ganzes Äußere, der Klang seiner Stimme und alle seine Bewegungen zu sagen: ,Ich bin sanft und tugendhaft, ich freue mich daran, dass ich sanft und tugendhaft bin, und ihr alle könnt das sehen!‘ Der andere Mensch in ihm, den ich jetzt erst zu verstehen begann, und vor dessen Hoheit ich mich beugte, war ein kalter Mensch: streng zu sich selber und zu anderen, stolz, religiös bis zum Fanatismus und bis zur Pedanterie moralisch.“


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland 1 - Tolstoi