Tolstois Bruder Dimitri auf der Universität

Mit der Gymnasialzeit verglichen, bedeutet die Studentenzeit wohl im allgemeinen zunächst eine Zeit des Stillstandes, ja der Entwürdigung, wenigstens der Banalisierung. Dabei muss es aber vielleicht weit eher als ein Zeichen einer dürftigen, als einer reichen Natur gelten, wenn eine asketische Lebensführung bereits beim Studenten einsetzt. Dem tritt ja das Leben so neu und vielgestaltig entgegen, dass er sich nicht auf einmal — selbständig — mit allem abzufinden vermag; und wenn es ihm dabei widerstrebt, das abzuurteilen, was er noch gar nicht kennt, so wird er wohl zunächst einmal (wenigstens bis zu einem gewissen Grade) das mitmachen, worin die älteren Kameraden das Beispiel geben. So tat auch der Student Tolstoi. Nun ist es aber in stammesgeschichtlicher Hinsicht interessant, dass Tolstois nur um ein Jahr älterer Bruder Dimitri, der immer ein stiller, ernster und fleißiger Knabe gewesen war, und den Tolstoi bis dahin nicht besonders bemerkt hatte („weil“, so meint er, ,,meine Liebe zu ihm zu natürlich war“), auf der Universität plötzlich anfing, ein Mönchsleben zu führen, pedantisch streng die Vorschriften der Religion befolgte, nur noch in der Gefängniskirche zur Beichte ging, dort ungeachtet strengen Verbotes den Gefangenen Dienste leistete, seinen persönlichen Umgang nur unter den ärmsten Studenten suchte, und mit einem unglücklichen jungen Mädchen, einem körperlich abstoßenden Pflegling des Tolstoischen Hauses, freundschaftlich verkehrte. Wir werden auf das Schicksal des unglücklichen Dimitri noch zurückkommen müssen. Hier ist nur zu vermerken, dass auf den Studenten Tolstoi dieses Beispiel seines Bruders so wenig Eindruck machte, dass er, wie auch die anderen Brüder, Dimitri für einen Sonderling hielt, ihn seiner Uneleganz wegen ein wenig verachtete, trotzdem gerade dieser Bruder ihm letzten Endes hätte näher stehen sollen als die anderen. Indes scheint das doch begreiflich: Tolstois lebhafte Phantasie, sein überreicher Geist, hatte sich zunächst mit so unendlich viel Neuem abzufinden, dass er sich in der Zwischenzeit vom äußeren Leben tragen ließ, ohne freilich jemals völlig die Zügel zu verlieren. Aus dem Zusammenprall dieser leidenschaftlichen, wissensdurstigen und unendlich eindrucksfähigen Seele, die da eben erst ihre Kräfte zu begreifen begann, und vor der nun diese wunderbare Welt in Rätselfülle auftauchte, aus diesem Zusammenprall musste zunächst der Dichter hervorgehen, der alle diese Dinge in sich spiegeln zu lassen sich gezwungen fühlte, und den es rastlos trieb, die Welt nachzugestalten, um ihrer Herr zu werden. Als Tolstoi dann ein halbes Leben lang sich abgerungen hatte mit dieser Welt, als er ihrer Herr zu sein glaubte, weil er sie nachgeschaffen hatte aus dem letzten Wünschen seiner Seele heraus in vielem von dem Köstlichsten, was diese Welt birgt, da erst kam der Asket zum Vorschein in ihm, der Bruder seines Bruders Dimitri, der in ihm geschlummert hatte von klein auf: da wollte er dann diese Welt biegen nach seinen Massen. Es war aber noch immer zu früh, und wird für jeden Sterblichen immer zu früh sein. Immer noch hatte Tolstoi nur ein Stück der Welt in Händen, das Stück von ihr, das er gemeistert hatte zum unsterblichen Kunstwerk, und er verkleinerte nun das Leben und verleumdete es in seiner für jedes Einzelwesen Erklärung und Verzeihung bergenden Fülle, als er, ein Meister bereits, das Leben zu messen begann ausschliesslich nach den Bedürfnissen seines Gewissens!

Es mag in diesem Zusammenhang nun auch nicht weiter auffallen, dass das soziale Empfinden Tolstois sich in seinem Jünglingsalter kaum bemerklich macht. Er behauptet sogar, damals das Volk verachtet zu haben, was freilich nicht ganz wörtlich zu nehmen ist, wie alles, was dieser geborene Selbstpeiniger gegen die eigene Person vorzubringen weiß. Die Fülle neuer Eindrücke von der Welt da draußen und neuer Erfahrungen an sich selber drängte indes naturgemäss die Erkenntnis gesellschaftlicher Ungerechtigkeiten noch einmal in den Hintergrund. Wir werden dabei gleich sehen, dass dies nur auf sehr kurze Zeit geschah.



Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland 1 - Tolstoi