Tolstoi in Todesgefahr

Die Genehmigung des Abschiedsgesuches ließ indes lange auf sich warten. In der Zwischenzeit zieht Tolstoi wiederum ins Feld, gerät am 13. Juli 1853 in große Lebensgefahr und entgeht nur mit knapper Not der Gefangenschaft: beim Ausrücken einer Kolonne ward Tolstoi, der, obgleich das ausdrücklich verboten war, mit seinem getreuen Sado (von dem oben in einem Briefe an die Tante die Rede war) und einigen Fähnrichen der Kolonne vorangeeilt war, plötzlich von etwa fünfundzwanzig berittenen Tartaren angegriffen. Tolstoi, der von einer Anhöhe aus zuerst die feindlichen Reiter wahrgenommen hatte, hätte leicht zu entkommen vermocht. Er hielt sich aber an Sado, der auf seinem, Tolstois, Passgänger ritt — sein eigenes Pferd hatte er Tolstoi überlassen — und darum nicht galoppieren konnte. Zum Unglück hatte Sado auch noch vergessen, seine Flinte zu laden. So waren ihnen die Feinde unmittelbar auf den Fersen und hätten sie leicht erschießen können. Sie schossen aber nicht, um den Verräter Sado lebendig in ihre Hände zu bekommen. Die drei Fähnriche hatten Tolstois Zurufe nicht gleich verstanden und wurden schwer verwundet, sie blieben aber vor der Gefangenschaft bewahrt, da die ganze Szene nur einige hundert Schritte weit von der Kolonne sich abspielte. Dieser Vorgang, der übrigens auch sehr charakteristisch ist für die damalige russische Kriegsführung, ward bekanntlich von Tolstoi seinem ,,Gefangenen im Kaukasus“ zugrunde gelegt. Wie wenig übrigens Tolstoi dieses Vorkommnis aus dem seelischen Gleichgewicht, und das heißt bei ihm immer nur aus der ständigen Arbeit an sich selber, zu bringen vermochte, beweist folgender, nur wenige Tage später erfolgte Tagebucheintrag: „Sei gerade, wenn auch scharf, aber aufrichtig mit allen; nur nicht kindisch aufrichtig ohne Notwendigkeit! Enthalte dich des Weines und der Weiber. Genuss gibt es so wenig, — und er ist immer ungewiss; — die Reue aber ist so groß. — Gib dich jeder Sache, die du tust, restlos hin. Bei jeder heftigen Erregung enthalte dich zunächst des Handelns, wenn du sie aber erst einmal durchdacht hast, magst du dich auch dabei geirrt haben, so handle in aller Entschlossenheit!“

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland 1 - Tolstoi