Tolstoi in Petersburg: sein begonnenes und wiederaufgegebenes juristisches Schlussexamen.

Tolstoi begibt sich an die Zentralstätte des russischen Staats- und Gesellschaftslebens. Wir sehen ihn bereits im Herbste wieder in Petersburg, wo er sich zu Beginn des folgenden Jahres (1848) zum Examen eines Kandidaten der Rechte (die juristische Schlussprüfung) meldet. Sehr ernst ist es ihm damit freilich kaum gewesen. Erst eine Woche vorher hat er überhaupt angefangen, sich vorzubereiten. Trotzdem bestand er im bürgerlichen Recht und im Strafrecht, ging dann aber gar nicht weiter hin, weil, wie er später sagte, ,,der Frühling kam, und die Herrlichkeit des Landlebens ihn wieder aufs Gut zog!“ Indes — wir erfahren das aus einem Briefe an seinen Bruder Sergej — Tolstoi hatte damals durchaus die Absicht, für immer in Petersburg zu bleiben, ja, in den Staatsdienst einzutreten, ,,da er sich überzeugt habe, dass man nicht leben könne nur von Träumen, Spekulationen und Philosophie“. Dieser Entschluss, unter dem Nikolaischen System Beamter zu werden, musste denn doch sehr in Erstaunen setzen bei einem Tolstoi, wenn nicht, wie es mir scheinen will, das der Strohhalm war, an den sich der Verzweifelnde klammerte. Tolstoi wollte offenbar glauben, dass er selber im Unrecht sei, dass die Leibeigenschaft doch nicht nur eine durch nichts zu rechtfertigende brutale Gewalttat bedeutet. Er hoffte wohl, hier, beim Staate, die Bestätigung dieser Annahme zu finden. Er wollte wenigstens in den offenbaren Leistungen des Staates einen Halt für sich selber suchen . . . Indes sollte es anders kommen. Das Leben der Hauptstadt zog den lebhaften jungen Mann um so mehr an, als er vieles zu vergessen hatte, und vor allem eine Erkenntnis, der gegenüber jede Jugendlust frivol erscheinen musste. Bereits im Mai (1848) bittet Tolstoi seinen Bruder Sergej, ihm 3500 Rubel zu senden, da er ohne Geld und rundherum verschuldet sei.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland 1 - Tolstoi