Tolstoi als Student

Er selber meint zwar (in seiner bekannten Art, auch bei sich zunächst nach selbstsüchtigen Motiven zu suchen), es habe ihm vor allem Spaß gemacht, mit der Kreide an die Schultafel mathematische Formeln aufzuschreiben, die niemand im Hause verstanden habe außer ihm, — das sei ihm interessant vorgekommen. Das Aufnahmeexamen für die orientalische Fakultät war indes durchaus kein leichtes. Es ward Vorbereitung verlangt in der arabischen und in der türkisch-tartarischen Sprache. Wiewohl nun Tolstoi bei der Aufnahmeprüfung im Frühjahr 1844 gerade in den orientalischen Sprachen (sowie auch in Französisch, Deutsch und Englisch) mit ,,sehr gut“ bestand, fiel er doch durch, weil er in Latein ein ,,wenig befriedigend“ und in allgemeiner und in russischer Geschichte, in Statistik und in Geographie ,,nicht befriedigend“ erhielt. In diesen letzten Fächern unterwarf sich Tolstoi noch im Herbste desselben Jahres erfolgreich einer Nachprüfung und ward nunmehr zur Universität zugelassen. Zunächst gab er sich den Jugendfreuden hin. Und es muss gleich hier betont werden, dass die Behauptung, Tolstoi habe jemals ein wüstes Leben geführt, ins Reich der Fabel gehört. Tolstois ganzes Wesen war von Hause aus auf ein ernstes Leben gerichtet, und wenn er sich später in seiner „Beichte“ die schlimmsten Sünden vorwirft, so kennen wir bereits seinen Hang zur Selbstverleumdung, der damals noch mächtig bestärkt war durch das Bedürfnis nach einem völlig neuen Leben. Zudem liegt Tolstois ganzes Leben so offen vor uns, dass uns gar kein anderes Urteil erlaubt ist, als dass Tolstoi in seiner Jugend hier und da einmal so gelebt hat, wie die jungen Leute seines Kreises ständig lebten, um das dann jedesmal unmittelbar danach so zu bereuen, wie das keinem von seinen Kameraden jemals einfiel.

Als Tolstois Universitätsgenosse N. P. Sagoschin fünfzig Jahre später (1894) über Tolstois Universitätsjahre schrieb und dabei die Äußerung tat, der Student Tolstoi habe seiner Umgebung gegenüber einen instinktiven Protest empfinden müssen, schrieb Tolstoi an den Rand: ,,Ich fühlte durchaus keinen Protest, ich liebte es sehr, mich in der damals sehr guten Kasaner Gesellschaft zu vergnügen!“ Und als dann weiterhin noch derselbe Sagoschin sich erstaunen zu müssen glaubte darüber, dass Tolstoi die moralische Kraft besessen habe, den Versuchungen seiner Kasaner Umgebung Widerstand zu leisten, bemerkt auch dazu Tolstoi: ,,Ich bin ganz im Gegenteil dem Schicksal äußerst dankbar dafür, dass ich meine erste Jugend in einer Umgebung zubrachte, wo es möglich war, als junger Mensch jung zu sein, ohne Fragen zu berühren, denen man noch nicht gewachsen ist, und wo man ein zwar müßiges und üppiges, aber keineswegs verworfenes Leben führte!“


In der Wintersaison 1844 — 1845 sah man den jungen Tolstoi auf den Bällen des Gouverneurs, des Adelsmarschalls und der vornehmen Mädcheninstitute. Maskeraden, Schauspiele, lebende Bilder, Konzerte und Ausflüge wechselten in ununterbrochener Reihenfolge. Überall war der junge Graf als Enkel des einstigen Gouverneurs gerne aufgenommen und als eine gute Partie sehr geschätzt. Dabei war aber Tolstoi nach den übereinstimmenden Aussagen von Zeitgenossen und Kameraden durchaus nicht das, was man einen Courmacher oder Süßholzraspler nennt, wie seine Standesgenossen, die „Studentenaristokraten“. Vielmehr soll er stets eine gewisse Eckigkeit und Verlegenheit an den Tag gelegt haben, gleich „als ob er sich unwohl fühlte in der Rolle, zu der ihn seine Geburt zwang“.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland 1 - Tolstoi