Tod der Großmutter (1838)

Auch die Mutter des Verstorbenen — Tolstois Großmutter Pelagea Nikolajewna — vermochte nicht an den Tod des über alles geliebten Sohnes zu glauben: allabendlich ließ sie die Türen nach dem Nebenzimmer öffnen und behauptete dann, sie sähe den Sohn und spräche mit ihm. Tag und Nacht beweinte sie den Verstorbenen und starb neun Monate nach ihm an Kummer und Gram.

Auch ihr Tod übte einen unauslöschlichen Eindruck auf das weiche Gemüt des Knaben. Entsetzen habe ihn erfasst, so erzählte er, als man ihn zu der todkranken Großmutter geführt hatte, um Abschied von ihr zu nehmen. Auf dem hohen, weißen Bette liegend, ganz in Weiß, vermochte die Sterbende nur mit großer Anstrengung den Blick auf die eintretenden Enkel zu richten, und bot ihnen unbeweglich die wie ein Kissen aufgeschwollene weiße Hand zum Kusse. Indes erfahren wir, dass bei dem Tode der Großmutter auch bereits die äußeren Vorgänge die lebhafte Phantasie des Kindes erregten und seine Aufmerksamkeit von der Trauer ablenkten, indem in seinem beweglichen Geiste eine Vorstellung die andere zu jagen begann. Wir wissen dabei aus dem ,,Knabenalter“, wo eine ganz ähnliche Szene (der Tod der Mutter des Erzählenden) geschildert wird, dass der Knabe Tolstoi in seiner angeborenen Gewissenhaftigkeit sich schwere Vorwürfe machte, und sich tief sündhaft vorkam deswegen, dass er sich nicht völlig der Trauer hinzugeben vermochte: ,,Vor und nach dem Begräbnisse“ — so heißt es dort — ,,weinte ich unaufhörlich und war voller Trauer. Es ist mir aber peinlich, mich an diese Trauer zu erinnern, weil sich in sie immer irgendwelche selbstlieberische Empfindung mischte: bald das Verlangen zu zeigen, dass ich mehr betrübt sei als alle anderen, bald der Gedanke an den Eindruck, den ich bei den anderen hervorrufe, bald zwecklose Neugierde, die mich zwang, Beobachtungen anzustellen an den Beinen des Priesters, an der Spitzenhaube von Mimi (der Gouvernante) und an den Gesichtern der Anwesenden. Ich verachtete mich selber darum, dass ich nicht ausschliesslich das eine Gefühl des Kummers empfand, und ich bemühte mich, alle anderen Empfindungen zu verbergen. Daher war meine Trauer nicht aufrichtig und auch nicht natürlich. Außerdem empfand ich eine gewisse Lust daran, dass ich unglücklich war, und ich bemühte mich, das Bewusstsein meines Unglückes in mir selber wachzurufen, und dieses Selbstsuchtsgefühl betäubte mehr als alles andere in mir den aufrichtigen Kummer.“


Offenbar stehen wir hier bereits vor jenem großen Zwiespalt, der sich durch Tolstois ganzes Leben hinziehen sollte, und dem er seine völlig einzigartige Stellung in der Weltliteratur verdankt: dem geborenen, dem instinktiven Künstler, der alle Vorgänge dieser Welt mit gleicher Liebe und in göttlicher Unparteilichkeit in sich aufzunehmen gleichsam gezwungen war, steht immer und überall der geborene Moralist und mystische Asket gegenüber, für den die Dinge dieser Welt keine andere Bedeutung haben können, als die, ausschliesslich den Bedürfnissen seiner Seele zu dienen. Wir werden auf diesen Zwiespalt in Tolstois überreicher Seele immer wieder zurückkommen müssen.

Tolstoi erinnerte sich sein Leben lang der geringsten Einzelheiten beim Tode der Großmutter: vor allem des strengen Gesichtsausdruckes der Verstorbenen, wie sie in weißer Spitzenhaube und mit weißem Brusttuch hoch aufgerichtet im Sarge gelegen habe. Das alles sei schrecklich gewesen, auch habe ihm der Kummer und die Tränen der Tanten sehr weh getan. Trotz alledem aber habe er doch seine Freude gehabt an den neuen Trauerkleidern und an dem Mitgefühl, mit dem ihm von der ganzen Umgebung begegnet worden sei. Ganz besonders angenehm sei es ihm gewesen, wenn er im Gespräche der Trauerversammlung immer wieder die Worte vernommen habe; „Runde Waisen sind jetzt die Kinder, eben starb der Vater, und da ist nun auch die Großmutter tot.“

Diese Lust am Bedauertwerden (die letzten Endes nur ein tiefes Bedürfnis nach Liebe verrät), ein an sich kindlicher Zug, den Tolstoi aber immer wieder an sich feststellt, hat dem Künstler Tolstoi jenen unvergleichlichen Scharfblick verliehen für alles Fehlen von Liebe im Leben der Menschen. Das jeder Mensch ein natürliches Anrecht darauf habe, geliebt zu werden von seinesgleichen, war zeitlebens eine unumstößliche Wahrheit für Tolstoi. Und wenn der spätere Prophet Tolstoi bis in sein höchstes Alter hinein, und leider oft in erschrecklichem Masse sich seinen Gegnern gegenüber der Lieblosigkeit schuldig machte, so geschah dies wohl vor allem aus dem leidenschaftlichen Schmerz heraus, über den Raub von Menschenliebe, dessen er letzten Endes stets den Gegner schuldig erachtete. Tolstoi hat es überhaupt niemals fertiggebracht, eine Offenbarung des Lebens, durch die Menschen betroffen werden, auch nur einen Augenblick lang einfach als Tatsache hinzunehmen. Damit ist ihm zwar jedes wissenschaftliche Denken versagt geblieben sein Leben lang, darum eignet aber auch seinem Eintreten für Menschenrechte jenes bezwingende Pathos, und darum vor allem ist ihm wohl auch bis an sein Lebensende ein ungetrübter Scharfblick geblieben für alles das, was Menschen leiden machen kann.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland 1 - Tolstoi