Seine damaligen Anschauungen über die Wissenschaft

Tolstoi bestand denn auch im Mai 1846 das Übergangsexamen in den zweiten Kurs mit „befriedigend“ (sehr gut: Logik, Psychologie und Betragen; gut: Rechtsenzyklopädie, Geschichte des römischen Rechtes und lateinische Sprache; befriedigend: allgemeine und russische Geschichte, Rhetorik und Deutsch). In diesem zweiten Jahre seiner Studentenzeit ward übrigens auch Tolstoi ,,wegen Nichtbesuches der Vorlesungen über Geschichte“ (wir werden später sehen, wie sehr seine Abneigung gegen dieses Fach in seiner ganzen Weltanschauung begründet lag) auf vierundzwanzig Stunden in den Karzer gesetzt. Sein damaliger Leidensgenosse, ein gewisser Nasareff, hat einige sehr charakteristische Mitteilungen über die Gespräche gemacht, die er damals mit Tolstoi führte. Als Nasareff Lermontoffs „Dämon“ hervorholte, äußerte sich Tolstoi mit großer Ironie über Verse im allgemeinen. Beim Anblick von Karamsins „Neuester Geschichte“, die Nasareff ebenfalls mitgebracht hatte, meinte Tolstoi, Geschichte sei der allerlangweiligste Lehrgegenstand und eigentlich ein völlig nutzloser. „Die Geschichte ist nichts anderes, als eine Sammlung von Fabeln und zwecklosen Kleinigkeiten, überschüttet mit einer Masse von nutzlosen Ziffern und Eigennamen!“ Von der Geschichte kam dann Tolstoi auf die Universität zu sprechen, „den Tempel der Wissenschaft“, wie er sie höhnisch nannte. Zunächst verspottete er, und vielfach mit großem Witz, seine sämtlichen Professoren, dann fuhr er fort: „Und trotzdem sind wir beide im rechte zu erwarten, dass wir aus diesem ,Tempel‘ als nützliche, wissende Menschen hervorgehen. Aber was bringen wir tatsächlich aus der Universität mit? Denken Sie darüber nach, und antworten Sie mir auf Ehre und Gewissen! Was bringen wir aus diesem ,Heiligtum‘ mit, wenn wir nach Hause aufs Land zurückkehren? Wozu werden wir tauglich sein, wem werden wir nützen?“ frug er immer und immer wieder.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland 1 - Tolstoi