Seine Verdienste um die russische Sprache

Vorderhand nimmt Tolstoi freilich die Literatur, wenigstens dem aristokratischen Bruder gegenüber, etwas leicht.

Auch meint Tolstoi damals, — und sein Leben lang glaubt er das — er gebe der Arbeit an seiner Person unbedingt den Vorrang vor seiner literarischen Tätigkeit. Das ist aber wohl ein Irrtum. Tatsächlich sind beide Tätigkeiten nicht zu trennen bei Tolstoi: als Künstler gestaltet er sein Erlebnis, um es als Mensch begreifen zu können. Und er will es begreifen, um so die Möglichkeit zu gewinnen, ein immer besserer Mensch zu werden. Vielleicht beruht überhaupt darin für Tolstoi der letzte Impuls zu künstlerischer Nachbildung des Lebens: denn außerhalb ihrer gibt es kein Verständnis des Lebens für Tolstoi. — Und Tolstoi ist vielleicht bloß zu gewissenhaft dazu, um sich mit den rein gedanklichen Nachbildungen des Lebens zu begnügen. Da fehlt ihm zu viel, da ist eigentlich alles bloß Skelett. Nur nachgedichtet erscheint das Leben in Fleisch und Blut! So ist auch wohl folgende Briefstelle zu verstehen (an seine Tante Jergolsky):


„Obgleich ich weit entfernt bin davon, mich zu amüsieren, wie ich Ihnen gesagt habe, bin ich ebenso weit entfernt davon, mich zu langweilen, weil ich beschäftigt bin. Aber auch abgesehen davon genieße ich ein süßeres und höheres Vergnügen, als mir die Gesellschaft zu geben vermöchte: das Vergnügen, die Ruhe meines Herzens zu spüren, und zu spüren, wie edle Gefühle sich regen in ihm. Es hat eine Zeit gegeben, da war ich eitel auf meinen Verstand, auf meine Stellung in der Welt, auf meinen Namen. Jetzt aber weiß ich und fühle ich, dass, wenn in mir etwas Gutes lebt, und wenn ich Grund habe, der Vorsehung dankbar zu sein, so ist das ein gutes, teilnehmendes und der Liebe zugängliches Herz, das mir zu schenken und zu erhalten der Vorsehung gefallen hat. Nur dem verdanke ich die süßesten Augenblicke, die ich erlebe, und dass ich, trotzdem ich weder Vergnügen noch Gesellschaft habe, nicht nur zufrieden, vielmehr öfters sogar glücklich bin.“

Zu derselben Zeit schreibt Tolstoi in sein Tagebuch: „Das Gewissen ist mein bester und treuester Führer! Wo aber sind die Anzeichen, die diese Stimme unterscheiden von anderen Stimmen? Die Stimme der Eitelkeit spricht ebenso laut, zum Beispiel eine ungerächte Beleidigung. Der Mensch, dessen Ziel die Meinung anderer ist, — ist schwach; der, dessen Ziel das Glück anderer ist, — ist tugendhaft; der, dessen Ziel Gott ist, — ist groß , . . Die Gerechtigkeit ist das äußerste Maß von Tugend, zu der ein jeder verpflichtet bleibt. Höher als sie — das Streben nach Selbstvervollkommnung. Niedriger als sie — die Laster!“


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland 1 - Tolstoi