Seine Religiosität

Über sein Verhältnis zur Religion in diesem Abschnitte seines Lebens berichtet Tolstoi selber in der „Beichte“ wie folgt:

„Ich war getauft und erzogen im orthodoxen, christlichen Glauben. Man lehrte ihn mich von Kindheit an und die ganze Zeit meines Knaben- und Jünglingsalters hindurch . . . Nach einzelnen Erinnerungen zu urteilen, habe ich niemals ernsthaft geglaubt, und hatte ich vielmehr nur Vertrauen zu dem, was vor mir die „Großen“ bekannten. Aber auch dies Vertrauen war sehr schwankend.


Ich erinnere mich, — ich war elf Jahre alt — dass ein längst verstorbener Knabe, Wolodi M., der im Gymnasium lernte, uns eines Sonntags besuchte und als letzte Neuigkeit eine Entdeckung mitteilte, die im Gymnasium gemacht worden war. Diese Entdeckung bestand darin, dass es keinen Gott gebe, und dass alles, was man uns lehrt, nur ausgedacht sei (das war im Jahre 1838). Ich entsinne mich, dass meine älteren Brüder sich für diese Neuigkeit interessierten, auch mich zur Besprechung herbeiriefen, und wir alle, so erinnere ich mich wohl, erörterten lebhaft diese Nachricht und nahmen sie hin als etwas sehr Unterhaltendes, das zudem durchaus möglich sei.“

Wir werden auf die „Beichte“ immer wieder zurückkommen müssen als auf eines der wichtigsten Dokumente in Hinsicht auf Tolstois Innenleben. Wir dürfen dabei aber niemals vergessen, dass Tolstoi die „Beichte“, die Erzählung seiner Bekehrung, erst im einundfünfzigsten Lebensjahre schrieb, in jener furchtbaren seelischen und wohl auch körperlichen Erschütterung, die ihn Monate lang mit dem Selbstmord spielen ließ. Damals sah Tolstoi auf sein ganzes bisheriges Leben vom Standpunkte krankhafter Reue aus hin, und er musste so auf es hinblicken, damit ihm das Leben, dem er nunmehr entgegenschritt, als etwas ganz Neues erscheinen konnte. Und so musste ihm dieses Leben erscheinen, damit die Hoffnung auf es ihm die Kraft zu geben vermöchte, jene furchtbare Schwermut zu überwinden, gegen die er damals ankämpfte mit der ganzen Kraft seines Lebenswillens und aus dem dunklen Bewusstsein einer noch nicht vollendeten Mission unter den Menschen. Das alles muss man vor Augen haben, wenn man die „Beichte“ liest: es ist viel unbewusste Selbstverleumdung in ihr, und sie geht aus Tolstois Bedürfnis hervor, sein vergangenes Leben zu verleumden. Entgegen den oben angeführten Aussagen erkennen wir in mehreren Szenen des „Knabenalters“ — und das ist auch eigentlich selbstverständlich bei einem so lebhaften und empfindlichen Kinde — zum mindesten bei religiösen Feiern eine tiefe, ehrliche Ergriffenheit des Knaben Tolstoi. Dass dabei dessen Religiosität vor allem Gefühlssache war, und kaum irgendwelche Reflexion sich einmischte in sie, spricht meines Erachtens nur für ihre Echtheit. Der fünfzigjährige bekehrte Tolstoi verlor eben den Maßstab für den Knabengeist (wie denn überhaupt religiösen Fanatikern die Neigung eignet, da, wo es sich um Dinge ihres Glaubens handelt, alle Menschen für fertige Menschen zu behandeln, keinen Unterschied zu machen zwischen Kind und Erwachsenem).


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland 1 - Tolstoi