Sein Seeleninventar

Wenn wir nunmehr im folgenden eine Schilderung der Seele des Knaben Tolstoi in aller Vorsicht versuchen wollen, so verdanken wir die Möglichkeit dazu fast ausschliesslich Tolstois „Knabenalter“, das hier nur insofern es als Selbstbiographie zu betrachten ist, herangezogen werden soll. Die Notwendigkeit aber zu einer Seelenergründung des Knaben Tolstoi scheint sich mir darum zu ergeben, weil wir in dem, was uns Tolstoi selber aus dem Inventar seiner überreichen Knabenseele mitteilt, unschwer die Anlagen zu erkennen vermögen, die aus diesem Knaben den begnadeten, unvergleichlichen Künstler und auch den ewig gequälten, in restloser Aufrichtigkeit nach Selbstvervollkommnung strebenden Menschen werden ließen, Aus beiden geht dann der spätere Prophet hervor — er steht hier im Umriss bereits fest — der das souveräne Verfügungsrecht, das der Dichter der Welt gegenüber erlebte, die er selber geschaffen hatte, endlich auch der wirklichen Welt gegenüber sich anmaßte und so als Lehrer und Religionsstifter scheitern musste, scheitern da, wo der Mensch seinen letzten Opfern entgegenschritt.

Des Knaben Tolstoi angeborene große Empfindlichkeit (sie äußert sich vornehmlich als ein Gezwungensein dazu, sich rastlos mit sich selber zu beschäftigen, da jeder Eindruck von außen unmittelbar auf die eigene Person verweist) macht ihn von früh auf zu einem Selbstbeobachter und sehr aufmerksam auf den Eindruck, den er bei anderen auslöst. Tolstoi behauptet, diesen Fehler nie völlig losgeworden zu sein und bewundert an anderen, zum Beispiel an seinen Brüdern, nichts mehr als völlige Unabhängigkeit vom Urteil der Menschen. Bei solcher Reizbarkeit ist es denn auch ganz natürlich, dass der Knabe Tolstoi sich fortgesetzt mit allen Menschen vergleicht, mit denen er irgendwie zu tun bekommt; und es bleibt dabei bezeichnend für die angeborene Vornehmheit seiner Seele, dass er auf für ihn unabweisbare Vorzüge anderer nur mit Liebe zu antworten vermag. Was Carlos zu Posa sagt:


„Und ich beschloss, dich grenzenlos zu lieben.

Weil mich der Mut verließ, dir gleich zu sein.“

Das könnte über der folgenden Schilderung stehen, die Tolstoi im „Knabenalter“ von seiner rührenden Liebe zu einem etwas älteren Knaben gibt (es soll ein Graf Puschkin gewesen sein): „Ich empfand eine unbezwingliche Hinneigung zu ihm. Ihn zu sehen war genug für mein Glück, und eine Zeitlang war alle Kraft meiner Seele vereinigt in diesem einen Wunsche. Wenn ich einmal drei oder vier Tage zubringen musste, ohne ihn zu sehen, fing ich an Sehnsucht zu empfinden und war traurig bis zu Tränen. Alle meine Gedanken im Träumen und im Wachen galten ihm; wenn ich mich schlafen legte, wünschte ich, er solle mir im Traume erscheinen; wenn ich die Augen schloss, sah ich ihn vor mir stehen, und hätschelte diese Erscheinung wie eine höchste Lust. Niemandem auf der Welt hätte ich dieses Glücksgefühl anzuvertrauen vermocht, so sehr hielt ich es wert. Vielleicht deshalb, weil es ihn langweilte, unaufhörlich meine unruhigen Augen auf sich gerichtet zu fühlen, oder auch einfach, weil er keine Gegenliebe empfand, liebte er es offenbar mehr, mit Wolodi zu spielen und zu sprechen. Ich aber war trotzdem zufrieden, wünschte nichts, verlangte nichts und war bereit, alles für ihn zu opfern.“

Vorübergehende Neidanwandlungen überwand dieser Knabe stets durch rückhaltloses Anerkennen der Überlegenheit dessen, den er beneidet hatte. So, wenn er an mehreren Stellen seines „Knabenalters“ hinweisend auf den vornehmeren und aufrichtigeren Charakter seines älteren Bruders erzählt, er habe vergeblich versucht, es ihm gleich zu tun, und wohl auch im Ärger darüber, dass dies misslang, den Bruder zu reizen versucht, um schließlich immer wieder, ohne allen Vorbehalt, in ihm sein unerreichbares Vorbild anzuerkennen. Tolstoi hat sich früh schon für den am wenigsten aristokratischen der Brüder Tolstoi gehalten und auch später niemals ein Hehl daraus gemacht, dass er die ganze Schriftstellerei im Grunde für eine „unaristokratische Indiskretion“ halte, worin er nicht so ganz unrecht haben mag. (Vielleicht ist der Schriftstellerberuf tatsächlich kein Beruf für einen Gentleman. — Es gibt aber nun einmal — und danken wir Gott dafür — im Leben Dinge, die einem Menschen wichtiger erscheinen können, als die Möglichkeit dazu, Gentleman zu sein.)

Besonders litt der Knabe Tolstoi unter dem Bewusstsein seiner vermeintlichen Hässlichkeit. Das ließ ihn in allen schönen Menschen höhere Wesen erblicken, war aber niemals ein Grund für ihn, schöneren Menschen mit Missgunst zu begegnen. Tolstoi war immer der Meinung, das Bewusstsein seiner Hässlichkeit habe seine angeborene Schüchternheit noch besonders erhöht. Letztere dürfte indes durchaus ihre hinreichende Veranlassung gefunden haben in Tolstois ausgesprochenem Hang zur Selbstbeobachtung und Selbstauslegung, ein Hang, der, angeregt durch eine übergroße Empfindlichkeit, nie versagenden Inhalt erhielt durch eine außergewöhnliche Vorstellungskraft, die mit Blitzeseile auch die entferntesten Möglichkeiten ausmalte, die sich ergeben könnten aus irgendeinem Erlebnisse innerer oder äußerer Art. Zweifellos bestärkten sich in Tolstoi Schüchternheit und Empfindlichkeit gegenseitig. Und das würde wohl bei dem Antrieb, den sie dem Menschen geben, sich ohne Unterlass mit sich selber zu beschäftigen, den jungen Tolstoi zu einem ganz unausstehlichen Gesellen gemacht haben, wenn nicht natürliche Herzensgüte, elementar hervortretender Idealismus und angeborene Gewissenhaftigkeit ihn von früh auf auch immer wieder veranlasst hätten, sich klar zu werden darüber, wie die Wirkungen, die von ihm auf andere ausgehen, von diesen empfunden werden. Und er wollte von früh auf niemanden leiden machen. Ganz ohne Schädigung für seinen Charakter ist freilich Tolstois frühe Überempfindlichkeit nicht geblieben. So war er bis in sein Mannesalter hinein durchaus geneigt, in den Handlungen anderer, die ihm — meist ohne jede Absicht — irgendeine wirkliche oder vermeintliche Schwäche zum Bewusstsein brachten, die Absicht ihn zu kränken anzunehmen und in dieser Weise darauf zu antworten, wodurch er dann oft unverständlich ward und unliebenswert erschien. Unstreitig liegt hier auch eine der Wurzeln für Tolstois niemals völlig überwundene und, je höher sein Idealismus emporsteigt, uns um so peinlicher berührende Neigung, aus den Handlungen anderer, die er verurteilen zu müssen glaubt, nun auch gleich auf schlechte Beweggründe bei den so Handelnden mit Sicherheit zu schliessen. Freilich war der Knabe Tolstoi immer noch sehr leicht zu versöhnen, und da, wo er ein begangenes Unrecht begriff, stets bereit zur Reue, ja, zu einer verzweifelnden Selbstzerknirschung, die, wie wir im „Knabenalter“ lesen, ganz gefährliche Formen annehmen konnte.

Früh auftretende, überaus starke geistige Bedürfnisse (Tolstoi selber bezeichnet mit feinem moralischen Gefühl als seinen Hauptfehler in diesem Lebensabschnitt das Räsonieren, das Herumschnüffeln an dem, was einem über aller Kritik stehen sollte) vereinigen sich in diesem genialen Knaben mit jener rein künstlerischen Anlage eines geradezu zwangsvorstellungsartig auftretenden Dranges, das zu beobachten, was um ihn herum vorging. Das alles ward zudem noch erlebt von einer Seele, die unaufhörlich erschüttert war durch ein übermächtiges Innenleben. So musste denn schon aus dem Knaben Tolstoi ein verblüffend sicherer Seelenkenner werden, der freilich dadurch, dass er sein Erraten dessen, was in der Seele des anderen vorging, so oft bestätigt fand, früh schon jenes glücklich-unselige Zutrauen gewann zu seiner Fähigkeit in Menschenherzen zu lesen. Glücklich nenne ich dieses Zutrauen, weil nur aus ihm die Dichtung hervorquellen kann. Erlebt der Dichter nicht die Gewissheit, dass die Gestalten, die er schafft, wirkliche Menschen sein könnten, so wird er zu einem Verdächtiger der Menschheit und empfindet sich auch und verachtet sich selber als solchen. Unselig nenne ich aber den Glauben des Menschen an seine Fähigkeit, in Menschenherzen zu lesen überall außerhalb der Kunst, im Leben, da aber auch unter allen Umständen. Lässt uns doch dieser Glaube die trügerische Berechtigung erleben, wir dürften aus den Handlungen der Menschen auf ihre Beweggründe schliessen. Ein anmaßender Irrtum, der den Menschen, solange er in ihm befangen ist, nicht herauskommen lässt daraus, seinesgleichen unrecht zu tun in Gedanken, Worten und Taten. Ein geborener Dichter sollte eben nie Moralist sein wollen; was ihm zum Siege verhilft als Dichter, muss ihn scheitern lassen, wenn er Moral predigen will. Freilich muss die Verführung zum Moralisieren außerordentlich groß sein für den Dichter, namentlich für den Romandichter. Wer Menschenleben so nachzuschaffen vermag, dass es nacherlebt werden muss als ein wirkliches, der glaubt auch leicht Macht zu haben über das wirkliche Leben der Menschen, und vergisst nur allzu oft, dass er immer nur verschwindend wenige der unausdenkbar mannigfaltigen Lebensmöglichkeiten selber zu erleben vermag, und dass er niemals erlebt die ewigen Gesetze, denen die Überfülle des Lebens untergeordnet bleibt. Es scheint, unter den großen Romandichtern hat bloß Flaubert der Versuchung widerstanden, den Menschen Verhaltungsmaßregeln zu geben. Das andere große Romangenie Balzac ist sein Leben lang nicht aus dem Staunen herausgekommen darüber, dass man ihn nicht zum ersten Minister seines Vaterlandes ernenne, da er doch, wie kein zweiter, dazu geeignet sei. Auch hat Balzac — darin erinnert Tolstoi, namentlich der spätere Tolstoi, ein wenig an ihn — seine Romane bis zur Unerträglichkeit überlastet mit theoretischen Erörterungen, die an sich überflüssig und meist völlig belanglos, uns aufs deutlichste den großen Unterschied erkennen lassen in der Geistesschärfe eines Dichters, je nachdem er gestaltet oder räsoniert. Wir erleben dabei das paradoxe Schauspiel, dass Balzacs erdichtete Gestalten, wenn sie ihrerseits deutend an das Leben herantreten, ihrem Schöpfer unendlich überlegen bleiben. Tolstoi nun hat sich nicht einmal auf der Höhe seines Künstlertums darauf beschränkt, lediglich Nachgestalter des Lebens, Dichter zu sein: „Krieg und Frieden“ enthält neben einer unvergleichlichen Romandichtung auch noch das Lehrbuch einer wenig überzeugenden und wenig originellen Geschichtsphilosophie, in ,,Anna Karenina“ finden wir neben der Dichtung auch eine, in vielem sehr bemerkenswerte Anleitung zur landwirtschaftlichen Organisation. Nun hat man freilich bis zu Tolstois Prophetentum seine Predigten in seinen Romanen Predigten sein lassen: gegenüber den überragenden Vorzügen des Dichters traten die Mittelmäßigkeiten und selbst die Unarten des Denkers völlig zurück. Letztere offenbarten ihre Tendenz, in Charakterfehler auszuarten erst dann, als der bekehrte Tolstoi mit rein moralistischen Schriften auf den Plan trat. Da erst führte seine Anmaßung, aus den Handlungen der Menschen auf ihre Beweggründe schliessen zu können und als solche meist Schlechtigkeiten anzunehmen, zu jenen wahrhaft großartigen Verleumdungen ganzer Gattungen von Menschen, die uns Tolstois publizistisches Wirken so unleidlich machen und auch keine richtige Freude mehr aufkommen lassen über das hohe sittliche Pathos in ihm und das zweifellos Aufrichtige seines idealen Strebens. Hier, in den Erlebnissen aus Tolstois Knabenzeit, sind wir an der Wurzel aller dieser Übelstände.

Indes zeigt Tolstoi ganz unstreitig und ebenfalls bereits als Knabe auch eine ausgesprochene Veranlagung zum Moralisten: das gleichzeitige Vorhandensein dieser sonst einander ausschließenden Veranlagungen, der dichterischen und der pädagogischen, macht eben Tolstois geistige Eigenart aus. Ein untrüglicher sittlicher Scharfblick war ihm wohl angeboren. Nehmen wir dazu die feine Selbstbeobachtung und die ständige Selbstdeutung des überempfindlichen und dabei noch schüchternen Knaben, der sich, ohne es zu wollen, mit allen Menschen verglich, die ihm begegneten, so begreifen wir, dass sich früh schon in Tolstoi ein ausgesprochener Sinn entwickeln musste dafür, wie ein Mensch in einem gegebenen Augenblick seines Lebens sich benehmen sollte. Tatsächlich kritisiert Tolstoi bereits als Knabe sich selber mit einer Unbefangenheit, die nicht selten schon in Selbstverleumdung ausartet. (Ein asketischer Hang, den Tolstoi nie zu verleugnen vermochte, und der ihm späterhin verhängnisvoll wurde insofern, als der nachmalige Prophet Tolstoi offenbar die Berechtigung, Andersgesinnte in ihren Beweggründen zu verdächtigen, herleitet aus dem Bewusstsein, sich auch selber nicht geschont zu haben, was freilich nicht nur jeder Logik widerspricht und jeder Menschenliebe ins Gesicht schlägt: es kann dies auch — unbewusst — zum Vorwand werden für die Betätigung unüberwundenen Menschenhasses.)

Ganz unnachsichtig geht bereits der Knabe Tolstoi allen den kleinen Verstellungen und Heucheleien auf den Grund, die, so scheint es uns wenigstens, unausbleiblich sind überall da, wo man einen bestimmten Eindruck hervorrufen will bei irgendwem. Bis dahin hat der Knabe Tolstoi unbedingt recht. Allein — und das vermag kein Knabe einzusehen: die allermeisten unserer kleinen Unaufrichtigkeiten geschehen lediglich aus Rücksicht auf die Empfindlichkeit, auf die Leidensfähigkeit dessen, vor dem wir unaufrichtig sind. Und vielleicht sind wir niemals wahrer, niemals näher unserem eigenen Ich, und das heißt niemals aufrichtiger, als wenn wir, ohne jeden Gedanken an die eigene Person und lediglich, um die Leidensfähigkeit dessen zu schonen, zu dem wir sprechen, die Wirklichkeit für ihn umformen, sie so hinstellen, wie wir sie haben möchten, damit eben dieser Mensch nicht zu leiden habe unter ihr. Das vermag ein Knabe, mag er noch so genial sein, nicht einzusehen: es fehlt ihm die Leidenserfahrung, ohne die auch angeborene Güte blind bleibt. Hinzu kommt, dass dieser Tolstois früher, untrüglicher Blick für alles Unechte, Unaufrichtige zweifellos im Zusammenhange steht mit seiner rein künstlerischen Veranlagung. Solche erschöpft sich vielleicht überhaupt in der Fähigkeit, das Aufrichtige vom Verstellten zu unterscheiden, einen erlebten Eindruck restlos aufrichtig wiederzugeben. Natürlich blieb auch dieser Zusammenhang damals Tolstoi verschlossen. Er erlebte lediglich die Verstellung anderer als solche, und das verführte bereits den Siebzehnjährigen dazu, überall nach Unechtem, Unaufrichtigem zu suchen, und wo er solches gefunden zu haben glaubte, die Ursache davon ohne weiteres in Selbstsucht anzusprechen: in der naheliegendsten, keinerlei tiefere Überlegung erfordernden Annahme. Es ist dies eine Ungehörigkeit, die bei dem späteren Propheten Tolstoi geradezu zur Manie wird, und ihn zu jedes Maß überschreitenden Ungerechtigkeiten verleitet demgegenüber, in dem er einen Gegner seiner Lehren vermutet. Dass überhaupt der psychologische Scharfsinn Tolstois — und darin gleicht er durchaus seinem Antipoden Karl Marx — sich vor allem den Nachtseiten der menschlichen Natur gegenüber bewies, kann nicht oft genug betont werden. Und das mag eben in dieser übergroßen moralischen Verletzlichkeit des Knaben seine Wurzel haben, die ihrerseits wiederum in einer abnormen persönlichen Empfindlichkeit verankert zu liegen scheint. Um es kurz zusammenzufassen: der Knabe Tolstoi begriff nicht, dass die Menschen vielfach unaufrichtig zu anderen sind, nur um ihresgleichen zu schonen. Der Knabe Tolstoi begriff das nicht, weil er das Leben nicht kannte. Weil er aber die Rücksicht nicht erkannte in der Unaufrichtigkeit der Menschen, und die Unaufrichtigkeit selber doch nicht zu übersehen vermochte, musste sie ihm als bloße Folge der Selbstsucht erscheinen: geistige Frühreife verführt fast immer zu Ungerechtigkeiten den Menschen gegenüber, denn die Erfahrung hinkt ihr nach und kommt auch den Begabtesten nicht zugeflogen.

Dieses Vorauseilen des Verstandes vor der Erfahrung, dieses erstaunliche Begreifen von Zusammenhängen bei noch völligem Unverständnis für das Notwendige in ihrem Gewordensein, macht sich auch geltend in dem Erlebnis des Knaben Tolstoi, das er selber seinen Ehrgeiz nennt (im Russischen wörtlich ,,Selbstliebe“), etwas summarisch, definiert als die Überzeugung, besser und klüger zu sein als alle anderen, und worin er bald eine Tugend, bald ein Laster ansprechen zu müssen glaubt. Tatsächlich ist sein Ehrgeiz bald das eine, bald das andere gewesen: bald nackte Eitelkeit, bald aufrichtiges Streben nach moralischer Vollkommenheit (beides miteinander gemischt in einem Masse, dass der kindliche Verstand ratlos davorstehen musste. In dieser tieferregten Knabenseele griffen eben Tausende und Abertausende feinste Fäden ineinander, immer neue Reize der Außenwelt, immer neue Antworten der Seele leitend, endlos durcheinanderlaufend; jeder einzelne gewiss seines Weges, alle zusammen das helle unbestimmte Lebensgefühl des Knaben bildend!). Schon als Knaben sehen wir somit Tolstoi leiden unter seinem Genie, das dem Menschen nur um den Preis schwerer Leiden wird: fast stets als einziger Ausweg aus der Verzweiflung. Tolstois durch nie ruhende Selbstbeobachtung und Selbstdeutung weit über seine Jahre geschärfter Geist war eben um einige Pferdelängen seiner Lebenserfahrung, vornehmlich nach der Gefühlsseite hin, vorausgeeilt. Das musste dann den Übergewissenhaften zu endlosen Gewissensqualen hinführen: früh schon gab sich Tolstoi Gebote für sein persönliches Verhalten in rein logischer Ableitung aus Willensrichtungen, die er zwar aufrichtig erlebt, aber falsch gedeutet, vor allem maßlos verallgemeinert hatte (der Urfehler allen ungeübten Denkens); solche Gebote nun, die niemals der ganzen Fülle des Lebens gerecht werden, müssen den, der sie sich gibt, mit Naturnotwendigkeit zu offenen Widersprüchen führen zu seiner natürlichen Empfindung. Und so kommt es denn zu Gewissenskämpfen, die darum aussichtslos bleiben, weil es sich hier letzten Endes gar nicht um tatsächliche Gebote des Gewissens handelt, das heißt um erlebtes absolutes Sollen, vielmehr um Gebote, die man sich selber gab im Missverstehen, in falscher Auslegung von jedesmal unter ganz bestimmten Verhältnissen erlebten Geboten. Aus solchen Gewissenswirren ist Tolstoi niemals völlig herausgekommen. Wir werden immer wieder darauf hinweisen müssen, dass der Vorzug, den Tolstoi in Gewissensdingen seiner logischen Entscheidung einräumte gegenüber einfachen Gefühlserlebnissen (deutlicher gesagt Tolstois unseliger Hang, die unfassbare Fülle des Lebens durchaus einzwängen zu wollen in das Prokrustesbett einiger weniger absolut genommener Willensrichtungen), späterhin Tolstois Lehrgebäude jene furchtbare Enge geben musste, die Tolstoi selber nie aus Zweifeln herauskommen ließ und ihn (die sozialen Opfer hätte er mühelos gebracht, wenn er Gewissensruhe von ihnen hätte erwarten können) bis kurz vor seinem Tode in jener falschen Lage verharren ließ, die seinem Wirken das Beste an Überzeugungskraft nahm.

Aus diesen beiden erlebten Gewissheiten des Knaben Tolstoi: in den Seelen anderer Menschen lesen zu können und durchaus zu wissen, wie die Menschen handeln sollten, erklären sich denn auch — wir brauchen nicht einmal dabei an die ursprüngliche Heftigkeit und Lebhaftigkeit des Knaben zu denken — jene maßlosen, sich oft zu ganz gefährlichen Ausbrüchen steigernden Wutanfälle, von denen bereits der Knabe Tolstoi überall da befallen wird, wo ihm tatsächliches oder vermeintliches Unrecht geschah. So sind seine bereits erwähnten Wutanfälle gegenüber dem französischen Lehrer St. Jerome wahrhaft schreckenerregend und reißen ihn zu Brutalitäten hin, die sonst durchaus seinem Wesen widersprechen, und die er nachher bis zu Selbstmordgedanken bereut. Auch diese Anlage zur Wut hat Tolstoi nie ganz verloren. Er hat sie, die Wut, sogar eine Zeitlang bei sich geliebt, ,,weil sie alle seine körperlichen und sittlichen Kräfte anspanne“. Sie nahm aber oft bedenkliche Formen an, wir erinnern nur daran, dass der bereits Dreiunddreißigjährige seine so geliebte Lehrtätigkeit in Jasnaja Poljana aufgab, ja, dass er damals für immer nach dem ihm unsympathischen England auswandern wollte aus Wut darüber, dass eine polizeiliche Hausdurchsuchung in seiner Abwesenheit in Jasnaja Poljana stattgefunden hatte. In seinen Briefen über diesen Vorfall geht Tolstoi so weit, zu erklären, er hätte, wenn er dabei gewesen wäre, „den schmutzigen Oberst niedergeschossen, der es gewagt habe, in seinen Tagebüchern und Briefen herumzuwühlen“. Es muss hier freilich zu Tolstois Entlastung betont werden, dass diese sich schon im Knaben offenbarenden maßlosen Wutanfälle stets von vornherein, wenn wir so sagen dürfen, „unpersönlich“ gefärbt waren. Tolstoi hat sich, bei seiner angeborenen Neigung zur Verallgemeinerung seiner persönlichen Erlebnisse (er erlebte sie bereits als solche, die alle Menschen erleben könnten, und hierin besteht wohl auch das Wesentliche in jeder Anlage zum Moralisten) und bei seinem früh erlebten Berufensein eine Art sittlichen Wächtertums über die Menschheit auszuüben, nie so sehr darüber aufgeregt, dass ihm selber unrecht geschah, als vielmehr darüber, dass ein solches Unrecht, wie er es eben erfahren hatte, überhaupt geschehen konnte, dass es mithin auch allen anderen Menschen geschehen könnte, wenn es nicht gleich bei ihm ein für allemal die endgültige Abfertigung erfahren würde. Tolstoi hat sein Schicksal nie von dem der ganzen Menschheit getrennt. Das macht seine unvergleichliche Größe aus als Künstler und als Verkünder von Menschheitswünschen. Es lag darin aber auch die große Gefahr für ihn, unmerklich hingeführt zu werden zum Hass gegen den einzelnen Menschen, und schließlich auch dazu, in persönlichen Gegnern die Feinde der ganzen Menschheit anzusprechen. Und dieser Versuchung ist Tolstoi mehr wie einmal erlegen. Bis ganz zuletzt hat er seine in Worten gepredigte allgemeine Menschenliebe durch die Tat immer wieder widerlegt. Lieblosigkeiten und Gehässigkeiten vermeintlichen Gegnern gegenüber finden sich bis in seine letzten Schriften hinein und machen sein kritisches Schrifttum fast ungenießbar für uns: es riecht da förmlich nach Inquisition. Vielleicht hat Tolstoi auch deswegen, aus instinktivem Selbstrechtfertigungsstreben, sich bis ganz zuletzt geweigert, das Bestimmtwerden der Menschen durch Geburt, Erziehung und Umgebung, und das heißt die Unschuld des Menschen vor den Menschen, grundsätzlich anzuerkennen (in Nebensätzen erkennt er es freilich wiederholt an, wie überhaupt sehr vieles von dem, was seine Hauptsätze völlig widerlegen müsste). Tolstois System behauptet die absolute, überall tatsächliche Verantwortung des Menschen, und damit ist, wenigstens in formaler Hinsicht, Tolstois bis ganz zuletzt lieblose Polemik gerechtfertigt.

Sehr beachtenswert scheint es mir auch in diesem selben Zusammenhange, wenn der Knabe Tolstoi erzählt, er sei außerordentlich empfindlich gewesen gegenüber jeglicher Art von Spott. Solcher habe ihn augenblicklich, ohne jeden Übergang, von höchster Höhe herabsteigen lassen bis zur Selbstverachtung. Diese frühe Erkenntnis einer übergroßen Empfindlichkeit und Empfänglichkeit für Beeinflussung durch andere macht vielleicht mehr als alles andere Tolstoi so maßlos ausfallend gegen alle tatsächlichen oder vermeintlichen Gegner derjenigen seiner Anschauungen, die er nötig hatte zum Leben. Als ehemaliger Offizier mochte dabei Tolstoi den Angriff für die beste Verteidigung halten. Diese Neigung hat Tolstoi nie völlig verloren, und das hat ihn zeitlebens ferne gehalten jener großen fraglosen Menschenliebe, der er aufrichtig und mit schmerzlichem Eifer sein ganzes Leben lang nachstrebte, und für die er so ergreifende Worte fand. Diese große fraglose Menschenliebe hat auch keinen Platz gefunden in seinem Lehrgebäude. Der Weltenzusammenhang, den Tolstoi lehrt, kann nur Hass erwecken: denn alles Übel ist da ausschliesslich die Folge menschlicher Bosheit (was ein unseliger Irrtum ist), und es bedeutet einen schweren Selbstbetrug vonseiten Tolstois, wenn er bis an sein Lebensende geglaubt hat, er sei nach einer solchen Weltenerklärung überhaupt noch berechtigt, Menschenliebe zu lehren.

Dass aber überhaupt der spätere Prophetenweg Tolstois keineswegs ein Umschwenken aus Übersättigung in Weltentsagung darstellt, vielmehr durchaus in der ursprünglichen Richtung seiner Seele liegt (es ist nie ein Leben folgerichtiger durchgeführt worden), beweist schon der zwölfjährige Knabe Tolstoi in dem Bekenntnis, das er von seinem Ideal ablegt:

„Das Wesen meiner sittlichen Richtung bestand in begeisterter Vergötterung des Ideales der Tugend und in der Überzeugung von des Menschen Bestimmtsein, sich ständig zu vervollkommnen. Die Menschheit zu bessern, alle Laster und alles Menschenunglück zu beseitigen, erschien mir damals als eine leicht ausführbare Sache. Sehr leicht und einfach schien es mir auch, mich selber zu bessern, alle Tugenden mir anzueignen und glücklich zu sein!“

Dieser frohe Glaube an die Leichtigkeit der Selbstvervollkommnung und an die Möglichkeit eines Heiles für alle ist Tolstoi sein Leben lang treu geblieben und hat ihn alle Zweifelanfälle immer wieder überwinden lassen.

Übrigens fällt von diesem Selbstbekenntnis des Knaben aus auch ein ganz neues Licht auf seinen Ehrgeiz, ein Licht, das klärt und verklärt: Tolstois Ehrgeiz ist ganz augenscheinlich zu einem großen Teile wenigstens begründet in seinem früh auftretenden, angeborenen Idealismus. Der Knabe Tolstoi träumte davon, einst völlig neue Wahrheiten zu finden, die zu einem endgültigen Heile der Menschen führen müssten. Vielleicht träumt jeder Knabe einmal davon, derart besessen von solchen Träumen, wie sich der Knabe Tolstoi erweist, ist aber bloß das werdende Genie. In der sicheren Erwartung nun dieser seiner allen Menschen geltenden Heilsmission und auch Achtung vor ihr glaubte der Knabe Tolstoi eine Ausnahmestellung einnehmen zu müssen unter den Menschen (diese Ehrfurcht vor sich selber als vor dem Träger einstigen Heiles für alle ist Tolstoi immer treu geblieben, für seine Person dagegen war er stets bescheiden), und deshalb war er schüchtern, verschämt und linkisch, und deshalb vor allem wohl konnte er den Gedanken nicht loswerden an den Eindruck, den er bei allen denen hervorrief, die seinen Weg kreuzten.

Das rein soziale Empfinden tritt in dem Knaben Tolstoi, wenn wir wenigstens an gewisse unmittelbare Eindrücke aus seiner Kinderzeit denken, etwas zurück gegenüber der Fülle neuer Erlebnisse, die ihm aufgingen an sich und um sich herum. Und das versteht sich ganz von selber: wenn dem noch nicht fertigen Menschen neue Bedürfnisse zum Bewusstsein kommen in sich selber, so vergisst er zunächst die noch unbefriedigten Bedürfnisse anderer, mit denen er früher Mitleid empfunden hatte. Auch nimmt der Knabe die Dinge nicht mehr so unmittelbar hin wie das Kind. Er sieht bereits vieles durch die Augen der Erwachsenen. So fand auch der Knabe Tolstoi dieselbe Leibeigenschaft, die einst seine Kindesseele vor quälende Rätsel gestellt hatte, gar nicht mehr besonders auffallend. Sie war ihm sogar nicht völlig unwillkommen, bot sie ihm doch Gelegenheit, persönlichen Großmut zu beweisen. Bezeichnend dafür ist jene Szene im ,,Knabenalter“, wo sich der Erzählende in das Dienstmädchen Mascha verliebt, deren Liebe dem Leibeigenen Petruscha gilt, dem Petruscha, der zum Trinker wird, und den keine Prügel bessern, weil man ihm seine Mascha nicht zur Frau geben will. Das Herrensöhnchen träumt nun davon, wie er die Liebenden vereinen werde, trotzdem er selber Mascha liebt, und sie seine Leibeigene ist. Und der Knabe weidet sich in Gedanken an dem Eindruck seiner Großmut auf die Beglückten. Nur einen tieferen Eindruck vonseiten der Leibeigenen erwähnt Tolstoi aus seiner Knabenzeit: ein in der Stadt verwöhnter, zum Frant erzogener junger Leibeigener erfährt, dass sein Vater erkrankt ist. Er erhält die Erlaubnis, zu ihm zurückzukehren, und ohne ein Wort zu sagen, legt er seine seidene Weste und Uhrkette von sich, zieht Fußlappen und Strohsandalen an und wird ein stiller, tüchtiger und unermüdlicher Landarbeiter. Die Natürlichkeit, mit der hier das Opfer gebracht wird, und sie ist durchaus bezeichnend für das russische Volk — blieb in der Erinnerung des bereits über seine Leibeigenen hinüber mit den Tugendschicksalen der ganzen Menschheit beschäftigten Knaben.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland 1 - Tolstoi