Sein Geistesleben

Noch ist hinzuweisen auf das Geistesleben des Knaben Tolstoi, und das hat Tolstoi selber im „Knabenalter“ in so unvergleichlicher Weise getan, dass uns nichts weiter übrig bleibt, als die wichtigsten Stellen einfach anzuführen. Wir erkennen dabei mit Leichtigkeit den späteren Tolstoi in dem, was hier der Dreiundzwanzigjährige über den Vierzehn- bis Sechzehnjährigen schreibt. Tolstoi gibt zunächst zu, dass der Gegenstand seiner Knabengedanken weder seinem Alter, noch seiner ganzen persönlichen Lage entsprochen habe. Vornehmlich habe er schon als Knabe nachgegrübelt über die Bestimmung des Menschen, über das zukünftige Leben und über die Unsterblichkeit der Seele. Diese Gedanken seien ihm mit solcher Klarheit und erschütternder Kraft zum Bewusstsein gekommen, dass er sich unwillkürlich bestrebt habe, sie auf sein Leben anzuwenden, wobei er sich dann vorstellte, er als erster entdecke so große und nützliche Wahrheiten:

,,Einst kam mir der Gedanke, das Glück hänge nicht von äußeren Ursachen ab, vielmehr von unserem Verhalten zu diesen Ursachen. Demnach könnte der Mensch, der gewöhnt ist, Leiden zu ertragen, gar nicht unglücklich sein. Und um mich an Mühseligkeiten zu gewöhnen, hielt ich wohl fünf Minuten lang die Lexica von Tatischtscheff mit ausgestreckten Armen in beiden Händen, oder ich ging in die Vorkammer und schlug mir dort mit einer Kordel so heftig auf den entblößten Rücken, dass mir unwillkürlich die Tränen in die Augen traten . . . Ein anderes Mal fiel mir ein, der Tod erwarte mich jede Stunde, ja jede Minute, und ich entschied, indem ich mich wunderte, dass die Menschen das bis jetzt noch gar nicht begriffen haben, dass der Mensch nicht anders glücklich sein kann, als wenn er die Gegenwart nutzt und nicht an die Zukunft denkt. Und unter dem Einfluss dieser Gedanken gab ich drei Tage das Lernen auf und beschäftigte mich ausschließlich damit, dass ich, auf dem Bette liegend, mich ergötzte an der Lektüre irgendeines Romanes oder am Genüsse von Honigkuchen, die ich mir für meine letzten Groschen gekauft hatte. Ein anderes Mal — ich stand gerade vor der schwarzen Schultafel und zeichnete mit Kreide verschiedene Figuren auf — ward ich plötzlich von dem Gedanken betroffen: „Weshalb ist die Symmetrie dem Auge angenehm? Was bedeutet überhaupt Symmetrie?“ „Das ist ein angeborenes Gefühl,“ antwortete ich mir selber. „Worauf ist es aber begründet? Ist denn etwa überall im Leben Symmetrie?“ „Im Gegenteil: das ist zum Beispiel das Leben,“ — und ich zeichnete auf der Tafel eine ovale Figur. — ,,Nach dem Leben geht die Seele in die Ewigkeit über“ — und ich zog einen Strich von der einen Seite der ovalen Figur bis ganz zum Rande der Tafel hin. — „Weshalb ist aber nun auf der anderen Seite nicht auch eine solche Linie? Ja, und in der Tat, was für eine Ewigkeit kann das sein, die nur von einer Seite ausgeht? Wir haben augenscheinlich schon vor diesem Leben gelebt, wenn wir auch die Erinnerung daran verloren haben!“ Diese Überlegung kam mir außerordentlich neu und klar vor . . . Für keine von allen philosophischen Richtungen begeisterte ich mich dabei so wie für den Skeptizismus, der mich eine Zeitlang in einen Zustand versetzte, der an Wahnsinn grenzte: ich bildete mir ein, außer mir sei niemand und nichts auf der ganzen Welt vorhanden, die Dinge seien nicht Dinge, vielmehr nur Bilder solcher, die mir dann erschienen, wenn ich meine Aufmerksamkeit auf sie richtete, wenn ich aber nur aufhörte, an sie zu denken, so verschwänden diese Bilder sogleich wieder. Mit einem Wort: ich war mit Schelling der Überzeugung, dass nicht die Dinge vorhanden sind, vielmehr nur unsere Beziehungen zu ihnen. Es gab Augenblicke, wo ich unter dem Eindruck dieser permanenten Vorstellungen zu einer solchen Stufe von Narrheit gelangte, dass ich mich manchmal blitzschnell nach der anderen Seite umsah, in der Hoffnung, das Nichtsein, die Leere da zu überrumpeln, wo ich nicht war . . . Mein schwacher Verstand vermochte nicht, das zu durchdringen, was nicht zu durchdringen ist. In der überschweren Anstrengung verlor ich aber, eine nach der anderen, die Überzeugungen, die ich um meines Lebensglückes willen niemals auch nur zu berühren hätte wagen sollen . . . Aus dieser ganzen schweren moralischen Arbeit gewann ich nichts als eine gewisse Gewandtheit im Denken, die in mir die Willenskraft schwächte, sowie die Gewohnheit zu ständiger Moralanalyse, durch welche die Frische des Gefühls vernichtet ward und auch die Klarheit des Urteils.


Meine Neigung zu abstrakter Überlegung hatte zudem in solch unnatürlichem Masse in mir die Bewusstheit entwickelt, dass ich oft, wenn ich begann, über die einfachste Sache nachzudenken, in einen ausgangslosen Kreis der Analyse meiner Gedanken verfiel. Ich dachte dann schon nicht mehr an die Frage, die mich beschäftigt hatte, ich dachte nur noch daran, woran ich jetzt gerade dachte. Wenn ich mich frug: „Woran denke ich jetzt?“ ,,Ich denke, woran ich denke!“ „Aber jetzt, woran denke ich jetzt?“ „Ich denke, dass ich denke, woran ich denke, und so weiter.“ Der Verstand machte gleichsam eine Umgehung um die Vernunft . . . Indessen schmeichelten die philosophischen Entdeckungen, die ich machte, außerordentlich meiner Selbstliebe. Ich stellte mich mir selber oft vor als einen großen Mann, der zum Heile der ganzen Menschheit neue Entdeckungen macht, und in dem stolzen Gefühl meiner Würde blickte ich dann auf die anderen Sterblichen hin. Aber seltsam: wenn ich mit diesen Sterblichen zusammentraf, war ich schüchtern vor einem jeden in ihnen, und je höher ich mich in meiner eigenen Schätzung stellte, um so unfähiger ward ich, vor anderen das Bewusstsein meiner eigenen Würde zum Ausdruck zu bringen, ja ich vermochte gar nicht einmal, mir abzugewöhnen, rot zu werden bei den einfachsten Worten und bei den natürlichsten Bewegungen!“

Wir sehen mithin in dem sechzehnjährigen Tolstoi bereits zwei Hauptrichtungen seines Wesens in voller Entwicklung: Liebe zur Reflexion und unwiderstehlichen Hang zur Selbstpeinigung. Wir erkennen hier des weiteren bei noch ausgesprochenen, rein geistigen Interessen, bei einem instinktiven Suchen nach der Wahrheit um ihrer selber willen, oder, was vielleicht dasselbe bedeutet, um den Genuss, den das Suchen nach ihr bereitet, dass die Ergebnisse des Denkens bereits bei Tolstoi stets mit einer unwillkürlichen Rückbeziehung auf die eigene Person erlebt werden, die dann den Denker wider Willen und vorschnell ablenkt von seinen Gedanken. Kann sich der Knabe auch noch beim Denken vergessen, so kommt er sich selber sofort wieder zum Bewusstsein, sich selber mit allen seinen Wünschen und Eitelkeiten und seinem ewigen sich mit anderen Vergleichenmüssen, sobald er ein einigermaßen abschließendes Denkergebnis in Händen hält. Dieser Mensch, den Gott zum Künstler schuf, konnte eben niemals loskommen von sich selber. Und er wäre darum ein rettungsloser Egoist geworden, wenn ihm nicht Gott ein Ich gegeben hätte, das immer und überall unauflöslich sich verbunden fühlte mit dem Schicksal der ganzen Menschheit. Und gerade darum vermochte vielleicht diese überreiche Seele nicht herauszutreten aus sich selber, weil sie sich so unlöslich verknüpft wusste mit der ganzen Menschheit, an der sie teilnehmend hing. Wohl war Tolstoi von früh auf auch rein persönlich überempfindlich: wie hätte er sonst auch teilnehmen können an denen, deren Hilferufe alle anderen überhören? Und ferner! So oft Tolstoi sich persönlich verletzt fühlte, glaubte er die angegriffen, an denen seine Seele hing. Und wenn er schüchtern war und sich schämte jeder linkischen Bewegung, so geschah dies doch vor allem deshalb, weil er sein Ich beladen wusste mit dem Geschick der ganzen Menschheit. So fürchtete er, sie nicht achten zu lassen, wenn er selber im Auftreten es ermangeln ließ an Selbstbewusstsein und an Selbstbeherrschung.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland 1 - Tolstoi