Religiöse Erlebnisse

Des angehenden Dichters Wohlgefallen erregen die trotz ihrer „ärmlichen Kleidung so anmutigen Frauen, deren orientalische Gewänder und bewegte Gruppen in so schönem Einklang stehen zu der Landschaft“. Übrigens nahm Tolstoi dort auch heiße Bäder, um sich von einem Rheumatismus zu befreien, den er sich bei seiner dreiwöchentlichen Wolgafahrt zugezogen hatte. Hier in Stary-Jurd ging dem Dichter zuerst die Schönheit auf im freien Leben der Kosaken. Auch weckte die großartige Landschaft die besten der schlummernden Geister in seiner Seele: mächtig lodert sein religiöses Empfinden empor. Am 11. Juni 1851 schreibt er in sein Tagebuch:

„Gestern lag ich schlaflos, fast die ganze Nacht über. Nachdem ich in meinem Tagebuche geschrieben hatte, begann ich zu Gott zu beten. Die Süße des Gefühls, das ich beim Beten empfand, wiederzugeben, ist mir unmöglich. Ich sprach die Gebete, die ich gewöhnlich verrichte: „Vater unser“, „Mutter Gottes“, „Heilige Dreifaltigkeit“, „Pforte des Mitleids“, „Anruf an den Schutzengel“, — und dann verweilte ich noch im Gebete, Wenn man unter Gebet Bitte oder Dank versteht, so betete ich nicht. Ich wünschte etwas Allerhöchstes und Schönes; was aber — das vermag ich nicht in Worte zu fassen, wenn ich mir auch klar bewusst war, was ich wünschte. Ich sehnte mich zusammenzufließen mit dem alles umfassenden Wesen, ich bat „Es“, mir meine Verbrechen zu vergeben, oder nein, ich bat nicht darum, denn ich fühlte, dass, wenn „Es“ mir diesen seligen Augenblick schenkte, ,,Es“ mir bereits verziehen hat. Ich bat, — und währenddessen fühlte ich, dass ich nichts zu erbitten habe, und dass ich nicht zu bitten vermag, und es auch nicht verstehe. Ich dankte ,,Ihm“, aber nicht mit Worten, nicht mit Gedanken. Ich vereinigte in dem einen Fühlen alles: Gebet und Dank. Jedes Furchtgefühl war spurlos dahin. Nicht ein einzelnes der Gefühle des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe hätte ich zu scheiden vermocht aus dem einen mich erfüllenden Gefühle. Und dieses eine Gefühl, das ich gestern erlebte, — das ist die Liebe zu Gott, eine hohe Liebe, die in sich alles Schöne vereinigt und alles Hässliche von sich weist. Wie furchtbar war es mir, hinzublicken auf die ganze kleinliche, lasterhafte Seite des Lebens. Ich vermochte mir nicht mehr vorzustellen, wie das alles mich hatte verführen können. Wie aus sündlosem Herzen bat ich Gott, er möge mich aufnehmen in seinen Schoss! Ich fühlte nicht mein Leben, — ich war . . . o nein, die leibliche, kleinliche Seite nahm wieder das Ihrige, und es verging keine Stunde, da vernahm ich fast mit Bewusstsein die Stimme des Lasters, der Selbstliebe, die leere Seite des Lebens. Ich wusste, woher diese Stimme stammt, ich wusste, dass sie meine Seligkeit vernichte, ich kämpfte und gab ihr nach. Ich schlief ein, träumte von Ruhm und von Frauen, — aber ich bin nicht schuldig. Ich konnte nicht — ewige Seligkeit ist hier unmöglich, Leiden sind unumgänglich. Wozu? Ich weiß es nicht. Und wie wage ich es zu sagen, ich weiß es nicht? Wie wage ich zu glauben, es sei möglich, die Wege der Vorsehung zu wissen? Sie ist ja die Quelle der Vernunft, und die Vernunft wollte sie erreichen können?


Der Verstand verliert sich in diesen Abgründen der Allwissenheit, aber das Gefühl fürchtet, sie zu beleidigen. Gott danke ich für diese Augenblicke von Seligkeit, die mir meine Nichtigkeit und meine Hoheit vor Augen führten. Ich will beten, aber ich verstehe es nicht. Ich will begreifen, aber ich wage es nicht. Ich übergebe mich deinem Willen! Weshalb habe ich das alles geschrieben? Wie flach, wie matt, wie sinnlos äußerten sich meine Gedanken und waren doch so hoch!“

Übermächtig wogte es in dieser jungen Brust, die noch ungeborene Gedankenwelten nie zur Ruhe kommen ließen. Weltschmerzliche Stimmung gewinnt bisweilen die Oberhand, immer aber jener für Tolstoi so kennzeichnende, nie völlig hoffnungslose, nie Erlösungsgewissheit verleugnende Weltschmerz. Und der tritt jetzt, wo der junge Geist noch so stolz ist auf seine, wie es ihm scheinen will, unbezwingliche Macht, oft umschleiert auf von bedenklichen Geistreichigkeiten, und offenbart bereits einen gefährlichen Hang, die eigene Person zu verleumden.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland 1 - Tolstoi