Kinderspiele

Mit ganz besonderem Nachdruck berichtet Tolstoi, wiederum in den ,,Kindheitserinnerungen“, über einige Spiele, die die Geschwister miteinander spielten, und in denen bereits Tolstois letzte Lebensziele zum symbolischen Ausdruck gelangten:

„Ich war fünf, Mitja sechs, Sergej sieben Jahre alt, als uns einst Nikolai mitteilte, er wisse ein Geheimnis, mittels dessen, wenn es offenbar werde, alle Leute glücklich würden, es keine Krankheit, keinerlei Unannehmlichkeiten mehr geben werde, niemand mehr auf irgdenwen zornig sein werde, und alle einander lieben werden. Alle ,Muraweinije‘ Brüder sein werden. (Wahrscheinlich waren das die ,Mährischen Brüder', von denen Nikolai irgendwie gehört haben muss.) Das Wort ,Muraweinije‘ gefiel uns aber ganz besonders, da es uns an die Ameisen im Ameisenhaufen erinnerte. (Das russische Wort ,Murawei‘ bedeutet die Ameise.) Wir sannen uns ein Spiel aus als ,Ameisenbrüder‘, das darin bestand, dass wir uns unter Stühle setzten, sie mit Schubladen verstellten, mit Tüchern behingen und dort, eng aneinander geschmiegt, in der Dunkelheit saßen. Ich entsinne mich, dabei ein ganz besonderes Gefühl der Liebe und Rührung empfunden zu haben, und ich liebte sehr dieses Spiel. ,Die Ameisenbrüder‘ waren uns somit offenbart. Das Hauptgeheimnis aber, wie man es anfangen sollte, dass die Menschen kein Unglück mehr kannten, niemals sich stritten, niemals in Zorn gerieten, vielmehr alle Zeit glücklich wären, dieses Geheimnis war, wie Nikolai uns sagte, von ihm auf ein grünes Stäbchen geschrieben worden, und dieses Stäbchen sei eingegraben am Wege, am Rande des Abhanges des alten ,Sakas‘, an dem Orte, an welchem ich, da man nun doch einmal irgendwo meinen Leichnam begraben muss, bestattet zu werden wünsche zum Gedächtnis an Nikolai. (Das ist denn auch geschehen.) Außer diesem Stäbchen gab es noch einen gewissen ,Fanfaronoff‘-Berg, auf den Nikolai uns, wie er sagte, führen könnte, wenn wir nur alle dafür festgesetzten Bedingungen erfüllten. Diese Bedingungen bestanden erstens einmal darin, in einer Ecke zu stehen und nicht an den weißen Bären zu denken. Ich entsinne mich, wie ich mich in eine Ecke stellte und mich bemühte, es aber durchaus nicht fertigbrachte, nicht an den weißen Bären zu denken. Die zweite Bedingung war: ohne abzuweichen auf der Ritze zwischen zwei Dielenbrettern zu gehen. Die dritte Bedingung war eine leichte: im Laufe eines Jahres keinen Hasen zu sehen, einerlei ob lebendig, tot oder gebraten. Dann musste man noch schwören, niemandem diese Geheimnisse zu verraten. Wer diese Bedingungen und noch andere schwierigere erfüllte, die Nikolai uns später eröffnen wollte, dem werde ein Wunsch erfüllt werden, welcher Art er auch sei. Wir sollten nur unsere Wünsche sagen. Sergej wünschte sich, aus Wachs Pferde und Hühner formen zu können. Mitja wünschte sich, alle Dinge wie ein Maler in großem Maßstab zeichnen zu können. Ich wusste mir nichts anderes auszudenken, als dass ich in kleinem Maßstabe zu zeichnen verstehen möchte. Alles dies war, wie bei Kindern natürlich, sehr bald vergessen, und niemand von uns bestieg jemals den ,Fanfaronoff‘-Berg, wohl aber entsinne ich mich jener geheimnisvollen Wichtigkeit, mit der Nikolai uns in diese Geheimnisse einweihte, und unserer Ehrfurcht und unseres Zitterns vor jenen erstaunlichen Dingen, die uns da eröffnet wurden. Besonders hinterließ mir aber einen starken Eindruck die Ameisenbrüderschaft und das geheimnisvolle, grüne Stäbchen, das mit ihr in Beziehung stand, und alle Menschen glücklich machen sollte . . . Das Ideal der Ameisenbrüder, die sich liebevoll aneinander schmiegen, zwar nicht unter mit Tüchern behangenen Sesseln, wohl aber unter dem ganzen Himmelszelt, das Ideal einer Ameisenbrüderschaft aller Menschen ist für mich das gleiche geblieben; und wie ich damals glaubte, dass jenes grüne Stäbchen wirklich vorhanden wäre, auf dem das geschrieben stände, was alles Übel unter den Menschen vernichten und ihnen allen ein großes Heil geben werde, so glaube ich auch jetzt noch, dass es diese Wahrheit gibt, und dass sie den Menschen enthüllt werden wird, und ihnen das geben wird, was sie ihnen verspricht!“


An einer anderen Stelle seiner ,,Kindheitserinnerungen“ kommt Tolstoi auf dieses Spiel zurück: „Ich möchte nur noch erzählen von einem Seelenzustand, den ich mehrmals in der ersten Kindheit erlebte, und der, glaube ich, wichtig war, wichtiger als viele und viele Empfindungen, die ich später hatte. Wichtig war dieser Seelenzustand darum, weil er die erste Erfahrung bedeutete der Liebe, der Liebe nicht zu irgendwem, vielmehr der Liebe zur Liebe, der Liebe zu Gott. Ein Gefühl, das ich später nur selten noch empfand. Selten zwar, aber dennoch, und dass ich es empfand, das danke ich, so scheint es mir, dem, dass die ,Spur‘ dazu in der ersten Jugend gelegt war in mir. Es äußerte sich dieses Gefühl so: wir, besonders ich mit Mitja und den Mädchen, setzten uns unter Stühle möglichst eng aneinander. Diese Stühle behingen wir mit Tüchern, verstellten sie mit Schubladen und sagten, wir seien ,Ameisenbrüder‘, und dabei empfanden wir eine besondere Zärtlichkeit zueinander. Manchmal ging diese Zärtlichkeit in Liebkosung über: einer sah den anderen zärtlich an und schmiegte sich an ihn. Aber das war selten, und wir selber fühlten, dass das nicht das sei, und hörten gleich auf damit. ,Ameisenbrüder‘ zu sein, wie wir das nannten, hieß nur, sich vor allen zu verhüllen, von allem und jedem sich abzusondern und einander zu lieben. Manchmal sprachen wir unter den Stühlen davon, was und wen wir liebten, was zum Glücke nötig ist, und wie wir leben und alle lieben werden. Das begann, wie ich mich entsinne, mit dem Spiel von einer Reise. Wir setzten uns auf Stühle, spannten Stühle davor, machten uns einen Wagen aus Stühlen, und auf einmal gingen die, die eben noch im Reisewagen gesessen hatten, von Reisenden in ,Ameisenbrüder‘ über. Mit ihnen vereinigten sich dann auch die anderen. Sehr, sehr schön war das! Und ich danke Gott dafür, dass ich das spielen durfte. Wir nannten das Spiel, und doch ist alles auf der Erde Spiel außer diesem Spiele!“


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das heutige Russland 1 - Tolstoi